Mittwoch, 30. Juni 2021

fünf Millionen


Aus der Dunkelheit kommend
betrat er die Bühne
die Scheinwerfer
strahlten noch nicht
unten saßen nur wenige
wartend was kommt
war das die Stimme
die man hören wollte?

Und er begann zu erzählen
vom kleinen Pip
der über Bord gefallen
die Füße Gottes gesehen hat
Von Däninnen die in der Nacht
von stillen Wäldern singen
von Meerjungfrauen die
das Schiff begleiten

Von Igeln und Rasenmähern
französischen Filmen und
amerikanischen Dandies
Fontanes Balladen 
und Eichendorffs Wäldern
vom Erhabenen und den Engländern
von Kriegen und Schlachten
von Regenschirmen und Schuhen

Von Grafen die contessa 
perdono singen
von dem Wiegenlied des Baches
und dem Himmel so weit
und den blauen Augen von
einem Schatz die einen in
die Welt hinaus treiben
es gibt kein Zurück

So vergingen die Monde
es kamen jetzt jeden Tag mehr
ihn zu hören
Tag für Tag war er da
Monat für Monat
schnell wird man gelobt
aber schneller vergessen
alles ist schöner Schein

Er blieb nicht lange allein
man brachte Dekorationen
ein Wäldchen
aus dem Wälder wurden
und man machte endlich
die Scheinwerfer an
es fehlte nur noch
Musik der Liebe Nahrung

Man ist einsam hier oben
doch immer dankbar
für den Applaus
man sieht die harte Arbeit nicht
man soll sie nicht sehen
alles ist schöner Schein
wir alle spielen Theater
irgendwo

Ich hier


Das Gedicht stand hier am Freitag, dem 3. Januar 2020. Da war ich zehn Jahre im Internet. Ich dachte, das müsste ich irgendwie würdigen. Ich stelle es heute noch einmal hierher, weil ich in der Nacht die Zahl von fünf Millionen Lesern seit dem Juli 2010 erreicht habe, das ist eine schöne Zahl. Als ich anfing diesen Blog zu schreiben, dachte ich mir, dass es schön wäre, wenn mich tausend Leute im Jahr lesen würden. Heute sind es mehr als tausend am Tag.

Montag, 28. Juni 2021

Kreuzberg


Kreuzberg kenne ich, war ich mal eine Woche. Sozialarbeit, Streetworker, Essensmarken für die Kantine der Verwaltung im obersten Stockwerk eines Hochhauses. Wunderbarer Blick über den Stadtteil. Nicht ganz so wie auf diesem Bild von Otto Piltz Blick vom Kreuzberg auf Berlin Mitte aus den 1880er Jahren, aber ein klein bisschen ähnlich. Meine Woche in Kreuzberg war noch in der Zeit von Texas Willy, den kennt heute kaum noch jemand. An seine Frau erinnert man sich bestimmt noch, die hat ihre Spuren in der Stadt hinterlassen. Ich sage nur Steglitzer Kreisel.

Der Maler Otto Piltz, der heute vor 175 Jahren geboren wurde, interessiert mich nicht so sehr. Er war als Genremaler berühmt, und die Genremalerei ist meine Sache nicht. Aber dieses Bild Volkstreiben auf dem Kreuzberg aus dem Jahr 1886, das finde ich ganz wunderbar. Es sieht sehr spontan gemalt aus, aber man weiß, dass Piltz für Vorstudien auch den Photoapparat benutzt hat. Tut aber dem Bild keinen Abbruch, ein eingefrorener Moment kleinbürgerlicher Fröhlichkeit im Sommer. Bald wird das hier ganz anders aussehen, dann wird Berlin die Stadt, die Werner Hegemann in Das steinerne Berlin: Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt beschrieben hat.

In den drei Jahren, in denen Otto Piltz in Berlin wohnte, hatte er in der Hagelberger Straße nahe dem Kreuzberg gewohnt, der erst seit 1821 Kreuzberg heißt. Weil es dann ein Kreuz auf dem Hügel gibt, ganz oben auf Schinkels Nationaldenkmal für die Befreiungskriege. Das ist übrigens auf dem Bild Volkstreiben auf dem Kreuzberg auch drauf, aber ganz klein oben rechts. Das nationale Denkmal interessiert den Maler nicht so sehr, ihn interessiert eher das Licht. Kunsthistoriker erkennen in manchen Bildern von Piltz die Malweise von Max Liebermann, das könnte man für das Bild Volkstreiben auf dem Kreuzberg auch sagen. Und es ist nicht zu weit hergeholt, die beiden haben zusammen in Weimar studiert und waren miteinander befreundet.

Sonntag, 27. Juni 2021

Gaston Bachelard


Dans les journées de la fin de mars 1918, pénétré de ses devoirs, insensible au bruit de la bataille, a établi et sans cesse rétabli pendant 2 jours et 3 nuits des lignes téléphoniques constamment rompues par le feu de l’ennemi, donnant à ses sapeurs un bel exemple de calme d’opiniâtreté et d'énergie. Das steht in der Urkunde, die der Leutnant Bachelard mit dem Croix de Guerre überreicht bekommt. Wenn man tagelang unter Beschuss die Telephon- und Telegraphenverbindungen der 5. Kavalleriedivision aufrechterhält, dann bedeutet das im Krieg schon etwas. Bachelard versteht viel davon, er hat eine Prüfung als Post- und Telegrafeningenieur bestanden. Schon während seiner Militärzeit von 1905 bis 1907 war er als Fachmann für das Telephonwesen unentbehrlich. Er begann als Telegraphenreiter bei der Kavallerie und wechselte dann zu den Pionieren. Im Zivilberuf ist Bachelard bei der Post.

Zu seinem hundertsten Geburtstag wird ihm die französische Post eine Briefmarke widmen, nicht, weil er einmal Postbeamter war. Er ist etwas ganz anderes geworden. Es ist ein Leben im Zickzack: Im Laufe eines sehr irregulären intellektuellen Lebens habe ich an der Sorbonne Wissenschaft studiert und mit einem Examen in Mathematik und Physik abgeschlossen. Dann war ich Postangestellter und wollte Telegraphie-Ingenieur werden. Im Alter von sechsundfünfzig Jahren wird er eine Professur an der Sorbonne bekommen. Er ist der einzige Philosophieprofessor, der einen Brief in die Hand nehmen und sagen konnte, was der wiegt. Gaston Bachelard wurde am heute vor 137 Jahren geboren. Ich dachte mir, ich nehme mal seinen Geburtstag, um ihm einige Zeilen zu widmen. An der Sorbonne trägt ein Hörsaal seinen Namen, nur Descartes und Richelieu ist diese Ehre zuteilgeworden.

Wenn Sie mich jetzt fragen, was der Franzose Yves Klein, der im April in dem Post Kohlenpott auftauchte, mit dem Philosphen Gaston Bachelard zu tun hat, dann habe ich darauf eine Antwort. Die steht schon vor zehn Jahren in dem Post Yves Klein. Denn Yves le monochrome hat gesagt, dass er auf das International Klein Blue (IKB) durch Bachelard gekommen sei. Denn der hat in seinem Buch: L’air et les songes: Essai sur l’imagination du mouvement ein Kapitel über das Blau des Himmels (Le ciel bleu), wo es heißt: Zuerst ist das Nichts, dann ein tiefes Nichts, und schließlich eine blaue Tiefe.

In dem Post über Yves Klein stehen auch über Bachelard die Sätze: Als ich vor Jahrzehnten das erste Buch von ihm las, hielt ich ihn für einen Spinner. Und dennoch ist mir vieles von dem Buch nie aus dem Kopf gegangen. Man wird ja noch seine Meinung revidieren dürfen. Ich hätte das nicht zu schreiben brauchen, aber es war so, man braucht etwas Zeit, um Bachelard zu verstehen. Man braucht häufig etwas Zeit, um Philosophen zu verstehen.

Der Philosoph, der eigentlich ein Dichter ist (er erhielt 1961 den Grand Prix National des Lettres), ist kein Unbekannter in diesem Blog. Er taucht schon in dem langen Post Roland Barthes auf, und in dem Post Träumerei ist er auch anwesend. Weil er ein Buch mit dem Titel La Poétique de la rêverie geschrieben hat. In dem wir lesen können: Der Traum der Nacht gehört uns nicht. Er ist nicht unser Eigentum. Für uns ist er ein Entführer, der beunruhigendste aller Entführer: Er nimmt uns unser Wesen. Oder: Die großartige Funktion der Poesie ist es, uns die Situationen unserer Träume zurück zu geben. Wenn Sie Bachelard lesen wollen, dann fangen sie mit dem Buch Poetik des Raumes an. Brauchen Sie nicht in Ihrem Bücherregal zu suchen oder zu kaufen. Klicken Sie einfach den Titel an, schon sind Sie drin.

Donnerstag, 24. Juni 2021

Wanderer im Sturm


Der Maler Carl Julius von Leypold, der heute vor 215 Jahren geboren wurde, ist einer der letzen Vertreter der deutschen Romantik gewesen. Er war  in Dresden (wie der Norweger Knut Baade) ein Schüler von Christian Clausen Dahl, der hier schon einen ausführlichen Post hat. Und er hat in seinen Bildern viel von der Motivwelt Caspar David Friedrichs übernommen. Ein kleines Bild von ihm habe ich schon einmal gesehen, weil die Kunsthalle in Kiel es besitzt. Ich finde diesen Bildstock in winterlicher Flußlandschaft allerdings ziemlich scheußlich

Ein Bildstock ist auch auf diesem Bild, diese religiöse Zugabe findet sich sehr häufig in der romantischen Malerei. Dieses Bild aus dem Jahre 1835, das Wanderer im Sturm heißt, habe ich jedoch noch nie gesehen, es ist ein sehr schönes Bild; im Metropolitan Museum wusste man schon, was man tat, als man es 2007 von der Hamburger Kunsthandlung Thomas Le Claire  kaufte. In dem Katalog der Neuerwerbungen des Museums wird auf Schuberts Winterreise hingewiesen: The figure of a wanderer in an untamed natural setting personified restless yearning for the German Romantics. Man’s loneliness and nature’s transience, themes clearly stated in this picture, find direct parallels in the works of the painter Caspar David Friedrich and the composer Franz Schubert, notably his song cycle Die Winterreise, or Winter Journey (1827).

Es wird viel gewandert in der Romantik. Wir haben Romane wie Franz Sternbalds Wanderungen und Johann Gottfried Seume wandert bis Syrakus. Unserer Wanderer hier hat nichts von den symbolischen Überhöhung von Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer oder den Wanderern im Mondlicht. Es ist ein beinahe symbolfreier Wanderer, der eine Hand im Mantel vergraben hat, die andere hält den Wanderstab. Vielleicht ist er auf dem Bild sogar nur eine Nebensache, dies ist eine Studie von Licht und Schatten. Und dem Himmel, der zu Schuberts Stürmischer Morgen passt:

Wie hat der Sturm zerrissen 
Des Himmels graues Kleid! 
Die Wolkenfetzen flattern 
Umher im matten Streit. 
Und rote Feuerflammen 
Zieh'n zwischen ihnen hin; 
Das nenn' ich einen Morgen 
So recht nach meinem Sinn! 
Mein Herz sieht an dem Himmel 
Gemalt sein eig'nes Bild - 
Es ist nichts als der Winter, 
Der Winter kalt und wild!

Der Dresdner Kustos der Gemäldesammlung des 19. Jahrhunderts Hans Joachim Neidhardt hat in seinem Buch Die Malerei der Romantik in Dresden Leypolds Malerei als spitzpinselig bezeichnet: In seinen sächsischen Landschaften und Architekturstücken hielt er sich eng an die optische Erscheinung der Wirklichkeit. Dabei knüpfte er an seinen Lehrer Dahl an und bildete einen malerischen, aber zugleich spitzpinselig durchgestalteten Stil aus, in dem sich hohe Malkultur mit biedermeierlicher Sachlichkeit verbinden. Die Vorliebe für alte Burgen, Stadttore und Ruinen sowie einen eigenartigen Sinn für die Poesie des Winters hat er sich als einen Nachklang romantischen Empfindens bis zuletzt bewahrt. Für dieses Bild lassen wir das spitzpinselig mal eben stehen, und die Vorliebe für Burgen lassen wir einmal aus.

Neidhardt hat viel für die Erforschung der Dresdner Romantik getan. 1974 lockte die Ausstellung Caspar David Friedrich und sein Kreis 260.000 Besucher an, 1978 wanderte die Austellung Kunst der Dresdner Romantik sogar nach Tokyo und Kyoto. Die Ausstellung Ludwig Richter und sein Kreis hatte sogar mehr Besucher als die Caspar David Friedrich Ausstellung, dazu sag' ich jetzt mal lieber nichts. Neidhardt hat zwei Ausstellungen zu Carl Gustav Carus organisiert (1969 und 1989) und als letztes eine Ferdinand von Rayski. Das hat mir besonders gefallen, da ich diesen Maler sehr schätze, er hat hier natürlich auch schon einen Post. Neidhart ist für sein Wirken geehrt und ausgezeichnet worden, das ist sehr schön, im letzten Jahr hat er seine Autobiographie Über dem Nebelmeer (hier eine Leseprobe) veröffentlicht.

Bis 1971 waren diese Bäume im Mondschein ein Caspar David Friedrich, dann war das Bild ein Werk von Carl Julius von Leypold. Das hat Werner Sumowski, international renommierter Rembrandt Experte, herausgefunden. Caspar David Friedrich lag dem Rembrandtforscher auch ein wenig am Herzen, da er sich über diesen Maler habilitiert hatte. Mit seinem Aufsatz im Pantheon (1971) wurden über Nacht drei Bilder von C.D. Friedrich zu Bildern von  Carl Julius von Leypold. Den Museen, die diese Bilder besaßen, hat das sehr wehgetan.

Über Leypolds Wanderer erfahren wir im Internet wenig. Wir wissen nicht, wer er ist. Er ist kein Landstreicher, er trägt einen ziemlich luxuriösen Mantel mit einem Cape, das die Schultern schützen soll. Auch das Metropolitan Museum weiß in seinem Katalog kaum etwas zu dem Bild zu sagen: This painting was painted by a German painter named Carl Julius von Leypold in 1835. This painting shows a man walking in a very windy weather. The season in the painting seems to be autumn as there are very little leaves left on the trees and the man is wearing clothes that one would wear during autumn. This painting reflects the theme of Romanticism as it portrays a feeling of loneliness and individualism as the man walks a on a lonely path in windy weather all by himself. The weather also portrays loneliness as the trees have lost most of their leaves and the sky is dark like a storm is occurring. Additionally, the stone wall that is falling apart in the background contributes to the portrayal of such deep and intense feeling. Overall Leypold’s painting reflects the ideas that were developed during the Romantic period.

Das Metropolitan Museum weiß allerdings, woher sie das Bild haben, auch wenn sie den Namen des ehemaligen Besitzers Dr Franz Ulrich Apelt nicht richtig schreiben können. Der Jurist, der auch Schriftsteller war, besaß wahrscheinlich die bedeutendste private Sammlung von Bildern der deutschen Romantik weltweit. In den zwanziger Jahren hat er auch über 1.000 Briefe von Jean Paul gekauft, um sie vor der Zerstreuung zu retten. Viele Werke, vor allem die von Karl Gustav Adolf Thomas, hat er seiner Heimatstadt Zittau gestiftet. Franz Ulrich Apelt starb 1944, seine Autobiographie hat er nicht vollenden können, aber das posthum erschienene Buch Aus meiner Zeit: Lebenserinnerungen ist heute noch lieferbar. Es ist eine hochinteressante Lektüre. Die Sammlung Apelts blieb für die nächsten sechzig Jahre im Familienbesitz, dann gab die Familie sie der Hamburger Kunsthandlung Thomas Le Claire zum Verkauf. Das Metropolitan Museum (das bei dem Deal auch noch einen Carus erwarb), das British Museum und das Harvard Art Museum bedienten sich. Wäre das nicht etwas für den Freistaat Sachsen gewesen? Oder für den Kulturstaatsminister? Da muss ich meinen Mitschüler mal fragen: wo warst Du Bernd Neumann?

Diese wunderbare kleine Zeichnung von Christoph Nathe aus dem Jahre 1790 hat auch einmal dem Sammler und Mäzen Franz Ulrich Apelt gehört, heute gehört sie zusammen mit einem ganzen Satz von Radierungen der National Gallery in Washington. Die haben es allerdings nicht von der Hamburger Kunsthandlung Le Claire, sondern von der New Yorker Dependance von C.G. Boerner, die mal zur Zeit der Romantik in Leipzig begonnen hatten. Auf dieses kleine Bild bin ich neidisch, den Wanderer (man bekommt ihn als Kunstdruck zu Preisen ab 35€) würde ich mir nicht ins Wohnzimmer hängen, dies hier schon.

Dienstag, 22. Juni 2021

der dunkelblaue Bentley

Sie sah ihn vor dem Laden, aber er kam nicht rein. Er redete mit jemandem, sie konnte nicht sehen, mit wem. Sie war gerade dabei, ein Buch für eine Kundin in Geschenkpapier einzuwickeln. Mit wem redete er da nur? War das eine Frau? Die schöne Buchhändllerin wurde ein wenig unruhig. Aber sie konnte nicht zur Tür gehen und auf die Straße hinausschauen, weil da schon wieder ein Kunde ein gerade gekauftes Buch in Geschenkpapier eingewickelt haben wollte. Das war ein billiger Simmel Roman, aber Geschenkpapier musste sein, und er verlangte auch noch das beste Geschenkpapier. Sie kannte diesen Kunden, sie mochte ihn ganz und gar nicht. Sie bewunderte nur, dass er immer blau-weiß gestreifte Hemden trug. So etwas hatte sie ihrem Ex auch mal kaufen wollen, gab es aber nirgends. Der Mann mit dem Simmel Roman war der Chefarzt vom Krankenhaus, seinen Porsche hatte er draußen im Halteverbot geparkt. Das hatte sie gesehen, als sie aus dem Fenster geguckt hatte. Er hatte tausenderlei Liebesaffairen, letztens hatte sich eine Schwesternschülerin aus Liebeskummer von dem neugebauten Hochhaus unten im Ort gestürzt. War sofort tot. Sie packte den Simmel ein. Er wollte dann partout noch eine Quittung haben, auf der Praxisbedarf stehen sollte. Sie wollte etwas sagen, aber sie sah, dass ihr Chef ihr verzweifelte Blicke zuwarf. Sie blieb höflich. Immer nur lächeln, das war es, worauf es im Beruf ankommt. Als sie aus dem Fenster guckte, war der Renault Händler verschwunden.

Als er am  Freitagnachmittag zu Tee kam, fragte sie ihn, warum er sie am Mittwoch nicht im Laden besucht hätte. Wollte ich schon, sagte er, aber der Typ ließ mich nicht los. Er wollte mir den Bentley von seinem Opa verkaufen. Er löffelte sich zwei Stück Kandiszucker in seinen Tee. Er hasste Kandiszucker, aber sie bestand darauf, dass Ostfriesentee mit Kandiszucker getrunken wurde. Was ist ein Bentley? fragte sie. Er erklärte ihr, dass das ein Rolls-Royce mit einem anderen Kühlergrill sei. Einen Rolls-Royce hatte sie schon einmal gesehen, als sie ihren Cousin in Hamburg besuchte. Der hatte ihr mal bei einem Spaziergang rund um den Feenteich gezeigt, wo die Hamburger Millionäre wohnten. Kaufst Du den Bentley? fragte sie ihn. Ich weiß es nicht, sagte er. Der Typ will zehntausend Mark haben, das wäre für einen Rolls ein Schnäppchenpreis. Aber der Motor ist kaputt, ich weiß nicht, ob ich Ersatzteile bekomme. Die Firma Rolls-Royce wird mich nicht beliefern. Ich guck' mir den Wagen erstmal an, ich hab' den Garagenschlüssel bekommen. Und dann fügte er hinzu: Wie wäre es, wenn Du mitkommst? Ich hole Dich morgen um drei ab. Sie konnte nicht nein sagen, wann machten sie schon mal etwas zusammen?

Er war am Sonnabend pünktlich vor ihrem Haus, mit einem Auto, das sie noch nie gesehen hatte. Das ist der neueste Peugeot, sagte er. Ein Firmenwagen, die wollen ins Geschäft kommen. Sie bieten mir die Peugeot Vertretung an, aber ich weiß nicht, ob ich das annehme. Ich weiß auch nicht, ob sich Peugeots hier gut verkaufen. Und er fügte hinzu: en France, ce serait une tout autre affaire. Sie hörte es gern, wenn er Französisch sprach. Der große Peugeot gefiel ihr, er roch noch ganz neu, und man saß sehr bequem darin. Ob er sie wohl mal ans Steuer lassen würde? Unterwegs erzählte er ihr alles über den alten Kattendieck, dem der dunkelblaue Bentley gehört hatte. Werftbesitzer, in der Nachkriegszeit groß im Geschäft, jetzt liefen die Geschäfte nicht mehr so gut. Nur die Aufträge der Bundesmarine hatten die Werft vor der Pleite gerettet. Kattendieck war im letzten Jahr gestorben, seine Tochter hatte den Bentley nie gemocht. Und ihre Kinder durften ihn nicht fahren, sie hatten auch keinen Führerschein. Denn der Kattendieck hatte damals, als sich sein Schwiegersohn mit dem Ferrari totgefahren hatte, ins Testament geschrieben, dass seine Enkel nichts von dem Erbe sehen würden, wenn sie jemals einen Führerschein machten. So stand der dunkelblaue Bentley jetzt ungenutzt in der Garage. Das wäre eine Geschichte für einen Simmel Roman, dachte sie sich. Ohne den Renault Händler zu fragen, hatte sie sich mit dem elektrischen Zigarettenanzünder des Peugeots eine Ziggi angesteckt. Er hatte offenbar nichts dagegen.

Der Weg zu Kattendieks Villa war nicht weit, es lohnte nicht, eine zweite Zigarette anzuzünden. Eine weiße Villa, ein gepflegter grüner Rasen, ein geharkter Kiesweg. Sie nahm den Rasen als Weg zum Haus, der Kiesweg wäre tödlich für ihre Füße gewesen, weil sie die flachen Ballerinas mit den dünnen Sohlen trug. Er ging natürlich auf dem Kiesweg, er hatte einen Blaumann und einen Werkzeugkoffer dabei. Sie war hier noch nie gewesen, aber sie wusste sofort, wo sie war. Dies war die Welt eines Romans, der sich in den letzten Jahren in der Buchhandlung gut verkauft hatte. Kein Simmel. Eine Liebesgeschichte in Briefen aus dem Jahre 1900, herzzerreissend. Während sie noch in der Mitte des Rasens einen Blick zu den benachbarten Villen warf, hatte er die Garage aufgeschlossen und das Licht angemacht. Er schloß den Bentley auf und öffnete die Motorhaube. Komm, rief er ihr zu, kannst mal in einem Bentley sitzen.

Als er ihr die Tür vom Bentley aufhielt, sagte er: Aber hier drinnen rauchst Du nicht. Sie wäre nicht auf die Idee gekommen. Sie rollte sich auf dem weichen Ledersitz zusammen und betastete das Wurzelholz des Armaturenbretts. Zog die Ballerinas aus. Ob sie wohl die Füße auf das Armaturenbrett legen durfte? Sie ließ es, dies war nicht ihr Auto. Dies war nicht ihre Welt. Ob hier jemals jemand Sex im Auto gehabt hatte? Sie begann leise zu singen:

Daisy, Daisy, give me you answer true.
I'm half-crazy all for the love of you.
It won't be a stylish marriage,
I can't afford a carriage;
But you'll look sweet
Upon the seat
Of a bicycle built for two.


Das Lied kam in dem Roman der alten Dame vor, die die Liebe ihres Lebens in einen Briefroman geschrieben hatte. Vielleicht hatte die sogar in dieser Villa gewohnt. Die schöne Buchhändlerin fand es beruhigend, dass es auch schon damals in dem unbeschwerten Leben der weißen Villenwelt Liebesleid und Unglück gegeben hat. Das hatte auch die Autorin gewusst, der im Laufe eines Jahrhunderts nicht nur der englische Geliebte, sondern auch Ehemann und Kinder weggestorben waren. Deshalb hatte sie dem Roman wohl ein Gedicht von Lamartine vorangestellt:

Le livre de la vie est le livre suprême
Qu’on ne peut ni relire, ni fermer à son choix.
La fatal feuillet se tourne de lui-même
Et le passage adoré ne se lit pas deux foix. 

Die Motorhaube des Bentley fiel mit einem leisen Plopp zu, er hatte offenbar genug gesehen, er hatte nicht mal seinen Blaumann angezogen. Da kann ich nichts machen, sagte er, ich muss den Wagen in der Werkstatt haben. Ich hole ihn am nächsten Wochenende mit einem Abschleppwagen. Mit einem Abschleppwagen wird er den ganzen Kiesweg und den halben Rasen ruinieren, dachte sie sich. Wie willst Du mit einem Abschleppwagen den Kiesweg hochfahren? fragte sie. Gar nicht, sagte er, ich bringe ein halbes Dutzend starke Männer mit, und wir rollen den Bentley zur Straße. Du könntest mitkommen und am Steuer sitzen. Die Vorstellung gefiel ihr, am Steuer eines Bentleys zu sitzen und von starken Männern geschoben zu werden.

Und was machen wir jetzt? fragte er, als sie wieder im Peugeot saßen. Wir fahren aufs Land, sagte sie. Zum Tanzen. - Tanzen? fragte er, wo sollen wir an einem Sonnabendnachmittag tanzen? Sie lächelte ihn an. Fahr erstmal aus diesem Millionärsghetto raus, auf die Bundesstraße. Und dann folgst Du einfach meinen Anweisungen. Das Leben gefiel ihr. Anweisungen geben. Dann den ganzen Abend tanzen. Und vielleicht noch mehr. Und am nächsten Wochenende am Steuer eines dunkelblauen Bentleys sitzen und von starken Männern geschoben werden.


Es gibt in diesem Blog schon drei Erzählungen mit der schönen Buchhändlerin: Sommerurlaub, Rendezvous und Autorenlesung. Dies ist die vierte Geschichte, die Leser verlangen immer mehr.

Sonntag, 20. Juni 2021

Anna Laetitia Barbauld


Die Schriftstellerin Anna Laetitia Barbauld wurde 20. Juni 1743 geboren, sie schrieb zu einer Zeit, als es noch nicht so üblich war, dass Frauen schreiben. Sie gehörte natürlich zu der Gruppe von Frauen, die man irgendwann Blaustrümpfe nannte. Und auf dem Bild von Richard Samuel, das sich in dem Post Blaustrümpfe findet, ist sie auch zu sehen. Sie hatte als Autorin großen Erfolg, vor allem mit ihren Kinderbüchern. Auf einem Marmorstein im Familiengrab steht:

In Memory of ANNA LETITIA BARBAULD 
Daughter of John Aikin, D.D.
And Wife of The Rev. Rochemont Barbauld,
Formerly the Respected Minister of this Congregation.
She was born at Kibworth in Leicestershire, 20 June 1743,
and died at Stoke Newington, 9 March 1825.
Endowed by the Giver of all Good
With Wit, Genius, Poetic Talent, and a Vigorous Understanding
She Employed these High Gifts
in Promoting the Cause of Humanity, Peace, and Justice,
of Civil and Religious Liberty,
of Pure, Ardent, and Affectionate Devotion.
Let the Young, Nurtured by her Writings in the Pure Spirit
of Christian Morality;
Let those of Maturer Years, Capable of Appreciating
the Acuteness, the Brilliant Fancy, and Sound Reasoning
of her Literary Compositions;
Let the Surviving few who shared her Delightful
and Instructive Conversation,
Bear Witness
That this Monument Records
No Exaggerated Praise.

Ein ganzes Leben auf einem Marmorstein, ohne exaggerated praise. Sie hatte gegen die Sklaverei und gegen den Sklavenhandel gekämpft, sie hatte eine jüngere Generation von Dichtern für die Ideale von Liberté, Égalité und Fraternité gewonnen. Aber man mochte es nicht so recht, wenn sie politisch wurde. Wie in Sins of government, sins of the nation: or, a discourse for the fast (1793) oder Eighteen Hundred and Eleven (1812), einem pazifistischen Gedicht in dem sie den Untergang Englands und den Aufstieg Amerikas voraussagt. John Wilson Croker schreibt im Quarterly Reviewwe must take the liberty of warning Mrs. Barbauld to desist from satire, which indeed is satire on herself alone; and of entreating, with great earnestness, that she will not, for the sake of this ungrateful generation, put herself to the trouble of writing any more party pamphlets in verse. Barbauld hört erst einmal auf zu schreiben. Die Welt der Kritiker ist eine Männerwelt, Duncan Wu hat in einem sehr interessanten Artikel John Wilson Croker als that doberman of reviewers bezeichnet. Coleridge und Wordsworth, die die Schriftstellerin einmal geschätzt haben, werden sich gegen sie wenden. Weil sie jetzt keine Revolutionäre mehr sind, sondern Konservative geworden sind. Anna Laetitia Barbauld bleibt, wie sie ist, sie gibt ihre Ideale von Promoting the Cause of Humanity, Peace, and Justice, of Civil and Religious Liberty nicht auf. Und über ihr Gedicht Yes, injured Woman! rise, assert thy right! aus dem Jahre 1792 kann man heute noch nachdenken:

Yes, injured Woman! rise, assert thy right!
Woman! too long degraded, scorned, opprest;
O born to rule in partial Law's despite,
Resume thy native empire o'er the breast!
Go forth arrayed in panoply divine;
That angel pureness which admits no stain;
Go, bid proud Man his boasted rule resign,
And kiss the golden sceptre of thy reign.
Go, gird thyself with grace; collect thy store
Of bright artillery glancing from afar;
Soft melting tones thy thundering cannon's roar,
Blushes and fears thy magazine of war.
Thy rights are empire: urge no meaner claim,--
Felt, not defined, and if debated, lost;
Like sacred mysteries, which withheld from fame,
Shunning discussion, are revered the most.
Try all that wit and art suggest to bend
Of thy imperial foe the stubborn knee;
Make treacherous Man thy subject, not thy friend;
Thou mayst command, but never canst be free.
Awe the licentious, and restrain the rude;
Soften the sullen, clear the cloudy brow:
Be, more than princes' gifts, thy favours sued;--
She hazards all, who will the least allow.
But hope not, courted idol of mankind,
On this proud eminence secure to stay;
Subduing and subdued, thou soon shalt find
Thy coldness soften, and thy pride give way.
Then, then, abandon each ambitious thought,
Conquest or rule thy heart shall feebly move,
In Nature's school, by her soft maxims taught,
That separate rights are lost in mutual love.

Samstag, 19. Juni 2021

Philosophen und Fremdsprachen

Der Philosoph Hermann Schmitz, der im Mai im Alter von zweiundneunzig Jahren starb, pflegte in seinen Vorlesungen lange griechische Zitate vorzutragen. Es konnte allerdings geschehen, dass es am Ende des Zitats einen Zwischenruf gab. Also zum Beispiel: Hermann, mein Griechisch ist etwas eingerostet. Kannst Du das noch einmal auf Japanisch vortragen? Viele Studenten gingen in die Vorlesung von Schmitz, weil das besser als Tom und Jerry war, das steht schon in dem Post Philosophenwitze. Den Zwischenruf mit der Bitte um ein japanisches Zitat habe ich übrigens nicht erfunden, den hat es wirklich gegeben. Es gab viele Zwischenrufe bei Schmitz, die häufig sehr witzig waren. Bei seinem Kollegen Karl-Otto Apel gab es keine Zwischenrufe, da hörten die Studenten zu. Wenn Schmitz auch im Griechischen und Lateinischen firm war, so schwächelte er im Englischen. Philosophen wie Hobbes und Hume hat er nie im Original gelesen. Allerdings haben ihn Hobbes und Hume auch nie interessiert. Die Frage stellt sich, wieviele Fremdsprachen muss ein Philosoph kennen? Um die Welt zu verstehen. Um seine Kollegen zu verstehen?

Für Leibniz war die Sache klar, er hatte ein gewissen Mißtrauen gegenüber dem Deutschen als Sprache des Philosophen, das kann man seinen Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache entnehmen. Die deutsche Sprache sei geeignet, um den Bergbau, das Jagd- und Waidwerk und die Seefahrt zu beschreiben, aber bei den Abstrakta versage sie: Es ereignet sich aber einiger Abgang bey unserer Sprache in denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen, sondern allein durch Betrachtung erreichen kan; als bey Ausdrückung der Gemüths Bewegungen, auch der Tugenden und Laster und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierungs-Kunst gehören; dann ferner bey denen noch mehr abgezogenen und abgefeimten Erkäntnissen, so die Liebhaber der Weissheit in ihrer Denck-Kunst, und in der allgemeinen Lehre von den Dingen unter dem Nahmen der Logick und Metaphysick auff die Bahne bringen. Leibniz schrieb seine Werke in französischer oder lateinischer Sprache.

Immanuel Kant wird deutsch schreiben. Er konnte Französisch, das hatte er in der Schule gelernt; wo er allerdings den Französischunterricht noch selbst bezahlen musste, der stand nicht auf dem Lehrplan der Schule. David Hume, den er lobte, wird er auf deutsch gelesen haben, er konnte kein Englisch. Es kommt jetzt viel an Philosophie aus Schottland und England, aber kaum ist es erschienen, da sind die Werke von Adam Smith, David Hume, George Berkeley, Shaftesbury und John Locke (der Pierre Nicoles Essays ins Englische übersetzt hatte) auch schon übersetzt. Es kommt im 18. Jahrhundert nicht nur viel Philosophie von der britischen Insel nach Deutschland. Wir importieren auch die neue literarische Form, den Roman. Wir importieren die Herrenmode (Goethes Werther trägt mit gelben Hosen und blauem Rock englische Tracht), die Neugotik und den Landschaftsgarten. Ich fasse mich hier kurz. Wenn Sie mehr zu dem Thema wissen wollen, dann lesen Sie Der Einfluß der englischen Literatur auf die deutsche von Horst Oppel (in Deutsche Philologie im Aufriß 1962).

Aber wir haben doch einen deutsche Philosophen, der Englisch spricht, der beinahe täglich die Times liest, der in England gewesen ist. Der ein philosophisches Werk schreibt, das die Engländer allerdings nicht kennen. Bis zu dem Augenblick, da der englische Schriftsteller John Oxenford kommt. Den kennt heute kaum noch jemand, obgleich er einmal ein berühmter Mann war. Er hat Goethes Autobiographie ins Englische übersetzt, Opernlibretti geschrieben und französische Lieder übersetzt. Und sein Theaterstück geschrieben (A Day Well Spent ), das von Thornton Wilder und Johann Nestroy umgeschrieben wurde, bis irgendwann das Musical Hello, Dolly! daraus wurde. Oxenford hat auch Lieder geschrieben, eins davon kann ich immer noch singen:

The ash grove, how graceful, how plainly 'tis speaking;
The wind through it playing has language for me,
When over its branches the sunlight is breaking, 
A host of kind faces is gazing on me.
The friends of my childhood again are before me;
Each step wakes a memory as freely I roam.
With whispers laden the leaves rustle o'er me;
The ash grove, the ash grove alone  is my home.

Das hat uns unser Englischlehrer Dr Fritz Tröbs (den wir nur James nannten, weil er immer den sächsischen Genetiv am Beispiel von James's book illustrierte) nicht erzählt, dass Oxenford diese Version geschrieben hatte. Er hat es uns als walisisches Volkslied verkauft, was es ja eigentlich auch ist. James hat uns außer englischen Liedern die wirklichen Klassiker der englischen Literatur vermittelt. Gut, Shakespeare und so'n Zeuch auch, aber ich meine jetzt die wirklichen Klassiker. Nämlich P.G. WodehouseThe Wind in the Willows und Winnie-the-Pooh. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Er hat uns auch gezwungen, jeden Tag zehn neue Vokabeln zu lernen und in ein Vokabelheft einzutragen. Was haben wir ihn verflucht. Hat aber viel genützt. Wahrscheinlich gibt es heute keine Englischlehrer mehr, die in der Sekundarstufe II P.G. Wodehouse, The Wind in the Willows und Winnie-the-Pooh lesen und einen jahrelangen Vokabeltrainingsterror durchziehen.

1853 erschien im Westminster Review ein anonymer Aufsatz mit dem Titel Iconoclasm in German Philosophy (Bildersturm in der deutschen Philosophie). Der Autor war niemand anderer als der Theaterkritiker der Times John Oxenford, der hier den Engländern den deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer vorstellte. Schopenhauer erfuhr zufällig von diesem Artikel, und er sorgte dafür, dass es eine deutsche Übersetzung von Iconoclasm in German Philosophy geben wird. Das macht sein Freund Ernst Otto Lindner, Redakteur (später Chefredakteur) der Vossischen Zeitung, der mit einer Engländerin verheiratet ist. Die Übersetzung wird unter dem Titel Deutsche Philosophie im Auslande im Juni 1853 in der Vossischen Zeitung erscheinen, und sie macht Schopenhauer auf einen Schlag berühmt. The article is masterly in all respects, combining perfect grasp of the subject with lucid exposition and interesting treatment. It may be called without exaggeration the foundation of Schopenhauer's fame, both in his own and other countries, schrieb der Musikkritiker der Times Francis Hueffer.

Schopenhauer ist seinem Freund Lindner, der er auch als seinen Apostel bezeichnet, dankbar, dass der innerhalb dreier Wochen Oxenfords Artikel übersetzt und so in Deutschland bekannt gemacht hat: Das ist eine rechte Herzensstärkung im Alter, wo die Freunde unserer Jugendzeit fast alle weggestorben sind, daß wir neue und junge Freunde finden, welche an Theilnahme und Eifer die ehemaligen übertreffen: und doppelt ist es so, wenn wir diese neuen Freunde nicht dem Zufall, oder gemeinen Übereinstimmungen verdanken, sondern dem besten und edelsten Theil unsres Selbst. Ich bin so glücklich einige solche junge Freunde mir erworben zu haben; aber unter allen sind Sie wenigstens der allererste, indem Sie meine Wünsche erfüllen, ja, ihnen entgegenkommen ehe ich es nur gedacht habe.

Ich stammte aus Danzig, wenig aber fehlte, so wäre ich Engländer geworden, schreibt Schopenhauer in dem Lebenslauf, den er bei seiner Habilitation der Alma Mater Berolinensis vorlegt. Er setzt den Termin seiner ersten Vorlesung auf dieselbe Zeit, in der Hegel liest. Er hat kaum Zuhörer. Nach einem Jahr kündigt er die Stellung und macht eine Italienreise. Berlin hat er nie gemocht. Hegel noch weniger. Seine Vater hatte sich gewünscht, dass er in England geboren würde, einem Land der Freiheit, aber Schopenhauers Mutter war zu früh von ihrer Englandreise zurückgekehrt. Nach der Berliner Zeit zieht der Privatgelehrte nach Frankfurt, er hat dafür seine Gründe: Gesundes Klima. Schöne Gegend. Annehmlichkeiten großer Städte. Besseres Lesezimmer. Das Naturhistorische Museum. Besseres Schauspiel, Oper und Concerte. Mehr Engländer. Bessere Kaffeehäuser. Kein schlechtes Wasser. Die Senckenbergische Bibliothek. Keine Überschwemmungen. Weniger beobachtet. Die Freundlichkeit des Platzes und seiner ganzen Umgebung. Ich glaube, das mit den Engländern war ihm das Wichtigste.

In seinem Nachwort zu Oxenfords Iconoclasm in German Philosophy sagte Lindner über Schopenhauer, dass er eine, zumal in der Philosophie, so äußerst seltene Darstellungsgabe besitzt, deren Klarheit und Objectivität nur durch den Tiefsinn des Inhalts übertroffen wird. Das wird über das Werk von Hermann Schmitz wahrscheinlich niemand sagen. Klarheit und Objektivität sind etwas, das die Leser an Schopenhauer schätzen werden. Der Mann, der beinahe in England geboren wurde, ist durch einen Engländer berühmt geworden. Nach seinem Tod, wird ihn die ganze Welt lesen. Tolstoi schreibt, als er gerade Krieg und Frieden beendet hat: Wissen Sie, was der diesjährige Sommer für mich bedeutet hat? Ununterbrochene Begeisterung für Schopenhauer und eine Reihe geistiger Genüsse, die ich niemals zuvor erfahren habe. […] Ich weiß nicht, ob ich meine Meinung einmal ändern werde, jetzt jedenfalls bin ich überzeugt, dass Schopenhauer der genialste aller Menschen ist […]. Wenn ich ihn lese, ist mir unbegreiflich, weshalb sein Name unbekannt bleiben konnte. Es gibt höchstens eine Erklärung, eben jene, die er selber so oft wiederholt, nämlich dass es auf dieser Welt fast nur Idioten gibt.

Donnerstag, 17. Juni 2021

17. Juni 1953

 Nach dem Aufstand des 17. Juni 

Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes 
In der Stalinallee Flugblätter verteilen 
Auf denen zu lesen war, daß das Volk 
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe 
Und es nur durch verdoppelte Arbeit 
Zurückerobern könne. Wäre es da 
Nicht doch einfacher, die Regierung 
Löste das Volk auf und 
Wählte ein anderes?

Das dichtete Bertolt Brecht in seinen Buckower Elegien nach dem 17. Juni 1953.

Das schreibt und verkündet sein Unbehagen 
und bläht sich mit Benn und Kafka und Proust 
und fordert und konspiriert und schmust. 
Und ist langweilig. Kaum zu ertragen, 
gedankenarm, ohne eigenen Ton,  
und schreit, wenn man's nicht druckt: 'Inquisition!' 
Und ist anspruchsvoll und produziert Ersatz  
und sinniert sich eins ins Säuseln des Winds  
und ist für die Katz und schreibt für die Katz. 
Provinz, Provinz und nochmals Provinz! 

Das dichtete Louis Fürnberg als Reaktion auf Brechts Gedichte. Louis Fürnberg kennt man heute nicht mehr so sehr, aber vor sechzig Jahren, da kannte ihn jeder in dem Staat, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Weil er dieses Lied geschrieben hatte, das Die Partei heißt. Und das diesen schönen Refrain hat:

Die Partei, die Partei, die hat immer recht. 
Und Genossen, es bleibe dabei. 
Denn wer kämpft für das Recht, 
der hat immer recht gegen Lüge und Ausbeuterei. 
Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht. 
Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht. 
So aus leninschen Geist wächst zusammengeschweißt 
Die Partei, die Partei, die Partei

Der 17. Juni 1953 war ein schöner Frühsommertag. Ich spielte auf der Straße, bis der Malermeister Wenzel vorbeikam und sagte: Und jetzt kommen die Panzer. Ich wußte nicht, was er meinte und ging ins Haus. Opa saß am Radio. Ich setzte mich zu ihm, und Opa erklärte mir die Welt.

Dienstag, 15. Juni 2021

ich kann da nix für


Einige Fehlerkorrekturen für Abdeckung-Probleme fehlgeschlagen for site loomings-jay.blogspot.com. Sie haben angefordert, dass Google Ihre Fehlerkorrektur von Abdeckung-Problemen auf der Website loomings-jay.blogspot.com prüft. Die angeforderte Fehlerkorrektur bezog sich auf das folgende Problem: "Serverfehler (5xx)". Wir haben jedoch festgestellt, dass es auf einigen Seiten weiterhin auftritt. Wenn Sie alle Details zum Prüfungsfortschritt ansehen und herausfinden möchten, wie Sie die Fehler auf den verbleibenden Seiten beheben können, klicken Sie auf diesen Link.

Ich verstehe kein Wort von dieser Mitteilung des Google Search Console Teams. Für manche Leser scheint es schwierig meinen Blog zu erreichen. Für andere nicht, denn die Leserzahlen wachsen. Wenn das so weitergeht, werde ich in wenigen Wochen die Zahl von 5 (in Worten: fünf) Millionen Lesern erreicht haben. 

Die ganzen Schwierigkeiten begannen mit der Einführung einer neuen Google Oberfläche, lesen Sie dazu doch einmal den Post Moderation ausstehend. Es ist für mich komplizierter geworden, einen Post zu schreiben. Alles, was auf dieser Seite steht, ist wahr. Es ist allerdings nicht so schlimm wie vor zehn Jahren, als Google ein neues System einführte und alle Blogger der Welt eine Woche von der Welt abgeschnitten waren. Oder vor fünf Jahren, als meine Seite für Tage verschwunden war. Damals schrieb ich den schönen bösartigen Post Hinterhältiges Pack

Ein Bekannter schickte mir vor Wochen dieses Bildschirmphoto. Er wollte in der Nacht SILVAE anklicken und dann so etwas. Ich war, ohne dass ich es wusste für Google unter den Verdacht geraten, eine Phishingwebsite zu sein. Ärgerliche Fehler gibt es immer wieder. Gerade habe ich einen Kommentar zu dem Post nach sechzig Jahren von jemandem bekommen, der offenbar dies schöne Frau da oben kannte. Ich habe Kommentar veröffentlichen angeklickt und was passiert? Nix, der Kommentar ist verschwunden. Gleichzeitig erhielt ich einen Kommentar zu dem Post Franz Radziwill, den hat das System allerdings gedruckt. Ich weiß nicht, wie das passiert. Ich kann da nix für. Wie Henry David Thoreau so schön sagte: But lo! Men have become the tools of their tools.

Montag, 14. Juni 2021

nach sechzig Jahren


Vergangenheit ist immer neu. Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet. Teile von ihr, die in Vergessenheit versunken schienen, tauchen wieder auf, andere wiederum versinken, weil sie weniger wichtig sind, hat Italo Svevo geschrieben. Ich bin gerade wieder einmal auf einer Reise in die Vergangenheit, weil mir der Konny ein Photo geschickt hatte, das ich noch nie gesehen hatte. Und weil hier Teile, die in Vergessenheit versunken schienen, wieder auftauchten. Das Photo wurde vor sechzig Jahren in der Vegesacker Strandlust beim Abtanzball der Tanzschule Nico Arff gemacht. Damals sah die 1898 von den Bremer Architekten Klingeberg und Weber erbaute Strandlust ungefähr so aus, es gab hier noch einen Strand, sonst hätte der Name Strandlust keinen Sinn gemacht. Heute ist da eine Stahlspundwand, und das renommierte Lokal ist nach 122 Jahren pleite. Bis Ende des Monats Juni ist es noch Covid Impfzentrum für Bremen-Nord, dann wird auch das dichtgemacht. 

Das in der Kaiserzeit gebaute Etablissement Strandlust hatte einen großen Saal mit Galerie und Bühne, Klubräume und ein Restaurant, es gab einen Sommergarten mit einem Musikpavillon. Dies war eine Gaststätte der gehobenen Art an der Weser, ein beliebtes Ausflugsziel für Bremer, die mit einem Dampfer der weißen Flotte der Schreiber Reederei direkt vor der Strandlust anlegen konnten. Dies war der Ort für Tanzveranstaltungen aller Art. Zum Beispiel als diese drei Herren vom Vegesacker Ruderverein 1952 in Helsinki die Silbermedaille gewannen. Der mit der Mütze hier vorne war der ältere Bruder eines Klassenkameraden von mir. Mit dem Herrn in den Mitte hat meine Mutter den ganzen Abend beim feierlichen Ruderball getanzt. Davon gibt es noch Photos.

Denn zum Tanzen ging man in die Strandlust. Für den Oberstufenball, den Abiball, den Ball des Rudervereins, den Abtanzball. Wenn man die Limousinen betrachtet, die hier 1940 auf dem Parkplatz stehen, dann kann man sehen, dass dies immer noch eine Gaststätte der gehobenen Art ist. Wenig später war die Strandlust eine Bierhalle für die amerikanische Armee: GI Joe's Number 2 (GI Joe's Number 1 war das Bremer Rathaus), aber dann kamen das Wirtschaftswunder und der Wiederaufstieg des Lokals. Dann sendete Radio Bremen das Hafenkonzert aus der Strandlust. Zeitgleich mit dem Ende der Strandlust endete auch das Hafenkonzert von Radio Bremen, nach 66 Jahren und 1.405 Sendungen war Schluss. Es ist nichts mehr, wie es war.

Die Strandlust bedeutete uns etwas. Hier haben wir am Zaun des Sommergartens gehangen, damit wir den Bundespräsidenten Theodor Heuss auf der Strandstraße sehen konnten, der gerade einen Seenotrettungskreuzer auf seinen Namen getauft hatte. Hier war der halbe Ort versammelt, um die Sieger von Helsinki zu begrüßen. Hier im Saal geiferte und tobte Franz Josef Strauß, hier ist Adolf von Thadden aufgetreten, weil hier sein Geldgeber für die NPD, der Ziegeleibesitzer Fritze Thielen, zu Hause ist. Der finanziert jetzt die neuen Nazis. Seine hübsche Tochter, die mit der Ingrid in einer Klasse war, hat sich immer für den Vater geschämt. Und hier in der Kellerbar mit den Bullaugenfenstern unten in der Strandlust hat die blonde Ute in der Nacht nach einem Ball Summertime gesungen. Der Verein der Ehemaligen hatte mal ein Treffen für die Schüler des Gerhard Rohlfs Gymnasium in der Strandlust für jeden zweiten Weihnachtstag als jour fixe ins Leben gerufen, aber das war Tristesse pur. Da ging man lieber auf ein Bier zu Konnie Krämer ins Fährhaus.

Das Photo, das mir der Konny zugeschickt hatte, zeigt elf junge Paare und eine einzelne Dame ganz rechts. Das ist die Gattin des Tanzlehrers, die ist auf all den Photos drauf, die an diesem Abend gemacht wurden. Er soll sie immer betrogen haben, hat mir der Gerd erzählt, dessen Vater der Polizeichef des Ortes war. Ich kenne nicht alle auf dem Photo, vor allem bei den jungen Damen habe ich Schwierigkeiten mit der Zuordnung. Zwei von den zweiundzwanzig werden heiraten, drei von den Abgebildeten sind schon tot. Für den Wuddel habe ich einen Nachruf in meinem Blog geschrieben. Vier von den jungen Herren werden einen Doktortitel erhalten. Der Mille wird Pastor werden, der Dirk Direktor bei Daimler-Benz. Und der Konny, der wird alles werden, was ein Jurist werden kann, vom Richter an obersten Gerichten bis zum Staatssekretär.

Als er mir schrieb, dass er ein Photo vom Abtanzball hätte, auf dem die Ingrid auch drauf sei, sagte ich: Bitte, schick es mir. Sie kennen diese Frau, sie taucht hier im Blog immer wieder auf, zuletzt in dem Post Print on Demand. Einen Tag später hatte ich das Photo auf dem Bildschirm. Da stand sie nun in einem beinahe trägerlosen Kleid, die einzige von all den jungen Frauen mit nackten Schultern. Irgendwie sieht sie nicht so brav aus, wie man in diesem Alter aussehen soll. Also zum Beispiel die Renate, die immer nett und ordentlich aussah. Aber das bürgerliche Aussehen täuscht ein wenig, Renate ist die einzige, die Kunst studieren wird. Sie war auch in unserer Malgruppe bei dem Maler Heinz Recker, alle die in der Gruppe waren, haben Kunst studiert. Nur ich nicht, aber immerhin habe ich Kunstgeschichte studiert.

Ich wollte mehr über diejenigen wissen, die ich nicht kannte, ich rief den Michael an. Den fand ich schnell im Internet, weil ich wusste, dass er Professor für Landschaftsarchitektur gewesen war, so etwas gibt es nicht so häufig. Ich wollte ihm das Photo vorbeischicken, aber er winkte ab, er hat keine E-Mail Adresse und keinen Computer. Hat er mit der Pensionierung aufgegeben. Cool. Doch er kannte das Photo, und er besaß ein beinahe eidetisches Gedächtnis. Er konnte jede Person auf dem Photo nach sechzig Jahren detailliert beschreiben, mit Körperhaltung und Gesichtszügen. Von der Frau mit dem mißmutigen Gesicht, die ihm für den Abend zugelost worden war, bis zu der netten Frau aus Blumenthal neben dem Wuddel, die ich überhaupt nicht kannte.

Er vermisste allerdings auf dem Bild etliche Leute, aber damit konnte ich ihm aushelfen, weil ich noch ein zweites Bild vom Abtanzball besitze. Das habe ich von der Ute bekommen, die hier in der ersten Reihe zwischen dem Burchi (der Arzt wurde) und dem Eberhard (Industriephotograph) sitzt. Und auch mein Freund Peter ist auf dem Bild, der ist leider schon vier Jahre tot, er fehlt mir immer noch. Ich lieferte dem Michael mündlich eine Bildbeschreibung, dafür brauchte ich nicht mein eidetisches Gedächtnis zu bemühen, ich hatte ja das Bild auf dem Computer vor mir. Mit der Frau, die neben dem Dieter stand, die so frech und witzig schaut und mit dem Kameramann zu flirten scheint, konnte er mir aber nicht weiterhelfen.

Ich rief den Dieter an. Den suchte ich nicht im Internet, weil mir inzwischen eingefallen war, dass ich vom Konny, der über die Jahre auch alle Klassentreffen organisiert hatte, mir mal eine Liste der Lateinklasse geschickt hatte. Die Telephonnummer stimmte noch. Der Dieter wusste ebenso wie der Michael sofort, wer ich war, obgleich wir uns ein halbes Jahrhundert nicht mehr gesehen haben. Der Konny hat mir mal vor Jahren gesagt: Weißt Du Jay, Du kannst mit jedem von uns ein Gespräch da weiterführen, wo ihr vor fünfzig Jahren aufgehört habt. Es ist wirklich wahr, irgendwie hängen wir immer noch zusammen, ob wir es wollen oder nicht. Es ist ein unsichtbares Netz, das manchmal an einem zieht und zerrt, wenn die Erinnerungen zusammen mit den Todesanzeigen kommen. Immer dann, wenn Faulkners Satz Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen wieder einmal wahr wird

Für den Konny hat das Bild vom Abtanzball noch eine besondere Bedeutung, weil da die Frau drauf ist, die er später heiraten wird. Das ist die Siegrun, die dritte von rechts in der mittleren Reihe. Sie steht an der Seite von Lizzie, der so gut Klavier spielen konnte, dass er Jazzpianist hätte werden können, was unseren Musiklehrer Ernst Meißner aber nicht begeisterte. Siegrun hat einen kleinen Blumenkranz im Haar, wie eine kleine Krone. Und sie hat dieses Leuchten im Gesicht, so habe ich sie immer in Erinnerung. Wir waren zusammen in der Volksschule, ich kenne sie sozusagen seit ewig. Als ich vor elf Jahren meine Autobiographie Bremensien schrieb, habe ich ihr Teile vorbeigeschickt, sie hat das alles sehr kritisch gelesen. Sie kannte Ingrid vielleicht besser als ich, sie war während der ganzen Zeit im Lyceum ihre Banknachbarin gewesen. Ich habe alle kritischen Bemerkungen über den Text von ihr akzeptiert, Siegrun war immer ehrlich und immer geradeaus. Und sie hatte viel Humor. Sie ist im letzten Jahr im November gestorben, das ist eine traurige Sache. Den kleinen Roman, den ich in dem Post Que reste-t-il de nos amours erwähnt hatte, hat sie leider nicht mehr lesen können. Es hätte ihr viel Vergnügen bereitet, hat mir der Konny gesagt. Der Konny hat mir damals einen Nachruf eines amerikanischen Kollegen vorbeigeschickt, der die Siegrun durch ihre Freundin Herta Däubler-Gmelin kennengelernt hatte. In dem Brief ist die Rede von Siegrun’s charm, grace, beauty, intelligence ... She carried herself, she spoke and she acted with a quiet and singular dignity. Und das ist es, in wenigen Worten, charm, grace, beauty, intelligence.

Das letzte Photo, das ich von ihr habe, ist elf Jahre alt, das war die Feier der goldenen Konfirmation. Ich konnte an dem Wochenende nicht kommen, aber der Konny hat mir ein großes Farbphoto geschickt. Siegrun hat auf dem Photo immer noch dieses strahlende Lachen. Die Ingrid war auch gekommen, obgleich sie solchen Zusammentreffen eigentlich aus dem Weg geht. Sie hat im Alter angefangen, niemanden mehr kennen zu wollen. Da kannste nichts machen, die iss einfach so, hat mir ihre Klassenkameradin Ute gesagt. Auf dem Photo trägt Ingrid ein leuchtend rotes Jackett und ist gertenschlank wie immer. Sie hat die Augenbrauen hochgezogen und lächelt etwas ironisch. Sie ist die einzige, die eine Sonnenbrille trägt, sie muss immer auffallen. Die Sonnenbrille trägt sie heute immer noch, hat man mir erzählt. Manchmal glaube ich, dass sie in Wirklichkeit Greta Garbo ist.

Die Strandlust gibt es nicht mehr, den Strand auch nicht. Von unserem Badeparadies auf dem Schönebecker Sand ist nichts mehr übrig. In der Weser würde auch niemand mehr freiwillig baden. Es gibt noch Tanzschulen im Ort, aber bei denen liegen die Schwerpunkte auf Hip Hop, Kindertanz und Breakdance. Bei uns waren das noch die Gesellschaftstänze (obgleich auch schon Boogie Woogie und Cha Cha Cha unterrichtet wurden) und die Grundregeln des guten Benehmens. Die letzten, die in der Strandlust tanzten, sahen etwas anders aus als wir. Dies ist ein Photo vom Abiball eines Nordbremer Gymnasiums in der Strandlust im Jahre 2017. Da trägt niemand mehr schulterfreie Abendkleider, über deren Trägerinnen man sagen möchte: a thing of beauty is a joy forever. Ich glaube, ich zitiere aus reiner Nostalgie mal die letzte Strophe vom Weserlied:

Die süßen Bilder, wie weit, wie weit!
Wie schwer der Himmel, wie trübe!
Fahr wohl, fahr wohl, du selige Zeit!
Fahrt wohl, ihr Träume der Liebe.


Freitag, 11. Juni 2021

Landscape is my mistress


Der Besitzer von Malvern Hall, der Großgrundbesitzer Henry Greswolde Lewis, beklagt sich 1819 in einem Brief gegenüber John Constable über den Architekten Sir John Soane, der ihm sein Haus umgebaut hatte: I have brought the house to nearly what it was 60 years ago – before that Modern Goth, Mr Soane, spoilt a handsome house by shaving clean every ornament, architraves, coins, keystones, string courses, & ballustrade, the latter I could not replace, all the rest I have accomplished. Er hatte John Soane (der hier schon einen Post hat) bei seiner Grand Tour in Italien kennengelernt, damals war Soane noch nicht berühmt, eine Gesellschaft von englischen Landadligen hatte ihn nach Sizilien und Neapel mitgenommen, damit er für sie Zeichnungen anfertigte. Als sie alle wieder in England sind, gibt es für den jungen Architekten natürlich zahlreiche Aufträge.

Henry Greswolde Lewis hatte John Constable 1809 auf seinen Landsitz eingeladen, er sollte für ihn Haus und Park malen. Und ein Portrait des Hausherrn sollte es auch sein. Den Kontakt mit Lewis hatte dem Maler Lewis' Schwester Louisa vermittelt, die die Countess of Dysart war. Henry Greswolde Lewis und die Countess Louisa werden zu den Mäzenen des jungen Constable gehören. Dieses Bild von Malvern Hall malt er 1809, das Bild im ersten Absatz ist aus dem Jahr 1820 oder 1821. Da hatte sich die Countess of Dysart noch ein Bild des Hauses gewünscht, in dem sie ihre Jugend verbracht hatte. Constable wird von Lewis und seiner Schwester noch zahlreiche Aufträge bekommen, und er wird im Sommer 1820 wieder in Malvern Hall sein. Henry Greswolde Lewis ist stolz darauf, dass er die Änderungen von Soane wieder rückgängig gemacht hat: Malverne is going on, & is much improved inside & out. & would make a much better figure in Landscape than when you painted it last.

Henry Greswolde Lewis ist ein exzentrischer Auftraggeber, das kann man am Torhaus von Malvern Hall sehen, das der Architekt John Soane 1798 baute und als Barn à la Paestum bezeichnete: it was for Lewis in 1798 that Soane designed this unlikely structure as a kind of homage to the ruins he had seen at Paestum. The building is severe, and rather shocking. It’s not exactly like a Greek temple, which would have evenly spaced columns, a deeper entablature above the columns, and no round arch in the centre. But its carefully laid soft red bricks and imperfect white entablature do the job of suggesting ancient Greece and translating some of its architectural hallmarks into the very English medium of brick. For all its severity, it must have made Lewis think of his youthful travels, and smile, hat der Architekturhistoriker John Wilkinson in seinem Blog geschrieben.

Constable malt und zeichnet Malvern Hall und die Landschaft ringsherum. Und natürlich den Hausherrn, dessen Portrait kopiert er noch einige Male, damit Lewis es an die Verwandten verschenken kann; aber der eigentliche Grund, weshalb er für einen Monat nach Solihull eingeladen wurde, ist ein ganz anderer. Der Gutsherr hat ein dreizehnjähriges Mündel namens Mary Freer, das soll Copley für ihn malen. Unter den Nachbarn hält sich das Gerücht, dass die kleine Mary gar nicht sein Mündel, sondern in Wirklichkeit seine Tochter sei. Das kann gut sein. Er wird sein Leben lang für sie sorgen und ihr im Testament viel Geld hinterlassen. Lewis hatte die Tochter eines Earls geheiratet, aber die Ehe war nach einem Jahr zuende. Seine Frau ernährte sich von Opium (in der Form von Laudanum) und Alkohol. Lewis hatte aus der Ehe keine Kinder, jetzt lebt er für die kleine Mary, die auf diesem frisch gemalten Bild schon ein wenig erwachsen aussieht. Das mit Miss Mary Freer signierte Bild gehört heute dem Yale Center for British Art von Paul Mellon.

Die Schwester von Lewis hat an dem Bild etwas herumzumäkeln, aber Lewis sagt, das Bild bleibt, wie es ist. Er hat dann aber doch noch einen etwas exzentrischen Wunsch, den er an Constable heranträgt. Er habe in einer Kunsthandlung in London eine Elfenbeinminiatur gesehen, die the human eye & enough of the forehead to know the likeness zeigte. Könnte ihm Constable das Auge von Mary auf einen kleinen Elfenbeinknopf malen, den er am Hemd tragen könnte? Wir wissen nicht, was aus der Sache geworden ist.

Landscape is my mistress– 'tis to her I look for fame, and all that the warmth of imagination renders dear to man, hat Constable gesagt. Wir kennen ihn als Landschaftsmaler, aber er hätte ebensogut Portraitmaler werden können. Für seinen Mäzen Sir George Beaumont hatte er Claude Lorrain kopiert, für die Countess of Dysart  kopiert er ein Portrait von Reynolds, er hat viel dabei gelernt. 

Wir können das an dieser Kopie des Portraits sehen, das Reynolds von der Schwester der Countess gemalt hatte. Constables Biograph Charles Robert Leslie hat geschrieben: The Earl of Dysart wishing to have some family pictures copied, Constable was introduced to his lordship and the Countess as a young artist who would be glad to undertake them. The consequence was, his being employed in making a number of copies, chiefly from Sir Joshua Reynolds; and although it is to be regretted that much of his time would have been spent on any but original works, yet he no doubt derived improvement in his taste for colour and chiaroscuro by this intimate communion with so great a master of both. 

Constable kann Frauen malen, hier hat er seine sechzehnjähtige Cousine Jane Anne Mason gemalt, nicht so frisch und lebendig wie Mary Freer, eher im Stil des 18. Jahrhunderts. Das Bild ist im Besitz der englischen Regierung und hängt in der Downing Street No 10. Jeremy Corbyn hat vor vier Jahren gesagt, wenn er Premierminister würde, flöge der Constable raus und würde durch ein Bild von Roy Appleton, den man auch als Bosh the slosher kennt, ersetzt. Von dem hatte er mal ein Bild auf dem Flohmarkt gekauft. Wie wir alle wissen, ist Jeremy Corbyn nicht Premierminister geworden, sodass wir uns um den Constable keine Sorgen zu machen brauchen.

Constable hat seine Frau Maria gemalt (dies ist nur ein Ausschnitt aus dem Portrait), er hat seine Schwestern gemalt, aber wenn er 1829 als Vollmitglied in die Royal Academy aufgenommen wird, wird ihm der Präsident Sir Thomas Lawrence sagen, dass er von Glück sagen könne, dass er überhaupt aufgenommen worden sei. Schließlich sei er ja nur ein Landschaftsmaler. Dass Constable auch andere Dinge gemalt hat, interessiert Lawrence nicht. Landschaftsmalerei ist für Lawrence die niedrigste Form der Malerei. Sein Kollege Delacroix, der Constable bewunderte, war da ganz anderer Meinung.

Wie hätte dieses Bild ausgesehen, wenn Constable diese Skizze aus dem Jahre 1822 zuende gemalt hätte? Wollen wir das wirklich wissen? Das Bild ist ja so schon eine kleine malerische Revolution, ein Impressionismus avanti lettera. Wir können es in keinem Museum bewundern, niemand weiß, wo dieses Bild ist. Ich hätte gerne zum Schluss dieses Geburtstagspost (Constable wurde heute vor 245 Jahren geboren) noch ein Bild einer anderen Frau gebracht, aber das findet sich nicht im Internet. Es ist das Bild einer Meerjungfrau. 

Zwanzig Jahre nach dem Sommer in Malvern Hall bekommt Constable wieder einen Auftrag für ein Bild aus Malvern Hall. Constable ist auf einem Tiefpunkt seines Lebens: seine Frau Maria ist im Vorjahr an der Schwindsucht gestorben. Phasen von Depressionen hatte er immer wieder gehabt, jetzt hat er jeden Lebensmut verloren. Henry Greswolde Lewis weiß das, und er denkt sich, dass sein kleiner Auftrag den Maler ein wenig tröstet, Constable soll ein Wirtshausschild für die Old Mermaid & Greswolde Arms entwerfen: I have received a commission to paint a Mermaid for a sign for an Inn in Warwickshire. This is encouraging - and affords no small solace to my previous labours at landscape for the last twenty years – however I shall not quarrel with the lady – now – she may help to educate my children. Er fügt dem Satz in seinem Brief an seinen Freund Leslie noch hinzu: I would not write this nonsense at all, were it not to prove to you, my dear Leslie, that I am in some degree, at least, myself again. Die Zeichnung der Nixe gibt es, man kann sie zum Beispiel in dem schönen Buch John Constable: A Kingdom of His Own von Anthony Bailey sehen, aber das Wirtshausschild wurde nie ausgeführt.

Noch mehr Constable in diesem Blog: John Constables Wolken, lonely as a cloud, limited and abstract art, Reynolds