Samstag, 19. Juni 2021

Philosophen und Fremdsprachen

Der Philosoph Hermann Schmitz, der im Mai im Alter von zweiundneunzig Jahren starb, pflegte in seinen Vorlesungen lange griechische Zitate vorzutragen. Es konnte allerdings geschehen, dass es am Ende des Zitats einen Zwischenruf gab. Also zum Beispiel: Hermann, mein Griechisch ist etwas eingerostet. Kannst Du das noch einmal auf Japanisch vortragen? Viele Studenten gingen in die Vorlesung von Schmitz, weil das besser als Tom und Jerry war, das steht schon in dem Post Philosophenwitze. Den Zwischenruf mit der Bitte um ein japanisches Zitat habe ich übrigens nicht erfunden, den hat es wirklich gegeben. Es gab viele Zwischenrufe bei Schmitz, die häufig sehr witzig waren. Bei seinem Kollegen Karl-Otto Apel gab es keine Zwischenrufe, da hörten die Studenten zu. Wenn Schmitz auch im Griechischen und Lateinischen firm war, so schwächelte er im Englischen. Philosophen wie Hobbes und Hume hat er nie im Original gelesen. Allerdings haben ihn Hobbes und Hume auch nie interessiert. Die Frage stellt sich, wieviele Fremdsprachen muss ein Philosoph kennen? Um die Welt zu verstehen. Um seine Kollegen zu verstehen?

Für Leibniz war die Sache klar, er hatte ein gewissen Mißtrauen gegenüber dem Deutschen als Sprache des Philosophen, das kann man seinen Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache entnehmen. Die deutsche Sprache sei geeignet, um den Bergbau, das Jagd- und Waidwerk und die Seefahrt zu beschreiben, aber bei den Abstrakta versage sie: Es ereignet sich aber einiger Abgang bey unserer Sprache in denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen, sondern allein durch Betrachtung erreichen kan; als bey Ausdrückung der Gemüths Bewegungen, auch der Tugenden und Laster und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierungs-Kunst gehören; dann ferner bey denen noch mehr abgezogenen und abgefeimten Erkäntnissen, so die Liebhaber der Weissheit in ihrer Denck-Kunst, und in der allgemeinen Lehre von den Dingen unter dem Nahmen der Logick und Metaphysick auff die Bahne bringen. Leibniz schrieb seine Werke in französischer oder lateinischer Sprache.

Immanuel Kant wird deutsch schreiben. Er konnte Französisch, das hatte er in der Schule gelernt; wo er allerdings den Französischunterricht noch selbst bezahlen musste, der stand nicht auf dem Lehrplan der Schule. David Hume, den er lobte, wird er auf deutsch gelesen haben, er konnte kein Englisch. Es kommt jetzt viel an Philosophie aus Schottland und England, aber kaum ist es erschienen, da sind die Werke von Adam Smith, David Hume, George Berkeley, Shaftesbury und John Locke (der Pierre Nicoles Essays ins Englische übersetzt hatte) auch schon übersetzt. Es kommt im 18. Jahrhundert nicht nur viel Philosophie von der britischen Insel nach Deutschland. Wir importieren auch die neue literarische Form, den Roman. Wir importieren die Herrenmode (Goethes Werther trägt mit gelben Hosen und blauem Rock englische Tracht), die Neugotik und den Landschaftsgarten. Ich fasse mich hier kurz. Wenn Sie mehr zu dem Thema wissen wollen, dann lesen Sie Der Einfluß der englischen Literatur auf die deutsche von Horst Oppel (in Deutsche Philologie im Aufriß 1962).

Aber wir haben doch einen deutsche Philosophen, der Englisch spricht, der beinahe täglich die Times liest, der in England gewesen ist. Der ein philosophisches Werk schreibt, das die Engländer allerdings nicht kennen. Bis zu dem Augenblick, da der englische Schriftsteller John Oxenford kommt. Den kennt heute kaum noch jemand, obgleich er einmal ein berühmter Mann war. Er hat Goethes Autobiographie ins Englische übersetzt, Opernlibretti geschrieben und französische Lieder übersetzt. Und sein Theaterstück geschrieben (A Day Well Spent ), das von Thornton Wilder und Johann Nestroy umgeschrieben wurde, bis irgendwann das Musical Hello, Dolly! daraus wurde. Oxenford hat auch Lieder geschrieben, eins davon kann ich immer noch singen:

The ash grove, how graceful, how plainly 'tis speaking;
The wind through it playing has language for me,
When over its branches the sunlight is breaking, 
A host of kind faces is gazing on me.
The friends of my childhood again are before me;
Each step wakes a memory as freely I roam.
With whispers laden the leaves rustle o'er me;
The ash grove, the ash grove alone  is my home.

Das hat uns unser Englischlehrer Dr Fritz Tröbs (den wir nur James nannten, weil er immer den sächsischen Genetiv am Beispiel von James's book illustrierte) nicht erzählt, dass Oxenford diese Version geschrieben hatte. Er hat es uns als walisisches Volkslied verkauft, was es ja eigentlich auch ist. James hat uns außer englischen Liedern die wirklichen Klassiker der englischen Literatur vermittelt. Gut, Shakespeare und so'n Zeuch auch, aber ich meine jetzt die wirklichen Klassiker. Nämlich P.G. WodehouseThe Wind in the Willows und Winnie-the-Pooh. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Er hat uns auch gezwungen, jeden Tag zehn neue Vokabeln zu lernen und in ein Vokabelheft einzutragen. Was haben wir ihn verflucht. Hat aber viel genützt. Wahrscheinlich gibt es heute keine Englischlehrer mehr, die in der Sekundarstufe II P.G. Wodehouse, The Wind in the Willows und Winnie-the-Pooh lesen und einen jahrelangen Vokabeltrainingsterror durchziehen.

1853 erschien im Westminster Review ein anonymer Aufsatz mit dem Titel Iconoclasm in German Philosophy (Bildersturm in der deutschen Philosophie). Der Autor war niemand anderer als der Theaterkritiker der Times John Oxenford, der hier den Engländern den deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer vorstellte. Schopenhauer erfuhr zufällig von diesem Artikel, und er sorgte dafür, dass es eine deutsche Übersetzung von Iconoclasm in German Philosophy geben wird. Das macht sein Freund Ernst Otto Lindner, Redakteur (später Chefredakteur) der Vossischen Zeitung, der mit einer Engländerin verheiratet ist. Die Übersetzung wird unter dem Titel Deutsche Philosophie im Auslande im Juni 1853 in der Vossischen Zeitung erscheinen, und sie macht Schopenhauer auf einen Schlag berühmt. The article is masterly in all respects, combining perfect grasp of the subject with lucid exposition and interesting treatment. It may be called without exaggeration the foundation of Schopenhauer's fame, both in his own and other countries, schrieb der Musikkritiker der Times Francis Hueffer.

Schopenhauer ist seinem Freund Lindner, der er auch als seinen Apostel bezeichnet, dankbar, dass der innerhalb dreier Wochen Oxenfords Artikel übersetzt und so in Deutschland bekannt gemacht hat: Das ist eine rechte Herzensstärkung im Alter, wo die Freunde unserer Jugendzeit fast alle weggestorben sind, daß wir neue und junge Freunde finden, welche an Theilnahme und Eifer die ehemaligen übertreffen: und doppelt ist es so, wenn wir diese neuen Freunde nicht dem Zufall, oder gemeinen Übereinstimmungen verdanken, sondern dem besten und edelsten Theil unsres Selbst. Ich bin so glücklich einige solche junge Freunde mir erworben zu haben; aber unter allen sind Sie wenigstens der allererste, indem Sie meine Wünsche erfüllen, ja, ihnen entgegenkommen ehe ich es nur gedacht habe.

Ich stammte aus Danzig, wenig aber fehlte, so wäre ich Engländer geworden, schreibt Schopenhauer in dem Lebenslauf, den er bei seiner Habilitation der Alma Mater Berolinensis vorlegt. Er setzt den Termin seiner ersten Vorlesung auf dieselbe Zeit, in der Hegel liest. Er hat kaum Zuhörer. Nach einem Jahr kündigt er die Stellung und macht eine Italienreise. Berlin hat er nie gemocht. Hegel noch weniger. Seine Vater hatte sich gewünscht, dass er in England geboren würde, einem Land der Freiheit, aber Schopenhauers Mutter war zu früh von ihrer Englandreise zurückgekehrt. Nach der Berliner Zeit zieht der Privatgelehrte nach Frankfurt, er hat dafür seine Gründe: Gesundes Klima. Schöne Gegend. Annehmlichkeiten großer Städte. Besseres Lesezimmer. Das Naturhistorische Museum. Besseres Schauspiel, Oper und Concerte. Mehr Engländer. Bessere Kaffeehäuser. Kein schlechtes Wasser. Die Senckenbergische Bibliothek. Keine Überschwemmungen. Weniger beobachtet. Die Freundlichkeit des Platzes und seiner ganzen Umgebung. Ich glaube, das mit den Engländern war ihm das Wichtigste.

In seinem Nachwort zu Oxenfords Iconoclasm in German Philosophy sagte Lindner über Schopenhauer, dass er eine, zumal in der Philosophie, so äußerst seltene Darstellungsgabe besitzt, deren Klarheit und Objectivität nur durch den Tiefsinn des Inhalts übertroffen wird. Das wird über das Werk von Hermann Schmitz wahrscheinlich niemand sagen. Klarheit und Objektivität sind etwas, das die Leser an Schopenhauer schätzen werden. Der Mann, der beinahe in England geboren wurde, ist durch einen Engländer berühmt geworden. Nach seinem Tod, wird ihn die ganze Welt lesen. Tolstoi schreibt, als er gerade Krieg und Frieden beendet hat: Wissen Sie, was der diesjährige Sommer für mich bedeutet hat? Ununterbrochene Begeisterung für Schopenhauer und eine Reihe geistiger Genüsse, die ich niemals zuvor erfahren habe. […] Ich weiß nicht, ob ich meine Meinung einmal ändern werde, jetzt jedenfalls bin ich überzeugt, dass Schopenhauer der genialste aller Menschen ist […]. Wenn ich ihn lese, ist mir unbegreiflich, weshalb sein Name unbekannt bleiben konnte. Es gibt höchstens eine Erklärung, eben jene, die er selber so oft wiederholt, nämlich dass es auf dieser Welt fast nur Idioten gibt.

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