Sonntag, 30. Juli 2023

Martin Walser ✝

Ich muss gestehen, ich mochte ihn. Er war so herrlich unangepasst. Legte sich ständig mit den Fuzzies vom Feuilleton an. Statt ihnen wie Harold Pinter zu sagen, dass Literaturkritiker wie einbeinige Weitspringer sind, die es aber immer wieder versuchen. Martin Walser hatte seine eigene Meinung, die manchmal überhaupt nicht politically correct war. Nicht so weichgespült, stromlinienförmig, teflonartig, wie neuerdings Autoren daherkommen. In seinen Tagebüchern von 1979 bis 1981 findet sich der Satz: Wenn einer schreibt, bis er stirbt, wenn er sich unmöglich benimmt, benimmt er sich richtig. Er hat sich daran gehalten, mit dem Schreiben und dem Benehmen. An das Ende eines Aufsatzes zu Robert Walser hat er einen Satz von Robert Walser gestellt, den er sicher für sich beanspruchte: Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich. 

Dass er jemanden wie Reich-Ranicki in einen Roman hineingeschrieben hat und dort sterben lässt, fand ich ziemlich albern, auch wenn er noch so sehr unter dessen Angriffen gelitten hat, wie man in seinen Tagebüchern nachlesen kann. Der Roman Tod eines Kritikers war noch nicht auf dem Markt, da urteilte Reich-Ranicki: Walser hat noch nie so ein erbärmliches Buch geschrieben. Warum den einbeinigen Weitspringer Reich-Ranicki aufwerten? Ich habe den ja an hier schon einmal beleidigt, und ich stehe dazu. Selbst wenn mir das manche Leser persönlich übelgenommen haben. You can't win them all. Walser hatte als Autor viele gegen sich, die FAZ  und die Bild Zeitung. Wahrscheinlich hätte ihm der Satz gefallen, den Flaubert 1872 an Turgenjev schrieb: Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; doch eine Flut von Scheiße schlägt an seine Mauern, so dass sie einzustürzen drohen.

Dass Walser einmal Ernst Jünger (von Basti Schweinsteiger ganz zu schweigen) gut fand, hat mich überrascht. Na ja, er war eben unberechenbar. Niemals everybody's darling. Was der Engländer Jeremy Clarkson für die Welt der Autos ist, ist Dr Walser für die Welt der Literatur. Und sie haben eben richtig gelesen, Martin Walser hat einen Doktortitel. Er hat seine Doktorarbeit über Franz Kafka geschrieben, die er bei der Hölderlin Koryphäe Friedrich Beißner 1951 einreichte. Dem hat er auch 1970 seine Rede Hölderlin zu entsprechen gewidmet. Im Abdruck in der Zeit findet sich noch der Satz: Meinem Lehrer, dem Hölderlin-Forscher Friedrich Beißner, gewidmet. Ich habe die Rede hier im Volltext.

Er ist nicht bei Kafka geblieben: Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Mit diesem charmanten Geständnis beginnt der sehr lesenswerte kleine Band Des Lesers Selbstverständnis: Ein Bericht und eine Behauptung. Der macht jedem Leser Mut, man kann auch ohne Kafka durchs Leben kommen. Ich hatte einmal eine schwere Kafka Phase, aber ich habe sie schnell überwunden. Sie hat mich nicht gehindert, andere Autoren wirklich zu lesenNachdem ich in Hamburg Walter H. Sokels Vorlesung über Kafka, Musil und Broch gehört hatte, habe ich meine schöne Vorlesungsmitschrift sorgfältig weggelegt, das war's. Ich habe später noch Klaus Wagenbach über Kafka gelesen, aber wenn ich eine Top Ten Liste der Literatur aufstellen sollte, Kafka wäre da nicht drauf. Aber so einfach wie ich hat Walser den unseligen Einfluss von Kafka nicht abschütteln können, noch sein erstes Werk Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten erinnerte alle Rezensenten an Kafka. Ein Kafka Schüler kämpft sich frei, schrieb Hans Egon Holthusen. Glücklicherweise für mich als Leser hat Walser dann aber irgendwann den Einfluss Kafkas abgestreift.

Martin Walser ist im Alter von sechundneunzig Jahren gestorben, das ist ein langes, erfülltes Leben. Ich habe einen Blick ins Bücherregal geworfen, wo Martin Walser friedlich und einträchtig neben Robert Walser steht. Er hat ja auch über seinen Namensvetter geschrieben und zum hundertsten Geburtstag von Robert Walser in Zürich eine Rede mit dem Titel Der Unerbittlichkeitsstil gehalten. Das weiß ich, weil ich die Schallplatte habe, die Suhrkamp 1978 herausgebracht hat. Die Rede (auch in dem Band Liebeserklärungen abgedruckt) provozierte offensichtlich keinen Skandal. Manche seiner Reden schon. Man überlegte es sich zweimal, ob man ihn einladen sollte, pflegeleicht war er ja nicht. Was war dem Stiftungsrat, der Walser 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen hat, eingefallen, als man den Herrn Dr Schirrmacher für die Laudatio auswählte? Schirrmacher, der Walser, wie sein Vorgänger bei der FAZ Reich-Ranicki, immer wieder attackiert hat, hat wie Walser über Kafka promoviert. Allerdings hat sein Doktortitel einen sehr, sehr faden Beigeschmack. Die Dissertation war zuerst eine Magisterarbeit und wurde von Frank Schirrmacher in kürzester Zeit - also in der Zeit, in der Stendhal La Chartreuse de Parme geschrieben hat - zur Dissertation umgeschrieben. Und an einer anderen Uni eingereicht. Seriöse Universitäten würden dieses Verfahren nicht akzeptieren.

Die Rede Walsers geriet in der Presse zum Skandal, erschien als so etwas wie die Jenninger Rede oder das Gedicht Was gesagt werden muss von Günter Grass. Weil er gesagt hat: Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft? Am besten beschrieben hat die Rede und die nachfolgende Debatte Jan Philipp Reemtsma in der TAZ, es lohnt sich, das zu lesen. Reemtsma zitiert da auch aus einem Gespräch von Walser mit Ignatz Bubis, die Sätze: Wissen Sie, was Sie einmal gesagt haben, Sie haben gesagt, der Walser will seinen Seelenfrieden. Hätten seine Vorfahren dafür gesorgt, dass die Juden nicht umgebracht wurden, hätte er seinen. Herr Bubis, das sage ich Ihnen: Ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie. Und wie ich ihn kriege, das ist in mir, das ist mein Gewissenshaushalt. Und da lasse ich mir von niemandem, auch nicht von Ihnen, dreinreden. Oder ich pfeife drauf, dann schenke ich es Ihnen

Ich habe zentimetermäßig mehr Bücher von Martin Walser als von Robert Walser, was wohl daran liegt, dass Martin Walser mehr geschrieben hat. Beängstigend viel. Da war er wie sein amerikanischer Kollege John Updike. Aber ich muss natürlich auch sagen, wo ich eben den Zollstock aus der Hand gelegt habe, dass man Robert Walser nicht nach Zentimetern messen kann. Martin Walser wahrscheinlich auch nicht, nicht alles, was er schrieb, ist wirklich gut. Robert Walser hat aber definitiv den besseren Wikipedia Artikel. Der Martin Walser Artikel zeichnet sich dadurch aus, dass er wenig über den Schriftsteller Walser sagt, aber alles über die öffentliche Person MW. Ja, wir haben schon unsere Schwierigkeiten mit einem Schriftsteller wie Walser. Statt ihn zu lesen und über sein Werk zu reden, stellen wir doch erst einmal solche Verdächtigungen in den Raum wie: DKP, Antisemit, Nazi. Wird die Rezeption eines Schriftstellers heute schon von der Bild Zeitung orchestriert? Die Literaturkritik ist hierzulande ja leider auf keinem hohen Niveau. Das Erstaunliche ist, dass Luschen wie Raddatz, Reich-Ranicki, Karasek und Schirrmacher bei uns für Koryphäen der Literaturkritik gehalten wurden. Es ist ja eine Tragödie für den Kulturteil der FAZ gewesen, dass sie einen so hervoragenden Mann wie Karl Heinz Bohrer hat gehen lassen und statt seiner Reich-Ranicki und dann Schirrmacher einstellte.

Ich besitze nicht nur viele Romane von Martin Walser (und sein Theaterstück Das Sofa), ich mag auch den Literaturkritiker Martin Walser. Weil er so vernünftig ist. Und Eigenschaften hat, die man sonst eher bei anglo-amerikanischen Kritikern findet: Sachkenntnis, common sense und Humor. Er ist einer der ganz wenigen gewesen, der schon früh die Qualität des Werks von Albert Vigoleis Thelen erkannt hat. Walsers kleine Schrift Des Lesers Selbstverständnis (auch in dem Band Zauber und Gegenzauber enthalten) kann ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen, ich habe sie hier im Volltext. Walser schreibt da, dass er über seine Wirkung als Schriftsteller überrascht war: Inzwischen bin ich Adressat von Schülerpost und erfahre so, daß im Deutschunterricht Schülerinnen und Schüler darin geübt werden, die Bedeutung von Büchern zu entdecken, die ich geschrieben habe. Der Lehrer weiß offenbar die Bedeutung, darf sie aber den Schülern nicht sagen. Ich weiß, meinen die Schüler, die Bedeutung. Findige Schüler rufen mich abends an oder schreiben mir.

Ebenso zu empfehlen ist die wunderbare Beschreibung seiner Entdeckung von Hölderlin in einem zerfledderten Bändchen auf dem Dachboden, die Hölderlin auf dem Dachboden heißt (in dem Suhrkamp Band Erfahrungen und Leseerfahrungen). Er schreibt da über Holderlins Gedicht HeimkunftDas ist wahrscheinlich die Wirkung gewesen: das Gedicht als Baedeker, und dann die Entdeckung, daß die Dinge Schatten werfen, zurück in die Vergangenheit und irgendwohin, wo man lediglich mit Ahnungen tasten kann, heute weiß man, daß es die Zukunft war. Auch die drei Seiten über Leslie Fiedler (Mythen, Milch und Mut) sind nicht zu verachten, und ich wäre dankbar gewesen, wenn ich schon vor einem halben Jahrhundert Walsers Leseerfahrungen mit Marcel Proust entdeckt hätte. Wo sich solch ein Satz findet: Mir ist in einer solchen Situation einmal eingefallen, daß ich, wenn Proust ein Industrieartikel wäre, zu dem Slogan raten würde: Proust-Leser sind im Vorteil. 

Der Bodensee war seine Heimat, den hat er in die Literatur hinein geschrieben. Auf die Frage, was ihm der See bedeutete, in dem er bis ins hohe Alter schwamm, hat er geantwortet: Lebenslänglich. Wie eine Strafe, aber das Gegenteil. Aber lebenslänglich. Über seine Heimat hat er immer wieder geschrieben, Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit, sagt er 1968 in seinem Essay Heimatkunde. Die Journalistin und Schriftstellerin Susanne Klingenstein, die den Bodensee in ihrer Jugend kennengelernt hatte, hat Walser auf einer Lesereise begleitet. Und dann das Buch Wege mit Martin Walser: Zauber und Wirklichkeit veröffentlicht. Über die Bodenseelandschaft hat sie in einem Interview gesagt: Die Intensität, mit der man hier lebt. Wie stark die Menschen mit dem Land und der Sprache verbunden sind. Wie stark die Landschaft Literatur geworden ist. Als der Kunsthistoriker Kurt Badt, der in Bodman lebte, 1940 ins Exil ging, schrieb er aus dem Gedächtnis eine Kulturgeschichte des Bodenseeraums, um sein Heimweh zu bezwingen. So stark wirkt der See. Martin Walser hat aus einem Lebensgefühl große Literatur gemacht, wie Proust, wie Faulkner, und das hat mich völlig in Bann geschlagen. Dass sie den Kunsthistoriker Kurt Badt erwähnt, der keine Stelle an einer deutschen Universität bekam und Obstbauer am Bodensee wurde, bevor er nach London ins Exil ging, finde ich sehr interessant. Über den hätte Walser ja einmal schreiben können, denn Badts im Exil geschriebenes Buch Mir bleibt die Stelle lieb, wo ich gelebt: Erinnerungen an den Bodensee ist vielleicht die erste literarische Liebeserklärung an die Seelenlandschaft Bodensee.

Er war der letzte deutsche Großschriftsteller, mit ihm geht die literarische Welt der alten Bundesrepublik endgültig unter, sagt die Welt. Das Wort groß haben beinahe alle Nachrufe im Feuilleton benutzt, aber sie meinen damit nicht großartig, sondern die Zahl der Bücher. Das Wort Großschriftsteller besagt wenig, Karl May war ein Großschriftsteller. Und selbst Balzac war nicht immer großartig. Ich habe nicht alles von Walser gelesen, vielleicht habe ich etwas verpasst. Aber einen wirklich großen Roman suche in in meinem Bücherregal vergeblich. Also so etwas wie Die Rote von Andersch oder Ein weites Feld von Grass. Als ich Ende der sechziger Jahre Ehen in Philippsburg las, merkte ich mir den Namen des Autors, hatte aber nicht das Gefühl, dass hier eine Revolution der deutschen Literatur bevorstand. Ehebruchsromane gibt es genug, und an Flauberts Madame Bovary, Tolstois Anna Karenina und Fontanes Effi Briest kommt Walser nicht heran. Ich schätze Walsers Tagebücher, seine Essays zur Literatur, alles Autobiographische, aber über die Qualität der Romane bin ich mir nicht sicher. Obgleich ich Brandung gelungen fand. Aber ich bin eine Minderheitsmeinung, ich bin nicht Reich-Ranicki. Glücklicherweise nicht. Wenn ich mit Sprache zu tun habe, bin ich beschäftigt mit der Verwaltung des Nichts. Meine Arbeit: Etwas so schön sagen, wie es nicht ist, so hat Walser einmal sein Schreiben charakterisiert. Das lassen wir mal so stehen.

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