Samstag, 30. September 2023

Singapur


Der Globus aus dem Jahre 1899, der meinem Opa gehört hatte, ist in vielen Teilen der Erde ein wenig beschädigt. Ganze Kleinstaaten sind untergegangen, nicht weil da Kriege stattfanden, sondern weil Kinderhände da kleine Stücke aus der Pappmaché-Welt herausgeklaubt haben. Die halbe Welt hat auf dem Globus auch noch die Farben des englischen Königreiches. Ich wollte Singapur suchen, aber das macht wenig Sinn, denn vor hundertzwanzig Jahren hieß das Land noch gar nicht so. Hatte aber auch die Farbe des englischen Weltreichs dank Thomas Stamford Raffles. Der Name sagt mir etwas, weil mir mein Bruder mal aus dem Raffles Hotel in Singapur einen Teebecher mitgebracht hat. Filigran, Bone China. Ich beutze ihn nur für besondere Gelegenheiten. Also zum Beispiel heute morgen, während ich über das mir unbekannte Singapur schreiben will. Staubte dann Opas Globus mit dem Swiffer ab, und staubte auch noch seine Pickelhaube mit dem goldenen Adler, die neben den Globus auf der Fensterbank ruht, mit dem Swiffer ab. 

Und suchte Singapur mit Google Maps. Ich weiß jetzt, wo das ist. Und dass man da kein Kaugummi kauen darf. Wenn Sie sich jetzt fragen, weshalb ich mich für Singapur interessiere, habe ich dafür eine Antwort. Da kommen nämlich neuerdings meine ganzen Leser her. Ich hatte im September mehr als 42.000 Leser. Und 18.000, also beinahe die Hälfte, kommt nach der Google Statistik aus Singapur. Und die Google Statistik lügt nicht. Da bin ich ganz sicher. Weshalb ich am 28. August plötzlich 7.516 Leser hatte, weiß ich nicht. Ich hätte mich gefreut, wenn der mit großer Liebe geschriebene Post Landerlandsverräter so viele Leser bekommen hätte. 

Um meine neuen Leser zu begrüßen, möchte ich ein Singapur Gedicht hierher stellen. Es heißt Das Krokodil zu Singapur und wurde von Hermann Lingg geschrieben, der einem Münchener Dichterkreis angehörte, der Die Krokodile hieß:

Im heil'gen Teich zu Singapur
Da liegt ein altes Krokodil
Von äußerst grämlicher Natur
Und kaut an einem Lotosstil.

Es ist ganz alt und völlig blind,
Und wenn es einmal friert des Nachts,
So weint es wie ein kleines Kind,
Doch wenn ein schöner Tag ist, lacht's.

Heute ist ein schöner Tag, da lacht das Krokodil bestimmt.

Donnerstag, 28. September 2023

Inseln und Badewannen


Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen (hier auf dem Bild mit seiner Ehefrau Beatrice) wurde heute vor hundertzwanzig Jahren geboren. Seinen zweiten Vornamen hatte er sich zugelegt, als er zu schreiben begann. Dieses Vigoleis hat er sich aus dem Versepos Wigalois des Wirnt von Gravenberg genommen. Das schreibt er auch (selbstreferentiell wie die Literaturwissenschaftler sagen) in seinen ersten Roman hinein: Vigoleis? Und Vogel-F? Sie führen da einen romantischen Namen, wenn ich Sie recht verstanden habe, wohl ein Verwandter jenes Ritters von der Artusrunde […] Wigalois? Minnesang, 13. Jahrhundert, ich besitze die Benecke-Ausgabe […]„Verwandt […] artverwandt, ja, das bin ich schon mit der Gravenbergschen Gestalt“, – verschwieg aber, daß ich das Rad, welches mein Namensvetter als Helmzier auf dem Kopfe trug, im Kopf selbst hatte, wo es sich zuweilen so rasch dreht, daß mir schwindlig wird

Sein erster großer literarischer Erfolg war der autobiographische Roman Die Insel des zweiten Gesichts: Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis, der 1953 bei van Oorschot in Amsterdam und gleichzeitig bei Diederichs in Düsseldorf erschien. Der Roman verkaufte sich so gut, dass Diederichs noch im selben Jahr die sechste Auflage als Sonderausgabe herausbrachte. Wenn Sie den Titel anklicken, landen Sie bei Google Books, wo Sie viel von dem Werk lesen können. Siegfried Lenz, der Thelen einen epischen Zauberer nannte, hat über das Buch gesagt: Wenn ein Buch wirklich verdient, ein Ereignis genannt zu werden, dann dies. 

Es wird überall zitiert, dass der Roman eins der Lieblingsbücher Thomas Manns gewesen sei. Aber das stimmt nicht so ganz. Thelen hatte Thomas Mann, den er Ende der dreißiger Jahre in der Schweiz besucht hatte, ein Exemplar des Buches mit einem Brief geschickt: Sehr verehrter, lieber Herr Mann, ob ich auch weiss, dass Sie mit Briefen und Büchern aus aller Welt überhäuft werden, wodurch Ihnen selbst räumliche Nöte erwachsen (…), so wage ich es doch, Ihnen den ersten Band meiner “angewandten Erinnerungen”, ein pikareskes Memorial, zu schicken (…) – Ich erwarte natürlich nicht, dass Sie die 1.000 Seiten lesen, und wenn Sie mich fragen: ja, warum schickt er mir dann seinen Schmäucher überhaupt zu? dann möchte ich sagen, dass die “Insel” bei Ihnen in einem stillen Winkel auch ungelesen sehr gut aufgehoben ist. Als Dünndruckausgabe beschlägt sie nur 680cm3 , – oder ist das bei der Wohnungsnot unserer Welt doch noch zu viel? Mit ergebensten Grüssen der Ihrige ganz. 

Thomas Mann antwortete umgehend: Sehr verehrter Herr Thelen, Nehmen Sie vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen und Ihren merkwürdigen, bunten und krausen Roman, mit dem ich mich schon beschäftigt habe, den ich aber als Ganzes nicht gleich aufnehmen kann. Es strömt unsinnig viel Literatur herein, und meine Augen sind nicht mehr die alten, das heisst die eines Alten. Der Besitz Ihres Buches ist mir wert, und ich hoffe sehr, ihn mir bald ernstlich erwerben zu können. Bestens Ihr Thomas Mann. Wir wissen leider nicht, ob er den Roman von dem Mann, der in der Emigration auf Mallorca der Privatsekretär von Harry Graf Kessler war, ganz gelesen hat.

Im Erscheinungsjahr des Mallorca Romans wagte sich der fünfzigjährige Thelen zu einem Treffen der Gruppe 47 in Bebenhausen. Er hat es sein Leben lang nicht vergessen, wie er von Hans Werner Richter abgekanzelt wurde. Der Tag begann nicht gut, weil Richter schon beim Frühstück über die tausend Seiten Länge des Romans witzelte. Aber Thelen behielt die Fassung: Und dann beklettert Hans Werner Richter, der beklettert das Podium, es war eine Klettermöglichkeit da, er stand jedenfalls hinter seinem Pult und sagte den Leuten: Also jetzt liest ein unbekannter Mann – wie heißt er schon wieder? – und dann nimmt er den Zettel und hatte den Namen, und dann wurde ein paar Mal mein Name vom Zettel herunter gelesen. Und: Vollkommen unbekannt, also bitte kommen Sie nach vorne. Und das war mir alles übel, das war mir unangenehm, das war eine widerliche Angelegenheit. 

Aber Thelen klettert auch auf das Podium und liest. Eine Stunde lang, mit dem Anfang des Romans beginnend: Was ich gelesen hatte, war gut, meiner Meinung nach. Und dann geht der Werner Richter wieder ans Pult, lassen wir ihn ruhig noch mal klettern, da kletterte er wieder sein Pult rauf und geht dahin, und dann sagt er: Also gut, was wir da gehört haben, ist der Text eines umfangreichen Buches von dem und dem. Und das ist ein Emigrant, und dementsprechend ist das Emigrantendeutsch. Das muss natürlich, wenn so etwas je erscheinen sollte …” – da rief der Oorschot dazwischen (er verstand das so weit): “Erscheinen sollte? (…) Also das erscheint bei mir!” – Und da sagte der Richter: “… ja, das muss dann natürlich überarbeitet werden. Ein Jahr nach seinem Auftritt in Bebenhausen wird Thelen für seinen Roman mit diesem Emigrantendeutsch in Berlin den Fontane Preis erhalten.

Ich habe mich immer gewundert, dass ein zweitklassiger Schriftsteller wie Hans Werner Richter für die deutsche Nachkriegsliteratur so viel Bedeutung gehabt hat. Es gab an dem Tag aber auch zwei Schriftsteller, die Thelen trösteten und Richter öffentlich kritisierten, das waren Alfred Andersch und Martin Walser. Das mit dem Emigrantendeutsch war beleidigend und dumm. Denn wenn hier jemand lang und mäandernd erzählt, dann gibt es in der Geschichte des Romans schon Vorläufer dafür. Nämlich bei denen, die den Roman im 18. Jahrhundert erfunden haben: den  Engländern. Die englischen Autoren haben viel Zeit. Ihre Leser auch. Und so neigen die auktorialen Erzähler des Romans zu Digressionen. Wer heute über sein Mobiltelephon Kurzbotschaften versendet, neigt nicht zu Digressionen. Die wunderbaren Nebensächlichkeiten, die einen Erzähler wie Laurence Sterne nie dazu kommen lassen, zur eigentlichen Handlung zurückzukehren, haben mit dem 18. Jahrhundert nicht aufgehört. Wir finden sie auch bei Jean Paul wieder. Und bei Albert Vigolein Thelen.

Die Insel des zweiten Gesichts war nicht das erste Buch, das ich von Thelen las, mein erstes Buch war Der schwarze Herr Bahßetup. Das habe ich in einer Erstausgabe vor Jahrzehnten von meinem Freund Peter zum Geburtstag bekommen. Von ihm habe ich jahrzehntelang zum Geburtstag und zu Weihnachten immer Bücher bekommen, die mein Leben und mein Denken vorangebracht haben. Ich weiß nicht, wie er es hinkriegte, aber ich verdanke ihm sehr viel Bildung und sehr viele Leseerlebnisse. Das Buch um die Erlebnisse des schwarzen Herrn mit dem wunderbar seltsamen Namen, der im Hotel nach einer Badewanne verlangt und dessen Ausruf Bahßetup man für seinen Namen hält, habe ich gleich ein zweites Mal gelesen, als ich mit den 765 Seiten fertig war. Und so gerne ich in den kleinen Chor derjenigen einstimme, die Die Insel des zweiten Gesichts für ein großes Buch halten, ich mag den 1956 bei Kurt Desch erschienenen Roman eigentlich noch lieber. Zur Schande des Verlegers Kurt Desch muss leider gesagt werden, dass er - ohne mit dem Autor darüber zu reden - den Roman kurze Zeit nach dem Erscheinen verramschen ließ. Die Resonanz der Kritik war ihm zu mickrig. Da war kein Paul Celan, der une vraie œuvre d’art sagte und sein Exemplar der Insel mit viertausend Annotationen versah. Man hatte eine Fortsetzung von Die Insel des zweiten Gesichts erwartet, aber der Autor tat dem Publikum nicht diesen Gefallen. Thelen schrieb seinem holländischen Übersetzer Carel DinauxMach nicht den Fehler aller deutschen Kritiker, die mijn boeken als romans ‚hinstellen‘, en niets, wat ze minder zijn. ja, als roman gezien zijn ze zelfs slecht. het zijn memoires, en alle aangehaalde episodes zijn authen- tieke feiten, zoo moeilijk het de mensen ook soms mag worden, het te geloven.

Wo steht Albert Vigoleis Thelen heute? Der Literaturwissenschaftler Jürgen Pütz schreibt in Albert Vigoleis Thelen: Mittler zwischen Sprachen und Kulturen (das Buch ist hier im Volltext): Als ich unlängst in einem Werbeprospekt des S. Fischer Verlags den folgenden Satz von Marcel Reich-Ranicki las, war mir schlagartig klar, welche Aufgabe es in diesem und in den nächsten Jahren noch zu bewältigen gilt. Die Aufgabe, die von dem ehemaligen TV-Kritiker postulierte Literaturgeschichte in einem kleinen, aber entscheidenden Punkt umzuschreiben. Reich-Ranicki wird mit folgenden Worten zitiert: 'Ich glaube, die 'Buddenbrooks' sind der Höhepunkt des deutschen Romans überhaupt.' Ich hingegen glaube, dass die 'Buddenbrooks' ein sehr beachtliches Werk sind. Ein Werk, dessen Qualität außer Zweifel steht und das zu Recht zum festen Bestandteil des literarischen Kanons gehört. Es ist aber an der Zeit, den Kanon zu erweitern und die Scheinwerfer auch auf Werke zu richten, die in Qualität und Originalität den schon bekannten und etablierten Büchern in nichts nachstehen. Nur eines haben sie noch nicht erreicht, sie sind nicht in aller Munde. Ein solches Werk ist zweifellos 'Die Insel des zweiten Gesichts' von Albert Vigoleis Thelen. 'Selten schiebt einer auf der literarischen Kegelbahn alle neun Musen', schreibt Jean Paul in seiner Vorrede zur zweiten Auflage des 'Hesperus'. Mit seiner 'Insel ' wird Thelen wohl acht Musen erwischt haben.

Wir belassen es mal dabei. Im zweiten Jahr meiner Bloggertätigkeit schrieb ich hier den Post Albert Vigoleis Thelen, der mir sogar die Anerkenung der Albert Vigoleis Thelen Gesellschaft eintrug. Ich möchte noch unbedingt die Literaturzeitschrift Die Horen erwähnen, die über die Jahre beständig das Werk Thelens gewürdigt hat. Im Jahr 2000 erschien dort der 440-seitige Band Lauter Vigoleisiaden oder der zweite Blick auf Albert Vigoleis Thelen, zusammengestellt von Jürgen Pütz

Dessen Dissertation wurde 1990 unter dem Titel Doppelgänger seiner selbst. Der Erzähler Albert Vigoleis Thelen veröffentlicht. Er hat auch das schöne Buch Sie tanzte nackt auf dem Söller: Das Leben des Albert Vigoleis Thelen aus Texten von Thelen zusammengestellt. Wenn Sie Albert Vigoleis Thelen und seinen unnachahmlichen Stil kennenlernen wollen, dann sollte dies das Buch sein, das Sie zuerst lesen. Also bevor Sie sich mit Inseln und Badewannen beschäftigen. Es ist schön, dass Thelen immer wieder neu entdeckt wird. Auch außerhalb Deutschlands. 

Der amerikanische Professor Donald O. White hat für The Island of Second Sight 2013 den PEN Translation Prize bekommen; seine Übersetzung, an der er länger als ein Vierteljahrhundert gearbeitet hatte, erschien bei fünf englischen und amerikanischen Verlagen. Thelen hat noch Teile dieser Übersetzung lesen können, wie Donald White schreibt: „Ach, es geht so viel verloren!“ Also sprach Vigo selber, als ich ihn und Beatrice im Sommer 1986 in ihrer Viersener Wohnung zum zweiten und letzten Mal besuchte. Wie vor meinem ersten Besuch in Lausanne im Jahre 1980 hatte ich den beiden auch diesmal Kostproben meiner Übersetzung zur Durchsicht zugeschickt. Sie sprachen beide ihre Bewunderung aus für meine Arbeit, aber dennoch war es für sie ein Schock, als sie merkten, wie sehr viel von Thelens idiosynkratischer Leistung als Sprachkünstler bei der Übertragung in eine andere Sprache notgedrungen preisgegeben werden muss. Das muss man im Allgemeinen leider bemerken, auch und sogar bei Übertragungen zwischen Deutsch und Englisch, die trotz aller historischen Verwandtschaft einander schließlich so sehr ähnlich nicht sind. Dies gilt erst recht für Vigos wunderbar kaleidoskopisches Deutsch, das in seiner untergründigen Mischung aus Tiefsinn und Komik, aus Finesse und Parodie, sein unverwechselbares Gepräge besitzt. Es ist schade, dass der Mann, der vom Emigrantendeutsch gesprochen hat, diesen letzten Satz nicht mehr lesen kann.

Ich habe zum Schluss dieses Geburtstagsposts noch ein Gedicht von Thelen, das Letzter Wille heißt:

An meinem Grabe will ich keine Tränen, 
die hab ich alle selber schon geweint, 
um gegen eine Welt mich aufzulehnen, 
die ich en gros, nicht en detail verneint.

Ich bin nicht, was sie nennen lebensmüde, 
auch Schopenhauer ist nicht mehr mein Fall. 
Ich mach aus einer Weltschmerzattitüde 
kein pessimistisch Lebensideal.

Zwar hab ich dreimal mich entleiben wollen 
und ging dabei dreimal verflucht nicht drauf. 
Als Todverächter leb ich aus dem Vollen – 
ich war gefeit und gab es schließlich auf.

Legt mich ins Grab, so wie der Tod mich antrifft, 
mit Schlips und Schluffen, wenn es ihm gefällt. 
Blutüberströmt, wenn mich der letzte Bann triff 
im Autorasen einer Großstadtwelt.

Kein Leichenhemd! 
Ich muß mich drauf versteifen, 
und dito Waschung: einfach abgeschmackt,
noch an dem toten Fleisch herumzuseifen,
bevor mans zünftig in die Kiste packt.

Wenn ihr den Herzstich scheut, so schlagt doch eben 
den Kistendeckel doppelreihig zu,
denn sollte ich den Scheintod noch erleben,
dann gibt der Nägelmehrverbrauch die sichre Ruh.

Mit Seelenmessen soll man mich verschonen. 
Wer Francos heiligen Krieg gesehen hat,
sieht nicht mehr Gott in Gotteshäusern wohnen ... 
Nun hat mein Stundenbuch ein leeres Blatt

zu all den leeren mehr. Ach, Beatrice,
auch du hast seine Seiten nicht gefüllt.
Es füllt sie keiner, Buddha nicht noch Nietzsche, 
bevor das große Dunkel mich umhüllt,

das nackte Nichts der schwarzen Ewigkeiten, 
der vollen Schöpfung leere Gegenwelt,
die allen göttlichen Gewordenheiten
im Gegengöttlichen die Waage hält.

Natürlich werdet ihr den letzten Willen 
als faulen Zauber in den Ofen tun. 
Doch werde meinen ersten ich erfüllen: 
von diesem Erdenirrsinn auszuruhn.

Sonntag, 24. September 2023

Superuhr


Diese beiden Uhren sind sechzig Jahre alt, sie sind schon ein wenig angeschlagen. Links ist eine Eterna, rechts eine Omega. Zwei schweizer Uhrenfirmen, die sich lateinische und griechische Namen gegeben haben und einmal zu den besten schweizer Firmen zählten. Beide Firmen waren lange inhabergeführte Firmen. Der letzte Besitzer der Firma Eterna war Dr Rudolf Schild-Comtesse, ein Enkel des Firmengründers Urs Schild; heute gehört die Firma chinesischen Investoren. Die Firma Omega wurde von Louis Brandt gegründet und trug lange den Namen Omega Louis Brandt & Frère, sie gehört heute zur Swatch Group. Diese beiden Uhren sind die von Sammlern gesuchtesten Modelle der beiden Firmen.

Und mit Sammlern meine ich echte Uhrensammler, also Leute, die keine Rolex anrühren würden. Außer vielleicht diese Rolex Fälschung, die das Werk eines Herstellers mit Humor ist. Auf dem Zifferblatt können wir Relax statt Rolex lesen, und von dem Krönchen bricht auch schon eine Zacke ab. Und uns wird versichert, dass diese Taucheruhr bis zu einer Tiefe von neunzig Zentimetern wasserdicht ist. In ihr tickt, wie in allen Seiko Mod Uhren, ein japanisches Automatikwerk, das bestimmt genauso lange hält, wie das Werk einer Rolex. Trotz aller wunderbar komischen Angaben auf dem Zifferblatt, ist diese Relax eine Taucheruhr, so, wie die Rolex Submariner (die meistgeklonte Uhr der Welt) eine Taucheruhr war. Das waren die beiden Uhren im  ersten Absatz auch gewesen.

Tauchen ist nicht mein Ding. Als wir klein waren und auf dem Schönebecker Sand oder dem Vegesacker Strand (hier im Bild) in der Weser badeten, tauchten wir mal für zwei Minuten  unten, wenn ein großes Schiff, so ein Heinduckdie, vorbeikam. Man muss die Schrauben eines Schiffes unter Wasser mal gehört haben, ein seltsamer Klang. Obgleich an den Stränden die ersten Leute mit Taucherbrille und Schwimmflossen auftauchten, interessierte mich die Unterwasserwelt nicht. Dann gewann ich bei einem Aufsatzwettbewerb meiner Schule, den der Buchhändler Conrad Claus Otto veranstaltet hatte, den dritten Preis. Und das war ein Buch von Hans Hass. Der hatte, ebenso wie sein Kollege Jacques Cousteau, gerade Konjunktur auf dem Buchmarkt. Conrad Claus Otto dachte, er hätte mir mit dem Bestseller eine Freude gemacht, dem war aber nicht so. 

Die größte Tiefe, die ich beim Tauchen erreichte, waren die vier Meter im Bremer Zentrabad (neben dem Haus des Reichs) unter den Sprungtürmen. Ich hatte gerade mein Fahrtenschwimmen bestanden, kletterte aus dem Becken, als der Sportlehrer Ludwig Sundermeier ein Schlüsselbund ins Wasser schmiss und sagte: Hol's wieder rauf. Jahre später habe ich eine halbe Stunde im Zwischenahner Meer getaucht, weil mir der Marlspieker von Kapitän Hugo Gottsmann über Bord gefallen war. Ich hätte natürlich bei Meyerdiercks in der Hafenstraße einen neuen kaufen können. Aber das ging nicht, eine Legende der Segelschiffahrt wie Hugo Gottsmann musste ihren alten Marlspieker wiederhaben. Ich habe ihn in dem trüben Wasser nach einer halben Stunde auf dem schlammigen Seeboden gefunden. Mehr kann ich zum Thema Tauchen nicht sagen. Es ist mir klar, dass ich nicht unbedingt dafür prädestiniert bin, über Taucheruhren zu schreiben.

Ich tue es trotzdem mal. Habe das auch schon getan, als ich über die berühmte Doxa 300 Sub oder meine Zodiac Sea Wolf schrieb. Ich schreibe heute mal über die linke Uhr im obersten Absatz, eine Eternamatic Super KonTiki. Die ist natürlich benannt nach dem Floß, mit dem Thor Heyerdahl über den Pazifik segelte, die Firma Eterna war damals dabei. Weil Heyerdahl den Dr Schild-Comtesse kannte und ihn gefragt hatte, ob er ein halbes Dutzend garantiert wasserdichter Armbanduhren bekommen könnte. Die bekam er. Unentgeltlich. Leider ist keine dieser Uhren erhalten. Man vernutet, dass es Automatikuhren (noch die mit der Hammerautomatik) gewsen sind. Man wollte den Männern das tägliche Aufziehen mit nassen und klammen Fingern ersparen. 

Der Eterna Chef Rudolf Schild-Comtesse war einer der mächtigsten Männer in der schweizer Uhrenindustrie. Also, bevor Nicolas Hayek kam, der der Schweiz die Swatch bescherte. Über Schild-Comtesse hat seine Enkelin Bettina Hahnloser die hochintereressante Biographie Der Uhrenpatron und das Ende einer Ära: Rudolf Schild-Comtesse, Eterna und ETA und die schweizerische Uhrenindustrie geschrieben. Hier finden sich unveröffentlichte Dokumente aus dem Familienbesitz, aber auch einiges, was die Autorin von Adolf Richard Schild, dem Enkel des ASSA Gründers erfahren hat. Man erfährt selten soviel über die schweizer Uhrenindustrie wie in diesem Buch aus dem Verlag der Neuen Zürcher.

Die Firma Eterna dachte sich, man könnte den großen Erfolg von Heyerdahl, dessen Buch Kon-Tiki: Ein Floß treibt über den Pazifik ja Millionen von Lesern gefunden hatte, auch ein klein wenig vermarkten. Und brachte Ende der fünfziger Jahre eine Sportuhr mit dem Namen KonTiki heraus. Die hat hier schon einen schönen Post, der viele Leser gefunden hat. Die Uhr war wasserdicht, sie hatte die Referenznummer 130 TT, das TT stand bei der Eterna für ein super-wasserdichtes Gehäuse. Aber die KonTiki war keine Taucheruhr, die kam wenige Jahre später, war zwei Millimeter größer und hieß dann Super KonTiki.

Es gab sie auch mit dem Stahlband der Firma Gay Fréres, das auch schon an der Kontiki gewesen war; und es gab die Uhr mit unterschiedlichen Zifferblättern. Zuerst waren die Uhren mit 38 mm nur ein klein wenig größer als die KonTiki gewesen, ab dem dritten Modell legte man die Größe mit 40 mm fest. Wenn Sie alles, aber wirklich alles über dieses Modell wissen wollen, dann klicken Sie diese Seite an. Was da allerdings nicht steht, ist die Tatsache, dass diese Uhr sehr selten geworden ist. Und damit meine ich nicht, dass es Jahrzehnte später Neuauflagen des Modells gegeben hat. Auch die chinesischen Besitzer haben eine Super KonTiki im Programm. Nein, ich meine die Super KonTikis aus den frühen sechziger Jahren. Damals hatte mein Vater eine Eterna, ich eine Junghans mit Nylon Armband, das jede Woche gewaschen wurde. Aber jetzt, sechzig Jahre später, besitze ich eine Super KonTiki.

Natürlich hat die Super KonTiki die kleine Plakette aus 18-karätigem Gold mit dem Floß von Thor Heyerdahl auf dem Boden. Die ersten Modelle hatten das noch nicht, da war das Floß nur in den Gehäuseboden eingraviert, aber ab Referenznummer 130 PTX war Gold auf dem Boden. Was ich jetzt am Arm habe, während ich diesen Post schreibe, ist meine zehnte Eterna. Da sammelt sich in dreißig Jahren einiges an. Ich habe Opas silberne Eterna Taschenuhr, eine kleine wasserdichte Rechteckuhr aus den dreißiger Jahren und eine Militäruhr mit dem größten Armbanduhrwerk, das die Eterna gebaut hat, dem Kaliber 852. Und, und, und.

Ich wollte mit der Eterna Sammelei eigentlich aufhören, weil ich mir vor Monaten dieses wunderbare Siebzigerjahre Monster gekauft hatte. 38 mm groß, hat jetzt ein weißes Krokoband der Firma Cornelius Kaufmann. Ich habe da in einer Schublade eine kleine Schachtel mit Uhren, die aussehen wie Miniatur Fernsehgeräte. Diese kleinen Klötze fand man ja in den siebziger Jahren, dem Jahrzehnt ohne jeden Geschmack (the decade that taste forgot) eine große Sache. Diese Eternamatic 1000 Concept 80, sollte die letzte sein. Zumal ich mir Weihnachten noch eine Centenaire gekauft hatte. Ich hatte zwar schon eine, aber diese war viel schöner als die andere mit dem versifften Zifferblatt. Doch dann kam der Barnie, der sonntags auf einem Flohmarkt eine Uhr gefunden hatte, die er nicht einordnen konnte.

Und das würde wohl niemand auf den ersten Blick können. Denn bei dieser Uhr steht das Super Kontiki nicht auf dem Zifferblatt. Nichts davon. Da steht nur Eternamatic und die fünf Kügelchen, die zum Markenzeichen der Firma geworden sind. Weil der Chefkonstrukteur →Heinrich Stamm (firmenintern nur Daniel Düsentrieb genannt) die Eternamatic erfunden hatte. Eine Automatikuhr, bei der der Rotor in einem Kugellager mit fünf winzig kleinen Kugeln gelagert wird (30.000 von ihnen würden in einen Fingerhut passen). Es ist eine der größten Erfindungen in der Geschichte der Uhr. Beinahe 95 Prozent aller schweizer Automatikuhren, die heute gebaut werden, basieren auf dem Eterna Automatikwerk von Heinrich Stamm.

Man muss die Uhr ohne Modellnamen auf dem schwarzen Zifferblatt , die der Barnie gefunden hatte, schon aufschrauben; dann kann man die Referenznummer 130 PTX/3 lesen, die die Uhr einwandfrei als Super Kontiki identifiziert. Die kleine Goldplakette auf dem Gehäuseboden tut das ihre dazu. Aber warum hat sie keinen Modellnamen auf dem Zifferblatt? Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht ist dies die einzige Super KonTiki auf der Welt, die so aussieht. Jetzt, wo sie mir gehört, könnte ich mir natürlich bei Bethge ein neues Zifferblatt drucken lassen, aber die Uhr bleibt so original wie sie ist. 

Die Lünette ist ein bisschen abgeschrabbelt, doch das gehört dazu. Der Barnie, der schon x-mal in diesem Blog erwähnt worden ist, hat mir die Uhr zu einem Freundschaftspreis verkauft. Weil er weiß, dass ich Eterna Sammler bin. Die Uhr sieht jetzt besser aus als auf diesem mit Makromodus gemachten Photo. Das Unglaublichste an diesem unglaublichen Uhrenfund ist die Sache, dass die Uhr nach sechzig Jahren chronometergenau geht. Aber dafür waren die Uhren aus der Präzisionsuhrenfabrik in Grenchen ja mal bekannt. Der Barnie hat das Gehäuse softpoliert; der Uhrmacher Petersen hat neue Leuchtmasse in die Zeiger gefüllt. Ich habe ein braunes Lederband an die Uhr gemacht. Hatte probeweise ein schönes altes Edelstahlband von Tissot dran, das millimetergenau passte, aber da sah mir die Uhr doch zu sehr nach Taucheruhr aus. So wie sie jetzt ist, weiß niemand, was das ist, was ich da am Arm habe. So soll es sein.

Samstag, 23. September 2023

Im blauen Licht der Stadt


Den Mann kennen Sie, er ist Schauspieler, er spielt die Hauptrolle in dem Kultfilm Diva, zu dem es hier schon einen ausführlichen Post gibt. Brigitte Lahaie halbnackt inklusive. Diva war der Film, der ihn berühmt gemacht hat. Er hat mehr als fünfzig Filme gedreht, aber Diva fällt einem immer zuerst ein, wenn man den Namen Richard Bohringer hört. Und dann vielleicht noch Die letzte Metro, wo er einen Gestapo Beamten spielt, Gefahr im Verzug, wo er ein Auftragskiller ist und Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, wo er den Koch spielt. Richard Bohrunger ist nicht nur ein Film- und Theaterschauspieler, er schreibt auch Bücher. Wie dieses hier, das C'est beau une ville la nuit heißt und den Untertitel Blues hat. Wenn Sie den Titel anklicken, können Sie die ersten Seiten lesen. Es ist ein wildes Buch. Ein Text, der ein Roman sein kann, der aber auch, im Drogen- und Alkoholrausch geschrieben, eine Autobiographie sein kann. Eine Erzählung unterbrochen von Gedichten. Und durch das Ganze läuft im Hintergrund ein Jazzsound, der Untertitel Blues ist nicht zufällig gewählt. Célines Roman Voyage au bout de la nuit klingt stilistisch überall durch. Das fiel mir als erstes auf, aber das war den französischen Kritikern auch schon aufgefallen. Ein Kritiker nannte das Buch une balade, l'oeil et l'esprit grands ouverts au vif de la ville et au droit à la vie, une route de douleurs, de joies et finalement d'espérances.

Ich mag diese Bücher, die so völlig schräg daherkommen. Wie C'est à Hambourg oder die Romane von Gerd-Peter Eigner. Oder A feast of Snakes von Harry Crews. Irgendwann stelle ich mal eine Liste dieser völlig schrägen Romane zusammen, die so weit außerhalb der ordentlichen Romanwelt von Fontane und Thomas Mann sind. C'est beau une ville la nuit war das erste Buch des Schauspielers (er wird noch mehrere schreiben). Sie können ihn hier im Interview über sein Buch reden hören. Die französischen Literaturkritiker mochten dieses Buch, erstaunlicherweise hat es auch eine deutsche Ausgabe gegeben. Der Heyne Verlag, der neben seiner Massenware immer mal für Überraschungen gut war, brachte 1990 den Roman unter dem Titel Im blauen Licht der Stadt in der Übersetzung von Rudolf Kimmig als Paperback heraus. Frankreichs neue Kultfigur: Richard Bohringer - Kinostar und Poet stand fett hinten auf dem Buch drauf. Aber ist der Roman damals in Deutschland begeistert gelesen worden? Ich habe keine Rezensionen gefunden, er hätte welche verdient. Heute kann man das Buch, das damals 6,80 DM kostete, für 33 Cent bei booklooker kaufen. Es ist mehr wert.

Wenn Richard Bohringer in Die letzte Metro einen Gestapo Beamten spielt, dann mag ihm diese Rolle vielleicht seltsam vorgekommen sein. Hat er dabei an seinen Vater gedacht, den er nur dreimal in seinem Leben gesehen hat? Sein Vater hieß auch Richard Bohringer, er war ein blonder deutscher Offizier, der diese hübsche Französin aus Moulins geheiratet hatte. Als der kleine Richard geboren wurde, ließen ihn seine Eltern bei der Großmutter und zogen nach Deutschland. Sein Vater kam an die Ostfront und wanderte dann für fünf Jahre in die russische Gefangenschaft. Bohringer sagt, dass er bei seiner Oma eine glückliche Jugend gehabt habe. Sie brauchte ihn, sie hatte sonst nur die Einsamkeit: Elle ne voulait pas me partager, m’emmener les voir. Elle avait besoin de moi pour pas être seule. En fin de compte, ils se sont bien arrangés sur mon dos. In seinem Wohnzimmer hängt ein Photo seiner Eltern. Die er kaum gekannt hat, und die sich auch kaum gekannt haben. Bohringer hat sehr spät im Leben darüber geredet, dass er zu den enfants maudits, den Besatzungskindern gehörte. In C'est beau une ville la nuit läßt er seinen Erzähler am Ende sagen: Vie je te veux. Je t'ai toujours voulue. J'avais pas le mode d'emploi (Leben, ich will dich. Ich wollte dich immer. Ich hatte die Anweisungen nicht). Aber wer hat die schon, die Gebrauchsanweisungen für das Leben?

Mittwoch, 20. September 2023

Les Oiseaux

Als ich jung war, hielt ich Daphne du Maurier für eine Französin. Ich hatte mir in der Nacht im Pariser Gare du Nord eine Paperbackausgabe von L'auberge de la Jamaique gekauft und wartete auf den Nordexpress. Der fuhr um zehn in Paris ab und war morgens um acht in Bremen. Ich kannte die Strecke, meine Freundin arbeitete als au pair in Paris. Jahre später habe ich gemerkt, dass die Autorin eine Engländerin war. Was ich gekauft hatte, war die französische Übersetzung von Jamaica Inn. Ein Roman, den Alfred Hitchcock verfilm hat. Und um Hitchcock geht es heute, denn vor genau sechzig Jahren erlebte der Film Die Vögel seine deutsche Erstaufführung. Habe ich damals nicht gesehen, ich war nie Hirchcock Fan. Ich favorisierte französische Filme. Ich weiß nicht, ob mein Französisch in den zehn Stunden im Nordexpress durch die Lektüre von L'auberge de la Jamaique besser geworden ist, aber ich lernte auf jeden Fall eine Vielzahl von Synonymen des Wortes Nebel kennen. Die Paperbackausgabe habe ich immer noch.

Daphne du Maurier, die mit dem ein klein wenig unfähigen General Sir Frederic Browning verheiratet war (der hier schon in den Posts Militärisches Schuhwerk und Barett vorkommt), hat nicht nur Jamaica Inn geschrieben. Sie hat auch die Kurzgeschichte 🐓The Birds geschrieben, die Hitchcock für seinen Film benutzt hat. Die habe ich heute für Sie im Origialtext. Zu dem Film gibt es heute nichts, denn der hat schon einen Post, der  Vögel heißt. Aber sie können sich anschauen, was Hitchcock über Vögel zu sagen hat. Und zu Alfred Hitchcock gibt es noch mehr in diesen Posts HitchcockHappy Birthday, Vera Miles und Vera Miles

Zum Schluss habe ich noch ein kleines Haiku von Uli Becker aus seinem Band Frollein Butterfly, in dem er uns 69 Quickies zwischen Sehnsucht und Schweinigelei serviert, von denen ich mal eben (aus meinem numerierten Exemplar!) das auf Seite 73 zitiere:

Tun kein Auge zu
heut nacht vor lauter Vögeln,
Hommage à Hitchcock
.


Sonntag, 17. September 2023

Liebe, Ehebruch und Mord

Sieht so eine femme fatale aus? Als das Bild von dieser netten alten Dame aufgenommen wurde, erinnerte sich wahrscheinlich niemand mehr daran, dass sie einmal in  den Schlagzeilen der Zeitungen war. Das war im Mai des Jahres 1863, da war Jessie Peters fünfundzwanzig. Ihre Familie hatte sie gedrängt, ihren Cousin Dr George Peters zu heiraten. Der war fünfundzwanzig Jahre älter als sie und war schon dreimal verheiratet gewesen. Er war nie zuhause. Er war nicht nur Arzt, er vertrat auch als Senator den Staat Tennessee. Die junge Jessie langweilte sich, fühlte sich vernachlässigt. Und was nun kommt ist eine Geschichte von Liebe, Ehebruch, Eifersucht und Mord. Wir sind nicht in einem Roman, der Madame Bovary oder Effi Briest heißt, wir sind im amerikanischen Bürgerkrieg.

In den Südstaaten. Die sind anders als der Rest von Amerika. Die Ehre gilt da noch etwas. Mark Twain war in seinem Buch Life on the Mississippi der Ansicht, dass Sir Walter Scott an allem Schuld war: Sir Walter had so large a hand in making Southern character, as it existed before the war, that he is in great measure responsible for the war. It seems a little harsh toward a dead man to say that we never should have had any war but for Sir Walter; and yet something of a plausible argument might, perhaps, be made in support of that wild proposition. The Southerner of the American Revolution owned slaves; so did the Southerner of the Civil War: but the former resembles the latter as an Englishman resembles a Frenchman. The change of character can be traced rather more easily to Sir Walter’s influence than to that of any other thing or person. Es ist ein klein wenig übertrieben, aber an der Sache ist etwas dran. Es scheint heute unglaublich, aber die organisierten im Süden im 19. Jahrhundert noch Ritterturniere. Im Bürgerkrieg nehmen Südstaatenoffiziere Urlaub von der Front, weil sie zu Hause auf der plantation ein Turnier am Laufen haben. William Faulkners Großvater organisiert kurz nach Ende des Bürgerkrieges ein Turnier, um das Geld für ein Soldatendenkmal zusammen zu bekommen. Es ist kein Zufall, dass der Roman When Knighthood was in Flower zum Ende des Jahrhunderts in den Südstaaten ein Bestseller ist.  
  
Wir brauchen für die Tragödie von Ehebruch und Mord noch diesen Herrn. Das ist Earl Van Dorn (der heute vor 203 Jahren geboren wurde), er ist Generalmajor der Südstaatenarmee. Wahrscheinlich ihr fähigster Kavalleriegeneral. Er gewinnt seine Schlachten, das merkt auch Ulysses S. Grant, der Van Dorn seine einzige Niederlage verdankt. Der General Earl Van Dorn ist nicht nur ein Held auf den Schlachtfeldern, er ist auch ein großer Weiberheld. Und ein Trinker. Doch das sind im Bürgerkrieg viele Generäle, Van Dorns Gegenspieler Ulysses S. Grant ist ein notorischer Säufer. Aber da ist die Sache mit den Frauen, die sich ständig in den gut aussehenden General verlieben. Er sei the terror of ugly husbands and nervous papas, sagt man über ihn. Und das wird zu seinem Tod führen. Wenn er 1863 stirbt, dann stirbt er nicht im Kampf gegen die Nordstaaten. 

Der General wird von Jessie Peters Ehemann in seinem Hauptquartier Martin Cheairs House erschossen. Weil er die Finger nicht von der hübschen fünfundzwanzigjährigen femme fatale lassen konnte. Dr Peters wird vor Gericht gestellt, aber nicht verurteilt. Der Richter sieht keinen Grund für einen Schuldspruch, wir sind im Süden, da gilt die Ehre eines Mannes noch etwas. General Van Dorn is dead—being killed by a man whose peace he had ruined, notiert Captain John B. Jones im Hauptquartier der Konförderierten.

Jessie Peters bekommt 1864 eine Tochter namens Medora, alle vermuten, dass Van Dorn der Vater ist. Der in seiner Ehre verletzte Dr Peters lässt sich von Jessie scheiden, heiratet sie nach einigen Jahren aber wieder. Doch die Tochter darf nicht ins Haus. Später dann doch. Wenn sie erwachsen ist, heiratet sie und wird dreizehn Kinder haben. Einer ihrer Söhne wird Colonel der US Army, das wäre jetzt witzig, wenn er General wie sein Großvater geworden wäre. Wenn der Dr Peters 1889 stirbt, sitzt Jessie an seinem Bett. Sie wird dreiundachtzig Jahre alt werden. Was mich wundert ist, warum Hollywood aus dieser ganzen Geschichte noch keinen Film gemacht hat.

Mittwoch, 13. September 2023

The Art of Staying Young and Unhurt


Ich wusste nicht, wer Lena Swanberg war, aber der Titel der CD The Art of Staying Young and Unhurt gefiel mir, ich nahm die CD mit. Inzwischen weiß ich, dass dies ihr Debütalbum war. Drei Jahre davor hatte sie das Monica Zetterlund Stipendium bekommen, das bedeutet in Schweden schon etwas. Ich mag skandinavische Sängerinnen. Nina van Pallandt hat hier schon einen Post. Und Viktoria Tolstoy wird in den Posts Cantate und Lush Life erwähnt. Die große schwedische Jazzsängerin Monica Zetterlund hat hier natürlich einen Post, in dem die UrUrEnkelin von Leo Tolstoi auch erwähnt wird. Swanbergs erste Platte erschien 2012, es dauerte beinahe zehn Jahre bis sie eine zweite CD Sing me the news herausbrachte.

Swanberg, die klassische Musik an der königlichen Akademie in Stockholm studierte hatte, war in der Zwischenzeit nicht untätig gewiesen. Sie war Mitglied in Ann-Sofi Söderqvists Big Band ASJO und Söderqvist stellte sie 2016 bei der Jazz Baltica ganz groß heraus. Hier auf dem Photo ist sie 2018 bei der Jazz Baltica in Travemünde zu sehen. Da sang sie in dem Orchester von Hildegunn Øiseth, das war Frauenpower pur. Bei der Jazz Baltica 2019 war sie auch dabei. Lena Swanberg arbeitet auch mit Daniel Bingert zusammen, da singt sie jetzt Bossa Nova. Davon können Sie hier eine Stunde hören. Mit CDs sieht es auf dem Markt dürftig aus, aber man kann die Sängerin bei Amazon Music hören, wenn man das abonniert hat. Oder bei Facebook. Ich habe hier noch eine eine Stunde mit ihr aus dem Jazzklub Fasching in Stockholm. Oder aus dem Konzerthaus Stockholm.

Aber ich habe nach einigem Suchen noch mehr gefunden als Dream On, das auf ihrer ersten CD ist. Zum Beispiel diese Single mit dem wunderschönen Cover, die I nådens år heißt. Da singt sie Schwedisch, nicht Englisch, ich finde, in ihren schwedischen Liedern ist sie besser, authentischer. Ich habe das Lied I nådens år auf dieser Seite gefunden, auf der man mehr als zwanzig Songs von ihr hören kann, manche ganz, von manchen ein Häppchen. Und wenn Sie sehen wollen wie Lena Swanberg Viola spielt, dann klicken Sie das hier an.


Ich habe bei ebay das letzte Exemplar von The Art of Staying Young and Unhurt gekauft und es der Frau geschickt, die heute Geburtstag hat. Die kennen Sie, die taucht immer wieder in meinem Blog auf. Zuletzt in dem Post Literaturstadt Bremen. Sie hatte mit Happy Birthday hier schon mal einen Geburtstagspost; und in Jacqueline Bisset, wird sie erwähnt, weil sie am selben Tag Geburtstag hat wie Jacqueline. Auf die Geburtstagskarte habe ich geschrieben: Nimm den Titel der CD mal als guten Vorsatz: stay young and unhurt.


Samstag, 9. September 2023

Loyalisten

Der Maler John Singleton Copley ist am 9. September 1815 in London gestorben. Der bedeutendste amerikanische Maler des 18. Jahrhunderts war von Anfang an in diesem Blog. Copley ging 1774 nach England, weil er für sich dort bessere Berufsaussichten als in Boston sah. Die Bostoner seien entirely destitute of all just ideas of the arts, hat er gesagt. Er ist nie nach Amerika zurückgekehrt. Was er in seiner Jugend malte, war im höchsten Maße originell. Sie können hier das Buch John Singleton Copley in America lesen, es hat viele Bilder. Was er in England malte, wie dieses große Bild hier, war sicherlich perfekt, aber konventionell. Die einzige Ausnahme von der Konvention sind seine historischen Bilder wie The Death of Major Peirson, das zwei Jahre nach dem historischen Ereignis gemalt wurde. Das hatte es vorher nicht gegeben; der Amerikaner Benjamin West hatte mit dieser Malerei begonnen, als er den Tod des Generals Wolfe malte. Der Kunsthistoriker Fritz Baumgart hat in seinem Buch Vom Klassizismus zur Romantik die Malweise von Copley und West beschrieben als Bilder, die wie Aufnahmen für Filme von Cecil B. De Mille wirken: Hollywood avanti lettera, Popularisierung um jeden Preis. Lesen Sie mehr dazu in dem Post But we will paint for money!

Auch das Bild von Colonel William Fitch und seinen Schwestern Sarah und Ann Fitch im ersten Absatz hat etwas mit der neuesten englischen Geschichte zu tun. Als Copley das Bild malt, ist der Colonel schon tot. Gefallen in einem Hinterhalt der jamaikanischen Maroons, wie wir das hier auf einer Aquatinta nach einem Gemälde von F. J. Bourgoin sehen können. Wir sind im Second Maroon War, die Engländer haben jetzt fünftausend Mann auf Jamaika. Unser Colonel, frisch auf der Insel, hört nicht auf die Warnungen der Einheimischen und greift Trelawny Town an. Was mit seinem Tod und dem Tod seiner Soldaten endet. Sein Nachfolger im Amt, der Generalmajor George Walpole wird den Aufstand der Maroons beenden.

Wenn wir uns Copleys Bild genau anschauen, dann sehen wir, dass Ann, die ältere der beiden Schwestern, schon Trauer trägt, das ist jetzt aber keine symbolische Vorwegnahme des Todes ihres Bruders. Sie trägt Schwarz, weil ihre Eltern gerade gestorben sind, als Copley das Bild malt. Dass sie einen grünen Schirm in der Hand hält, passt vielleicht nicht zur Trauerkleidung, aber grüne Schirme sind gerade sehr chic. Die jüngere Schwester Sarah trägt weiß, weil sie in wenigen Monaten heiraten wird. Es war in der Mitte des 18. Jahrhunderts schon Mode geworden, dass junge Frauen nach der Verlobung weiße Kleider trugen. 

Die linke Hand enthüllt ihr Gesicht mit einer Geste, die Anthony van Dyke mehrfach verwendet hatte, es war eine Geste in antiquity to indicate a woman's chaste marital state. Benjamin West ist wie Copley Amerikaner und wird Hofmaler des Königs und Präsident der Royal Academy, beides wäre Copley auch gerne geworden. Beide Maler, die nach der Revolution nicht in ihre Heimat zurückgekehrt sind, haben viele loyalistische Emigranten als Kunden. Auch die Fitches kommen wie Copley aus Boston. Ihr Vater Samuel Fitch war der Advocate General der Massachusetts Bay Kolonie, er ist mit seiner Familie als Loyalist beim Beginn der Revolution nach London gegangen. In der Heimat gehörten die Fitches zur kolonialen Oberklasse, jetzt sind sie ein klein bisschen verarmt.

Aber die jungen Frauen wollen etwas von der Großstadt London haben. Copleys Enkelin wird viele Jahre später über die Fitch Schwestern schreiben: These ladies belonged to the class known as refugees,— persons who had seen more prosperous times under the colonial government; handsome, showy women, fond of company and gayety, but with scanty means of gratifying their taste. They delighted in going to London when their brother, at the head of his regiment, was stationed there. As they walked through the brilliant streets of the metropolis, attended by his servant, they attracted all eyes by their style and beauty. To Mrs. Copley's hospitable invitations they would gayly answer, 'We should indeed be delighted to accept, but alas! our scanty wardrobe hardly allows us to join your company.' They were sure, however, to appear fresh and elegant.

Sarah wird diesen jungen Mann heiraten, der hier auf Copleys Bild von William Vassal und seinem Sohn Leonard noch ein Kind ist. Leonard Vassall ist auf Jamaika geboren, wo sein Vater eine große Plantage besaß und gut an Zuckerrohr und Rum verdiente. Die junge Sarah Fitch heiratet einen Harvard Absolventen, der seine Familie finanziell unterhalten kann. Dank der Zuckerrohrplantage in Hanover auf Jamaika, die der Colonel William Fitch gegen die aufrührerischen Maroons verteidigen wollte. Die Maroons, die ein halbes Jahr für ihre Freiheit gegen die zehnfach überlegene englische Armee kämpfen, wird man nach Sierra Leone deportieren.

Die aus den amerikanischen Kolonien vertriebenen Loyalisten halten in London zusammen, auch wenn da etwas zweifelhafte Gestalten dabei sind. Und damit meine ich Peggy Shippen, die beste Freundin von Sarah Fitch Vasall. Wir können sie auch die Mata Hari der amerikanischen Revolution nennen. Sie wird schon in dem Post Verrat erwähnt, ebenso wie ihr Ehemann, der General Benedict Arnold. Der hat bei Saratoga, als er noch auf amerikanischer Seite kämpfte, einen Fuß verloren. Heute steht da ein steinerer Fuß, der an ihn erinnert. Peggy hat ihren General geheiratet, von den Summen, die die beiden vom englischen König bekommen haben, konnten sie gut leben. Wenn Peggy Shippen 1804 stirbt, wird sich ihre Freundin Sarah um den Nachlass kümmern.

John Singleton Copley hat das Bild der drei Fitches mit dem Pferd des Colonels begonnen. Pferde sind nicht so sein Ding, er nimmt sich dies Bild von Joshua Reynolds aus dem Jahre 1784, das den Prince of Wales zeigt, als Vorlage. Um sich der Sache mit dem Pferd sicher zu sein, hat Copley eine kleine Skizze (76 mal 63 Zentimeter) des Pferdes gemalt. Als Vorbild für den Colonel William Fitch, den Copley nie gesehen hat, nimmt er sich ein Bild von Thomas Lawrence, das auch aus dem Jahre 1784 stammt. Wenn er mit der rechten Häfte des Bilds fertig ist, kann er sich an die Darstellung der beiden Schwestern machen, die dafür nach London anreisen. Seine Ehefrau Susannah wird ihrer Tochter schreiben: Your father has been combating the unfavorable season for finishing the Misses Fitch's heads, which he accomplished two days since, to their and his own satisfaction; they have stayed in town till now for that purpose. They have taken a house thirty miles from London for one year, to which they set out this day. They are very agreeable; the more I know them, the more I esteem them. Mit der unfavorable season meint seine Frau den Ärger, den Copley mit dem riesigen Familienbild für Sir Edward Knatchbull hatte, von dem wir heute nur noch eine Skizze besitzen. 

Das Bild der Fitches, das die beiden Schwestern in Auftrag gegeben haben, ist auch ziemlich riesig, zwei Meter siebenundfünzig mal drei Meter vierzig groß. Es ist das größte conversation piece, das wir von Copley besitzen, da von dem Bild der Knatchbull Familie nicht viel übrig geblieben ist. Vom Bild zwar nicht, von der Familie schon, der dritte Earl Mountbatten of Burma trägt immer noch den Familiennamen Knatchbull. Die Schwestern werden das Bild nicht behalten. Nachdem es 1804 in der Royal Academy ausgestellt wurde, wird es zusammengerollt und nach Boston geschickt. Es ist ein Geschenk für ihren Onkel, den Chirurgen Dr James Lloyd, der hier von Gilbert Stuart portraitiert wurde (dieser Maler hat hier schon die Posts Gilbert Stuart und Dollarnoten). Copleys Ehefrau hat da auch noch gute Ratschläge parat, wie das Bild in der neuen Welt zu behandeln ist: Miss Fitch sent her picture to Mr. Lloyd. It went from this in very good order; should it, by being shut up, or by the dampness of the sea, contract a fog. It will only be necessary to have it well rubbed with a warm, soft handkerchief, which will restore the varnish. I mention this, as perhaps they may be at a loss, and apply to you for information.

Die beiden Schwestern werden sehr alt werden, Ann wird achtzig, ihre Schwester beinahe neunzig. Das Bild, das sie in Auftrag gaben, wird von den Nachkommen des Dr James Loyd der National Gallery in Washington geschenkt werden. Da hängt die in drei Teilen zusammengenähte riesige Leinwand immer noch. Man kann sie sich heute auch als Reproduktion ins Wohnzimmer hängen oder als T-Shirt kaufen. Eine schöne Interpretation des Gemäldes findet sich auf dieser Seite. Und der Katalog der Nationalgalerie, der bei mir im Regal steht, hat natürlich alle Daten und Fakten des Bildes. Ich habe den hier auch für Sie.


Noch mehr Copley gibt es in diesem Blog in den Posts: John Singleton Copley in EnglandJohn Singleton Copley: sharks & squirrels, hot potatoesHoya, 18th century: America,  But we will paint for moneySir William Beechey