Donnerstag, 28. September 2023

Inseln und Badewannen


Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen (hier auf dem Bild mit seiner Ehefrau Beatrice) wurde heute vor hundertzwanzig Jahren geboren. Seinen zweiten Vornamen hatte er sich zugelegt, als er zu schreiben begann. Dieses Vigoleis hat er sich aus dem Versepos Wigalois des Wirnt von Gravenberg genommen. Das schreibt er auch (selbstreferentiell wie die Literaturwissenschaftler sagen) in seinen ersten Roman hinein: Vigoleis? Und Vogel-F? Sie führen da einen romantischen Namen, wenn ich Sie recht verstanden habe, wohl ein Verwandter jenes Ritters von der Artusrunde […] Wigalois? Minnesang, 13. Jahrhundert, ich besitze die Benecke-Ausgabe […]„Verwandt […] artverwandt, ja, das bin ich schon mit der Gravenbergschen Gestalt“, – verschwieg aber, daß ich das Rad, welches mein Namensvetter als Helmzier auf dem Kopfe trug, im Kopf selbst hatte, wo es sich zuweilen so rasch dreht, daß mir schwindlig wird

Sein erster großer literarischer Erfolg war der autobiographische Roman Die Insel des zweiten Gesichts: Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis, der 1953 bei van Oorschot in Amsterdam und gleichzeitig bei Diederichs in Düsseldorf erschien. Der Roman verkaufte sich so gut, dass Diederichs noch im selben Jahr die sechste Auflage als Sonderausgabe herausbrachte. Wenn Sie den Titel anklicken, landen Sie bei Google Books, wo Sie viel von dem Werk lesen können. Siegfried Lenz, der Thelen einen epischen Zauberer nannte, hat über das Buch gesagt: Wenn ein Buch wirklich verdient, ein Ereignis genannt zu werden, dann dies. 

Es wird überall zitiert, dass der Roman eins der Lieblingsbücher Thomas Manns gewesen sei. Aber das stimmt nicht so ganz. Thelen hatte Thomas Mann, den er Ende der dreißiger Jahre in der Schweiz besucht hatte, ein Exemplar des Buches mit einem Brief geschickt: Sehr verehrter, lieber Herr Mann, ob ich auch weiss, dass Sie mit Briefen und Büchern aus aller Welt überhäuft werden, wodurch Ihnen selbst räumliche Nöte erwachsen (…), so wage ich es doch, Ihnen den ersten Band meiner “angewandten Erinnerungen”, ein pikareskes Memorial, zu schicken (…) – Ich erwarte natürlich nicht, dass Sie die 1.000 Seiten lesen, und wenn Sie mich fragen: ja, warum schickt er mir dann seinen Schmäucher überhaupt zu? dann möchte ich sagen, dass die “Insel” bei Ihnen in einem stillen Winkel auch ungelesen sehr gut aufgehoben ist. Als Dünndruckausgabe beschlägt sie nur 680cm3 , – oder ist das bei der Wohnungsnot unserer Welt doch noch zu viel? Mit ergebensten Grüssen der Ihrige ganz. 

Thomas Mann antwortete umgehend: Sehr verehrter Herr Thelen, Nehmen Sie vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen und Ihren merkwürdigen, bunten und krausen Roman, mit dem ich mich schon beschäftigt habe, den ich aber als Ganzes nicht gleich aufnehmen kann. Es strömt unsinnig viel Literatur herein, und meine Augen sind nicht mehr die alten, das heisst die eines Alten. Der Besitz Ihres Buches ist mir wert, und ich hoffe sehr, ihn mir bald ernstlich erwerben zu können. Bestens Ihr Thomas Mann. Wir wissen leider nicht, ob er den Roman von dem Mann, der in der Emigration auf Mallorca der Privatsekretär von Harry Graf Kessler war, ganz gelesen hat.

Im Erscheinungsjahr des Mallorca Romans wagte sich der fünfzigjährige Thelen zu einem Treffen der Gruppe 47 in Bebenhausen. Er hat es sein Leben lang nicht vergessen, wie er von Hans Werner Richter abgekanzelt wurde. Der Tag begann nicht gut, weil Richter schon beim Frühstück über die tausend Seiten Länge des Romans witzelte. Aber Thelen behielt die Fassung: Und dann beklettert Hans Werner Richter, der beklettert das Podium, es war eine Klettermöglichkeit da, er stand jedenfalls hinter seinem Pult und sagte den Leuten: Also jetzt liest ein unbekannter Mann – wie heißt er schon wieder? – und dann nimmt er den Zettel und hatte den Namen, und dann wurde ein paar Mal mein Name vom Zettel herunter gelesen. Und: Vollkommen unbekannt, also bitte kommen Sie nach vorne. Und das war mir alles übel, das war mir unangenehm, das war eine widerliche Angelegenheit. 

Aber Thelen klettert auch auf das Podium und liest. Eine Stunde lang, mit dem Anfang des Romans beginnend: Was ich gelesen hatte, war gut, meiner Meinung nach. Und dann geht der Werner Richter wieder ans Pult, lassen wir ihn ruhig noch mal klettern, da kletterte er wieder sein Pult rauf und geht dahin, und dann sagt er: Also gut, was wir da gehört haben, ist der Text eines umfangreichen Buches von dem und dem. Und das ist ein Emigrant, und dementsprechend ist das Emigrantendeutsch. Das muss natürlich, wenn so etwas je erscheinen sollte …” – da rief der Oorschot dazwischen (er verstand das so weit): “Erscheinen sollte? (…) Also das erscheint bei mir!” – Und da sagte der Richter: “… ja, das muss dann natürlich überarbeitet werden. Ein Jahr nach seinem Auftritt in Bebenhausen wird Thelen für seinen Roman mit diesem Emigrantendeutsch in Berlin den Fontane Preis erhalten.

Ich habe mich immer gewundert, dass ein zweitklassiger Schriftsteller wie Hans Werner Richter für die deutsche Nachkriegsliteratur so viel Bedeutung gehabt hat. Es gab an dem Tag aber auch zwei Schriftsteller, die Thelen trösteten und Richter öffentlich kritisierten, das waren Alfred Andersch und Martin Walser. Das mit dem Emigrantendeutsch war beleidigend und dumm. Denn wenn hier jemand lang und mäandernd erzählt, dann gibt es in der Geschichte des Romans schon Vorläufer dafür. Nämlich bei denen, die den Roman im 18. Jahrhundert erfunden haben: den  Engländern. Die englischen Autoren haben viel Zeit. Ihre Leser auch. Und so neigen die auktorialen Erzähler des Romans zu Digressionen. Wer heute über sein Mobiltelephon Kurzbotschaften versendet, neigt nicht zu Digressionen. Die wunderbaren Nebensächlichkeiten, die einen Erzähler wie Laurence Sterne nie dazu kommen lassen, zur eigentlichen Handlung zurückzukehren, haben mit dem 18. Jahrhundert nicht aufgehört. Wir finden sie auch bei Jean Paul wieder. Und bei Albert Vigolein Thelen.

Die Insel des zweiten Gesichts war nicht das erste Buch, das ich von Thelen las, mein erstes Buch war Der schwarze Herr Bahßetup. Das habe ich in einer Erstausgabe vor Jahrzehnten von meinem Freund Peter zum Geburtstag bekommen. Von ihm habe ich jahrzehntelang zum Geburtstag und zu Weihnachten immer Bücher bekommen, die mein Leben und mein Denken vorangebracht haben. Ich weiß nicht, wie er es hinkriegte, aber ich verdanke ihm sehr viel Bildung und sehr viele Leseerlebnisse. Das Buch um die Erlebnisse des schwarzen Herrn mit dem wunderbar seltsamen Namen, der im Hotel nach einer Badewanne verlangt und dessen Ausruf Bahßetup man für seinen Namen hält, habe ich gleich ein zweites Mal gelesen, als ich mit den 765 Seiten fertig war. Und so gerne ich in den kleinen Chor derjenigen einstimme, die Die Insel des zweiten Gesichts für ein großes Buch halten, ich mag den 1956 bei Kurt Desch erschienenen Roman eigentlich noch lieber. Zur Schande des Verlegers Kurt Desch muss leider gesagt werden, dass er - ohne mit dem Autor darüber zu reden - den Roman kurze Zeit nach dem Erscheinen verramschen ließ. Die Resonanz der Kritik war ihm zu mickrig. Da war kein Paul Celan, der une vraie œuvre d’art sagte und sein Exemplar der Insel mit viertausend Annotationen versah. Man hatte eine Fortsetzung von Die Insel des zweiten Gesichts erwartet, aber der Autor tat dem Publikum nicht diesen Gefallen. Thelen schrieb seinem holländischen Übersetzer Carel DinauxMach nicht den Fehler aller deutschen Kritiker, die mijn boeken als romans ‚hinstellen‘, en niets, wat ze minder zijn. ja, als roman gezien zijn ze zelfs slecht. het zijn memoires, en alle aangehaalde episodes zijn authen- tieke feiten, zoo moeilijk het de mensen ook soms mag worden, het te geloven.

Wo steht Albert Vigoleis Thelen heute? Der Literaturwissenschaftler Jürgen Pütz schreibt in Albert Vigoleis Thelen: Mittler zwischen Sprachen und Kulturen (das Buch ist hier im Volltext): Als ich unlängst in einem Werbeprospekt des S. Fischer Verlags den folgenden Satz von Marcel Reich-Ranicki las, war mir schlagartig klar, welche Aufgabe es in diesem und in den nächsten Jahren noch zu bewältigen gilt. Die Aufgabe, die von dem ehemaligen TV-Kritiker postulierte Literaturgeschichte in einem kleinen, aber entscheidenden Punkt umzuschreiben. Reich-Ranicki wird mit folgenden Worten zitiert: 'Ich glaube, die 'Buddenbrooks' sind der Höhepunkt des deutschen Romans überhaupt.' Ich hingegen glaube, dass die 'Buddenbrooks' ein sehr beachtliches Werk sind. Ein Werk, dessen Qualität außer Zweifel steht und das zu Recht zum festen Bestandteil des literarischen Kanons gehört. Es ist aber an der Zeit, den Kanon zu erweitern und die Scheinwerfer auch auf Werke zu richten, die in Qualität und Originalität den schon bekannten und etablierten Büchern in nichts nachstehen. Nur eines haben sie noch nicht erreicht, sie sind nicht in aller Munde. Ein solches Werk ist zweifellos 'Die Insel des zweiten Gesichts' von Albert Vigoleis Thelen. 'Selten schiebt einer auf der literarischen Kegelbahn alle neun Musen', schreibt Jean Paul in seiner Vorrede zur zweiten Auflage des 'Hesperus'. Mit seiner 'Insel ' wird Thelen wohl acht Musen erwischt haben.

Wir belassen es mal dabei. Im zweiten Jahr meiner Bloggertätigkeit schrieb ich hier den Post Albert Vigoleis Thelen, der mir sogar die Anerkenung der Albert Vigoleis Thelen Gesellschaft eintrug. Ich möchte noch unbedingt die Literaturzeitschrift Die Horen erwähnen, die über die Jahre beständig das Werk Thelens gewürdigt hat. Im Jahr 2000 erschien dort der 440-seitige Band Lauter Vigoleisiaden oder der zweite Blick auf Albert Vigoleis Thelen, zusammengestellt von Jürgen Pütz

Dessen Dissertation wurde 1990 unter dem Titel Doppelgänger seiner selbst. Der Erzähler Albert Vigoleis Thelen veröffentlicht. Er hat auch das schöne Buch Sie tanzte nackt auf dem Söller: Das Leben des Albert Vigoleis Thelen aus Texten von Thelen zusammengestellt. Wenn Sie Albert Vigoleis Thelen und seinen unnachahmlichen Stil kennenlernen wollen, dann sollte dies das Buch sein, das Sie zuerst lesen. Also bevor Sie sich mit Inseln und Badewannen beschäftigen. Es ist schön, dass Thelen immer wieder neu entdeckt wird. Auch außerhalb Deutschlands. 

Der amerikanische Professor Donald O. White hat für The Island of Second Sight 2013 den PEN Translation Prize bekommen; seine Übersetzung, an der er länger als ein Vierteljahrhundert gearbeitet hatte, erschien bei fünf englischen und amerikanischen Verlagen. Thelen hat noch Teile dieser Übersetzung lesen können, wie Donald White schreibt: „Ach, es geht so viel verloren!“ Also sprach Vigo selber, als ich ihn und Beatrice im Sommer 1986 in ihrer Viersener Wohnung zum zweiten und letzten Mal besuchte. Wie vor meinem ersten Besuch in Lausanne im Jahre 1980 hatte ich den beiden auch diesmal Kostproben meiner Übersetzung zur Durchsicht zugeschickt. Sie sprachen beide ihre Bewunderung aus für meine Arbeit, aber dennoch war es für sie ein Schock, als sie merkten, wie sehr viel von Thelens idiosynkratischer Leistung als Sprachkünstler bei der Übertragung in eine andere Sprache notgedrungen preisgegeben werden muss. Das muss man im Allgemeinen leider bemerken, auch und sogar bei Übertragungen zwischen Deutsch und Englisch, die trotz aller historischen Verwandtschaft einander schließlich so sehr ähnlich nicht sind. Dies gilt erst recht für Vigos wunderbar kaleidoskopisches Deutsch, das in seiner untergründigen Mischung aus Tiefsinn und Komik, aus Finesse und Parodie, sein unverwechselbares Gepräge besitzt. Es ist schade, dass der Mann, der vom Emigrantendeutsch gesprochen hat, diesen letzten Satz nicht mehr lesen kann.

Ich habe zum Schluss dieses Geburtstagsposts noch ein Gedicht von Thelen, das Letzter Wille heißt:

An meinem Grabe will ich keine Tränen, 
die hab ich alle selber schon geweint, 
um gegen eine Welt mich aufzulehnen, 
die ich en gros, nicht en detail verneint.

Ich bin nicht, was sie nennen lebensmüde, 
auch Schopenhauer ist nicht mehr mein Fall. 
Ich mach aus einer Weltschmerzattitüde 
kein pessimistisch Lebensideal.

Zwar hab ich dreimal mich entleiben wollen 
und ging dabei dreimal verflucht nicht drauf. 
Als Todverächter leb ich aus dem Vollen – 
ich war gefeit und gab es schließlich auf.

Legt mich ins Grab, so wie der Tod mich antrifft, 
mit Schlips und Schluffen, wenn es ihm gefällt. 
Blutüberströmt, wenn mich der letzte Bann triff 
im Autorasen einer Großstadtwelt.

Kein Leichenhemd! 
Ich muß mich drauf versteifen, 
und dito Waschung: einfach abgeschmackt,
noch an dem toten Fleisch herumzuseifen,
bevor mans zünftig in die Kiste packt.

Wenn ihr den Herzstich scheut, so schlagt doch eben 
den Kistendeckel doppelreihig zu,
denn sollte ich den Scheintod noch erleben,
dann gibt der Nägelmehrverbrauch die sichre Ruh.

Mit Seelenmessen soll man mich verschonen. 
Wer Francos heiligen Krieg gesehen hat,
sieht nicht mehr Gott in Gotteshäusern wohnen ... 
Nun hat mein Stundenbuch ein leeres Blatt

zu all den leeren mehr. Ach, Beatrice,
auch du hast seine Seiten nicht gefüllt.
Es füllt sie keiner, Buddha nicht noch Nietzsche, 
bevor das große Dunkel mich umhüllt,

das nackte Nichts der schwarzen Ewigkeiten, 
der vollen Schöpfung leere Gegenwelt,
die allen göttlichen Gewordenheiten
im Gegengöttlichen die Waage hält.

Natürlich werdet ihr den letzten Willen 
als faulen Zauber in den Ofen tun. 
Doch werde meinen ersten ich erfüllen: 
von diesem Erdenirrsinn auszuruhn.

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