Sonntag, 28. November 2021

Kohl und Pinkel


Falls Sie sich jetzt an dem Wort Pinkel im Titel stoßen sollten, in Bremen heißt das Bremer Nationalgericht wirklich so. Und da es heute Mittag bei mir Grünkohl gibt, habe ich mich entschlossen, meinen Lesern noch einmal diesen Post aufzutischen, der schon häufig hier stand. Wenn Sie den Post lesen, wissen Sie alles über Kohl und Pinkel. Ein Gericht, das in Norddeutschland traditionell zwischen Buß- und Bettag und Gründonnertag gegessen wird, und das schon mal in der Diskussion war, zum immateriellen Kulturerbe erklärt zu werden.

Grünkohl für Holland heißt ein Theaterstück von Otto Jägersberg. Der Autor hat sich mal vor dem Straßenschild der gleichnamigen Kieler Straße Jägersberg photographieren lassen und dann scherzhafterweise behauptet, sie sei nach ihm benannt. Kann man noch auf Diogenes Paperbacks aus den siebziger Jahren sehen. Ich habe alles gekauft, was Otto Jägersberg geschrieben hat, habe es gelesen und im Regal stehen. Das habe ich nur von wenigen deutschen Autoren gemacht, die mein Leben begleitet haben: Rolf Dieter Brinkmann, Uli Becker und Arno Schmidt. 

Arno Schmidt hat nette Dinge über den ersten Roman von Jägersberg gesagt, und wenn Diogenes einen als Autor nimmt, dann kann man nicht ganz schlecht sein. Jägersberg (Bild) ist so alt wie ich, er kommt aus Westfalen. Wie Uli Becker. Und die Gegend, wo Brinkmann herkommt, ist ja eigentlich auch schon Westfalen. In Jägersbergs ersten Romanen habe ich in Diktion und Akzent die ganze Verwandtschaft von Opa wieder reden hören. Irgendwann hat Jägersberg aufgehört zu schreiben, er hat noch Drehbücher geschrieben und ich habe mal im Nachtprogramm des Fernsehens einen Film über Mode von ihm gesehen. Aber er schreibt leider nicht mehr so tolle Dinge wie Weihrauch und PumpernickelNette Leute oder Grünkohl für Holland. Das hat er selbst fürs Fernsehen inszeniert, die ARD hat es am 5.6.1973 um 21 Uhr gezeigt. Das war ein Dienstag, ich weiß das noch, weil ich mir in jener Woche am Freitag beim Fußball den Daumen gebrochen hatte.

Grünkohl für Holland gehört mit zwei anderen Stücken zu einem kleinen Band, der Cosa Nostra: Drei Stücke aus dem bürgerlichen Heldenleben, heißt. Die Stücke haben viel gemeinsam, aber nur in einem wird über Grünkohl geredet. Die da reden, haben keine Namen, sie heißen SIE und ER. Eigentlich haben sie eine Ehe- und Lebenskrise, aber sie reden die ganze Zeit über übers Essen. Das absurde Theater hat die deutsche Küche erreicht. Das Stück ist eine Kreuzung aus Beckett und Loriot. Der wird das sicher gelesen haben, denn sein Schwiegersohn ist der Cheflektor von Diogenes. Jägersberg hatte der Verlagschef Daniel Keel schon Anfang der sechziger Jahre entdeckt und sofort Weihrauch und Pumpernickel: Ein westpfählisches Sittenbild auf den Markt gebracht, wahrscheinlich auch deshalb, weil ihm Arno Schmidt diesen lobenden Brief geschrieben hat. 

Die großen Fragen der Menschheit, die in Grünkohl für Holland behandelt werden, sind Leitsätze für jeden Grünkohlliebhaber in Bremen. Dass Holländer keinen Grünkohl anbauen können und dass der Kohl den ersten Frost gehabt haben muss, damit er so richtig knackig ist. Beides stimmt wahrscheinlich nicht, aber man gibt seine Vorurteile ungern auf. Hier reden zwei Menschen in der Küche über Tomatenmark, Paprika, Rosenkohl, Käse und Bratkartoffeln, aber eigentlich reden sie über etwas anderes. Dies ist die Vorwegnahme von Unterhaltungen von Yuppies, deren Leben so inhaltsleer ist, dass sie nur noch die Namen von angesagten Lokalen austauschen können. Die amerikanische Soziologin Deborah Silverman schilderte auf dem Höhepunkt dieses Unwesens eine Gesprächsrunde, bei der der New Yorker Gastgeber (dem das stundenlange Aufzählen von Insiderlokalen zu blöd wird) den Namen Proust ins Gespräch bringt. Die Gäste halten das für ein neues angesagtes Lokal.

Der Ehemann in Jägersbergs Theaterstück schwärmt vom Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, wo er 1957 diesen tollen Grünkohl gegessen hat, seine Frau hat die Geschichte schon tausendmal gehört, wie alle seine Geschichten. Im Graf Anton Günther haben wir häufiger gegessen. Wenn man in Oldenburg ist, muß man da einfach essen. So wie man in Bremen damals ins Essighaus ging, wenn man fein essen wollte. Ansonsten ist der gastronomische Tourismus in den fünfziger Jahren noch nicht ausgebrochen. Das einzige Lokal von einer gewissen Berühmtheit ist der Blaue Fasan in Wiesmoor. Und im Fernsehen gibt es damals noch keine dreißig Kochsendungen, sondern bestenfalls den Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, der allerdings nur Schauspieler war und niemals Koch gelernt hatte. Das Hotel in Oldenburg, das nach dem berühmtesten Landesherrn heißt (der sein Land aus allen Wirren des dreißigjährigen Krieges herausgehalten hat), ist alt und hat Butzenscheiben. Und ein großes Fresko aus dem Jahre 1894 vorne an der Wand, das den Grafen auf seinem Lieblingspferd Kranich zeigt.

Aber Grünkohl haben wir da nie gegessen, den isst man am besten bei Muttern zu Hause oder auf einem Grünkohlausflug. Der führt uns immer mit den Familien der Skatklubgruppe nach Bookholzberg am Rande des Hasbruch. Und da sitzen dann fünf Familien mit Kind und Kegel an langen Tischen und essen Kohl und Pinkel. Letzteres verwirrt Nicht-Bremer immer sehr. Laut dem Bremisches Koch- und Wirthschaftsbuch von der Pädagogin Betty Gleim mit dem barocken Untertitel: enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände Gut zubereitet. Für junge Frauenzimmer, welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben enthält die Pinkelwurst Hafergrütze, Nierenfett, Zwiebeln, Pfeffer und Salz. Diese Masse wird in den Pinkeldarm (den Mastdarm des Rindes) gefüllt und (mit dem Kohl gekocht) als Beilage zum Grünkohl serviert. Zusätzlich zu Kassler Rippenspeer, durchwachsenem Speck und Kochwurst. Die Fleischbeilagen können in Norddeutschland regional etwas anders ausfallen, in Emden kriegt man keinen Pinkel zum Kohl. Die Kartoffeln, die dazu gereicht werden, sind häufig in Zucker glasiert oder Röstkartoffeln. Meine Mutter wirft beim Kochen immer noch einen Esslöffel Zucker in den Kohl, ich einen kleinen Löffel von Händelmeiers süßem bayrischen Senf.

Dazu muß man natürlich Bier (in Bremen trank man gerne ein Remmer) und Doppelkorn trinken, etwas anderes geht nicht. Für ständigen Nachschub an Kohl, Kartoffeln und Fleisch sorgen die Kellner, die immer wieder ungefragt Schüsseln auf den Tisch stellen. Kohl und Pinkel satt heißt es in den Werbeanzeigen, die man jetzt in jeder Zeitung lesen kann (die erste ist 1843 in den Bremer Nachrichten belegt). Dennoch, die Fleischbeilagen können so satt sein wie sie wollen, wenn es mit dem Kohl nicht stimmt, dann fährt man da im nächsten Jahr nicht wieder hin. Wer am meisten essen kann, wird Kohlkönig. Manche Vereine auf Kohl- und Pinkelfahrt bringen eine Waage mit, auf der die Vereinsmitglieder vor und nach dem Essen gewogen werden. Das ist alles schon streng ritualisiert. Diese Kohl- und Pinkelfahrten gibt es in Norddeutschland (sprich Bremen, Oldenburg und Ostfriesland) seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aus einer solchen Fahrt ist 1829 die Bremer Eiswette hervorgegangen. Anfänglich hatten sie auch den Namen Langkohlpartien und waren eine reine Herrengesellschaft der besseren Gesellschaft. Der Schriftsteller Eduard Beurmann (der Bremen wegen einer Liebesaffaire verlassen musste) schreibt 1836 etwas boshaft über die Bremer:

Gott! Ein bremischer Tabak- oder Weinreisender würde er nicht an den Quellen des Nils, in Is-und Lappland als Bremer zu erkennen seyn? Er würde dem Vicekönig von Egypten die Bremer Cigarren vor dem türkischen Rauchtabak anempfehlen, dem Isländer würde er 'Pinkeln' und Braunkohl anpreisen, dem Lappen würde er den Bremer Wallfischthran rekommandieren ... wie er im Winter, beim Anblick der Schweizer Gletscher, ausrufen möchte: 'Es flimmert und glänzt wie Silber, aber der Braunkohl von Bremen wächst nicht unter dem Schnee der Gletscher, und wenn ich jetzt in Bremen wäre, ich würde eine 'Langkohlparthie' nach Horn mitmachen.' 

Die Langkohlpartien werden zunehmend demokratisiert, auch Frauen werden zugelassen und irgendwann sind sie etwas, was jeder in Bremen einmal im Jahr macht. Obgleich der braune Langkohl des 19. Jahrhunderts, von dem die Bauern die unteren neunzig Prozent an das Vieh verfütterten, gar nicht mehr angebaut wird. Angeblich sagt man in Oldenburg Grünkohl und in Bremen Braunkohl, aber das kann ich nicht bestätigen, weil ich in Bremen noch nie jemanden Braunkohl habe sagen hören. Da, wo Opa herkommt, heißt das Zeug etwas ironisch Lippische Palme. Diese Kohlsorte ist im Übrigen sehr alt, schon die alten Römer haben sie gekannt. Die Oldenburger und Bremer streiten sich immer darüber, wer das Gericht als erster auf den Tisch gebracht hat. Da siegen die Bremer ganz einwandfrei: seit 1545 steht Kohl und Pinkel auf der Speisekarte der Schaffermahlzeit. In diesem Jahr ist die Schaffermahlzeit ausgefallen, ob sie im Februar 2022 stattfindet, das weiß niemand.

Aus den Langkohlpartien werden die Kohl- und Pinkelfahrten, raus aus Bremen, rein in die Landgasthöfe der Umgebung. Die haben im Januar und Februar Hochsaison. Diese Fahrten werden von Kegelklubs, Schützenvereinen, Fußballvereinen, Lehrerkollegien und Betrieben gemacht und sind aus dem Bremer Leben im Januar und Februar (wenn der Kohl schön knackig angefroren ist) nicht mehr wegzudenken. Sogar die Wissenschaft hat sich schon auf sie gestürzt. Seit dem Jahre 1988 gibt es eine Doktorarbeit mit dem schönen Titel Kohl- und Pinkelfahrten: Geschichte und Struktur einer Festzeit in Norddeutschland, die soziologisch volkskundlich alles über diesen Brauch enthält. Einschließlich ausgewerteter Fragebögen von hunderten von Teilnehmern. Ich weiß nicht, ob der Verfasser Martin Westphal an der Uni Münster zum Dr. phil. promoviert wurde oder ob er Dr. kohl ist. Die Arbeit hat seiner Karriere nicht geschadet, er ist heute der Leiter des Historischen Museums in Rendsburg. Sein Buch gehört zu den am häufigsten angefragten Titeln in der Bibliothek der Oldenburger Grünkohl-Akademie. Auch so was gibt es, die Nordddeutschen nehmen ihren Grünkohl schon sehr ernst.

Auch bei uns am Tisch ist das Essen eine ernste Sache, alle Teile des Gerichtes werden sachkundig kommentiert und mit anderen Kohl-und Pinkelgerichten verglichen, die man irgendwann irgendwo gegessen hat oder selbst gekocht hat. Jedes Jahr werden wieder Rezepte ausgetauscht, an die sich aber niemand hält. Butenbremer, die jetzt schon studieren, bekommen von ihren Eltern Pinkelwurst an den Studienort nachgeschickt, außerhalb Bremens kriegt man vielleicht Kohl, aber keinen Pinkel. Nach dem Essen gehen wir erstmal stundenlang im Hasbruch spazieren, das ist besonders schön, wenn der Boden gefroren ist und Schnee liegt. Wenn der Boden vom Regen naß und matschig ist, kann man den Hasbruch vergessen. Das ist nämlich ein echter Urwald. Tausendjährige Eichen. Die vierhundertjährigen Franzosenbuchen mussten gerade gefällt werden, weil sie eine Gefahr für Spaziergänger darstellten. Nach dem Verdauungsspaziergang geht es wieder zurück in den Gasthof für Kaffee und Kuchen, es ist eigentlich unglaublich, dass der Magen schon wieder aufnahmefähig ist. Wenn die Kegelbahn frei ist, kegeln wir vorher alle noch eine Runde.

Mittlerweile sind die Tische umgestellt worden, eine Tanzfläche wurde freigeräumt. Eine Kapelle ist erschienen und spielt langsame Tanzmusik. Dicke Bäuerinnen mit Strickjacken überm Kleid tanzen miteinander, ihren Kerl kriegen die jetzt nicht mehr vom Tisch hoch. Nachdem der Kaffee und Kuchen und fett Sahne intus hat, fängt er an Konjäckchen zu schnasseln. Den Asbach lass’ mal gleich hier auf dem Tisch stehen, sagt er gönnerhaft zur Serviererin. Danach wird es bei den meisten Festivitäten gemischt, wie man so schön sagt. Auch das hat Dr. Westphal untersucht. Wir bekommen davon aber nichts mit, weil wir alle wieder in unsere Limousinen gestiegen sind und auf dem Weg nach Bremen sind. Aber für viele ist das jetzt der Ersatz für Karneval. Geben auf dem Fragebogen von Westphal viele an. Es gibt auch einen Fragebogen für das Personal, wo auch Fragen nach alkoholisierten Übergriffen der Gäste auf weibliche Bedienstete drinstehen. Der Doktor, der seinen Titel den Kohl- und Pinkelfahrten (KPF) verdankt, hat an alles gedacht. Ist natürlich scheinwissenschaftlicher Tüddelkram. Wenn man einmal eine KPF bis zum bitteren Ende mitgemacht hat, dann weiß man, wie das läuft. 

Die Gattin in Jägersbergs Theaterstück, die die Geschichte mit dem Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, mit dem besten Grünkohl aller Zeiten und dem Frost, den der Kohl braucht, um knackig zu werden, schon tausendmal gehört hat, hat diesmal im sanften Ehekrieg etwas Neues. Grünkohlflöhe. Hat ihr der Gemüsehändler gesagt, der Kohl braucht den Frost, damit die Grünkohlflöhe absterben. Grünkohlflöhe, ich werde wahnsinnig, sagt der Mann. Die Dialoge werden lauter. Sie schreit Wenn Du immer mit Deinem Grünkohl anfängst, und Dein blöder Grünkohl. Am Ende, nach ein paar gehässigen Bemerkungen über die Langsamkeit der Holländer scheinen sie wieder versöhnt. Es könnte jetzt aber auch ein Mord passieren. 

Donnerstag, 25. November 2021

Schweizer Oberhemden

Als die Bremer Baumwollbörse vor über hundert Jahren gebaut wurde, sah sie noch etwas anders aus, auf dem Turms des Kontorhauses war noch eine gotische Spitze. Der Entwurf des Gebäudes stammte von Johann Georg Poppe, der neben Heinrich Müller der berühmteste Architekt Bremens war. Müller, der auch die Bremer Börse am Markt baute (heute das Gebäude der Bürgerschaft), war schon einmal in diesem Blog, weil er in Vegesack die Villa Fritze gebaut hat. 

Der protzige Bau der Baumwollbörse, in dem die gleichen Geschäfte gemacht wurden wie in New Orleans auf diesem Bild von Degas, wies schnell Mängel im Material auf und bekam in den 1920er Jahren eine neue Fassade. Diesmal aus dem Wesersandstein der Obernkirchener Sandsteinbrüche; aus diesem Stein waren schon Jahrhunderte zuvor das Ratshaus und der Schütting gebaut worden. Und das Gewerbehaus und der Sockel des Rolands. Die Renovierungsarbeiten wurden dem Architekten Otto Blendermann übertragen, der hier schon einen Post hat und auch in dem Post Hohehorst vorkommt. Man will das Gebäude jetzt modernisieren, es hat eine Ausschreibung gegeben, aber so richtig glücklich ist man mit den preisgekrönten Entwürfen nicht.

Die Bremer Baumwollbörse beherbergt den gleichnamigen Verein, der die Wahrung und Förderung der Interessen aller am Baumwollhandel und an der Erstverarbeitung von Baumwolle Beteiligten zum Ziel hat. Seit dem Jahre 1906 sitzt ein Vertreter des Schweizer Spinner-, Zwirner- und Webervereins im Vorstand der Bremer Baumwollbörse. Das ist noch heute so, Peter Spoerry, dessen Familie seit 150 Jahren Baumwolle webt, ist eins der Bremer Vorstandsmitglieder. Hier ist er beim Betrachten von Baumwolle, nicht etwa im schweizerischen Glarus, sondern in der Karibik. 

Weil die Firma Spoerry da eine Plantage hat und unbestritten der Weltmarktführer bei West Indian Sea Island Cotton (WISIC) ist. Das ist nun das Feinste vom Feinsten, weil die Fasern der WISIC Baumwolle länger sind als die der feinsten Giza Baumwolle. Die meisten Sea Island Hemden, die auf dem Markt angeboten werden, sind allerdings nicht aus Sea Island Cotton, sondern aus ägyptischer Baumwolle. Peter Spoerry steht mit seiner Fabrik gut da, was man von seiner Konkurrenz, der Alumo AG, im Augenblick leider nicht sagen kann.

Denn die ist gerade von der Firma Cilander übernommen worden, der schon vorher Teile der Alumo gehört haben. Cilander veredelt Baumwolle und ist schon seit dem 19. Jahrhundert im Geschäft. Alumo, 1918 gegründet, hieß zuerst nach seinen Gründern Albrecht und Morgen, daraus wurde dann AluMo. Die Firma stellt nach eigenen Angaben die besten Baumwollstoffe der Welt her. Ich habe die Firma schon in dem Post englische Oberhemden erwähnt, weil Emma Willis auf den Stoff von Alumo schwört. Und auch italienische Luxusfirmen wie Finamore weisen darauf hin, dass der Stoff ihrer Hemden von Alumo kommt. Cilander und Alumo, das bedeutete bisher eine problemlose Kooperation, aber jetzt hat Cilander beschlossen, die Weberei in Appenzell aufzugeben. Fortan wird in Ägypten gewebt, in das Gebäude der Appenzeller Weberei wird wahrscheinlich ein Supermarkt einziehen. Die umtriebige Chefin von Alumo, Sandra Geiger, wird jetzt Schwierigkeiten haben, ihre Produkte mit dem Gütesiegel Swiss Made zu verkaufen. Und Parties wie die zum hundertjährigen Bestehen der Firma wird es wohl erst einmal nicht mehr geben.

Dass die Schweiz zu einem Zentrum der Seiden- und Baumwollweberei wurde, hat etwas damit zu tun, dass Ludwig XIV das Edikt von Nantes widerrufen hat und hundertausende von Hugenotten Frankreich verlassen, die Schweiz wird zu einem Asylland. Brandenburg auch, wo der Große Kurfürst das Edikt von Potsdam erlässt, die calvinistischen Glaubensflüchtlinge werden ihm Preußen aufbauen. Es sind nicht nur diejenigen, die mit Tuchen und Stoffen umgehen können, die in der Schweiz eine Industrie begründen. Wären die Hugenotten nicht gewesen, dann hätten die Schweizer wohl keine Uhrenindustrie. Der aus Frankreich geflohene Industrielle Daniel Vasserot gründet in Genf die ersten Webereien. Und auch die Kattun- und Calicodruckerei siedelt sich hier an. Um 1720 gibt es in Genf schon sieben Fabriken, die bedruckte Baumwolle (auch Indiennes genannt) herstellen. 1785 wurde das Werk Fabrique-Neuve in Cortaillod, Neuchâtel, der größte Hersteller von Indiennes in Europa. Es produzierte damals 160.000 der bunt bedruckten Stoffbahnen im Jahr. Der schöne Stoff auf diesem Bild wurde wohl um 1800 in Neuchâtel gewebt.

Von Schweizer Oberhemden war bisher noch keine Rede, die kommen aber noch. Zuerst kommen Taschentücher, Bett- und Tischwäsche und Trikotagen. Die Firmen Zimmerli und Calida sind ja weltweit für ihre Qualität bekannt, die Firma Lehner für ihre Taschentücher auch. Und das Glarner Tüchli lebt immer noch. 

Wir sollten auch die Seidenweberei nicht vergessen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts nannte man den Ort Horgen im Kanton Zürich Klein-Lyon, weil es dort zehn Seidenwebereien gab. Die Baumwollwebereien, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen, sind heute zum größten Teil Industriegeschichte. Vieles wird jetzt von Historikern aufbereitet, wie zum Beispiel in diesem ausführlichen Artikel über die Spinnerei Felsenau 1864–1975 von Christian Lüthi, dem Vizedirektor der Universitätsbibliothek Bern. Wenn man genügend sucht, dann ist das Internet voll mit einzelnen Beiträgen zur Unternehmensgeschichte der Schweiz.

Eine der ersten Hemdenfabriken war die 1902 in Stabio gegründete Camiceria Realini. Pietro Realini war nicht nur der Fabrikbesitzer, er war auch der Bürgermeister des Ortes. Die Devise, die er ausgab war: Il lavore è fatica ma grazie alla fabbrica si puo evitare l'emigrazione. Wir sind ganz im Süden der Schweiz, da spricht man noch Italienisch. Und man ist arm, man ist dankbar für jede Fabrik, die Arbeitspätze bringt. Das Geschäft floriert, 1923 kann man ein neuen Gebäude beziehen, und Petro Realini und seine Gattin tun mit ihren Stiftungen gute Werke, die von einem Waisenhaus bis zu einem Altersheim reichen. 1976 wird die Hemdenfabrik von der Ermenegildo Zegna Gruppe übernommen und heißt jetzt Consitex.

Die Luxuslinie Zegna Couture kam auch aus Stabio, wurde aber nicht in Zegnas Hemdenfabrik genäht. Da vertraute Zegna doch auf eine ganze andere Firma. Die hatte den Namen Brülisauer, ein Name, den man sich schlecht merken kann. Herbert Brülisauer hatte die Firma 1961 gegründet, er produzierte Qualitätshemden unter dem Namen Resisto und belieferte Großkunden wie PKZ oder die Warenhauskette Manor. Doch denen wurde die Swiss Made Qualität bald zu teuer, und da verlegte sich Brülisauer, dessen Sohn Marco 1993 in die Firma gekommen war, auf das Luxussegment, Klasse statt Masse. 

Und nähten die Hemden für Zegna und Tom Ford. Aber diese Kunden ließen keine Kreativität und Originalität zu und wollten immer weniger zahlen, und so beschloss Marco Brülisauer, auf Zegna und Tom Ford zu verzichten und nur noch Hemden der eigenen Marke herzustellen. Unter dem Namen Bruli. Den Namen kann man sich leicht merken. Man hat aber für alles Fälle des Namens Resisto behalten, das braun-gestreifte da unten ist meins. Heißt Resisto, hat aber ein kleines Etikett innen drin: Made in Switzerland und prodotto da Bruli.

Marco Brülisauer arbeitet eng mit der Firma Alumo zusammen, beide Firmenchefs loben den anderen (beziehungsweise die andere) in höchsten Tönen: 'Alumo ist bei mir das höchste Segment an Stoffen', sagt Marco Brülisauer. 'Marco macht wirklich wunderschöne Hemden', sagt Sandra Geiger. konnte man im letzten Jahr im Schweizer Wirtschaftsmagazin Bilanz lesen. Der Hemdenhersteller Bruli, nach eigenen Angaben der letzte unabhängige Hemdenhersteller der Schweiz, scheint gut im Geschäft zu sein, die Firma hat jetzt sogar einen Online Store. Die Hemden kosten zwischen 300 und 500 Euro, sie haben ein unverwechselbares Zeichen, an dem man ein Bruli Hemd erkennt. Und das ist ein im Ärmelschlitz des linken Ärmels eingewirkter, beinahe unsichtbarer, silberner Farben. So etwas nennt man Understatement. Diese Bruli Anzeige ist das Gegenteil von Understatement, sie ist völliger Unsinn. Das Zitat ist nicht von Leonardo da Vinci, es wurde zum erstenmal in einer Apple Reklame im Jahre 1977 verwendet.

Viele Schweizer Firmen sind untergegangen, über viele sucht man vergebens etwas zu erfahren. Die sind in der Schweiz nicht nur bei Banken verschwiegen, Hemden der Firma Diamant's Habillement de Luxe, die es früher bei Terner in Hannover gab, gibt es nicht mehr. Terner auch nicht. Wer die erstklassigen Linea hB Swiss Hemden (von denen ich eins aus Rottach-Egern habe), produziert hat, habe ich lange nicht gewusst. Inzwischen habe ich das herausgefunden: die Linea hb Hemden wurden auch von Bruli hergestellt, das hb stand offenbar für Herbert Brülisauer. Die besten Schweizer Hemden, die ich besitze, stammen von zwei inzwischen untergegangen Firmen. Sie haben alle ein Swiss Made Label eingenäht, aber ich weiß nicht, wer die Hemden hergestellt hat. Die eine untergegangene Firma ist die von Werner Baldessarini, dessen Hemden damals den Vergleich mit den besten italienischen Hemden aushielten. Tun sie nach zwanzig Jahren immer noch. Hemden halten bei mir lange, weil ich so viele habe. 

Die andere nicht mehr existierende Firma ist Hein Gericke Classic. Da hatte sich der König der Biker Lederjacken (er wird schon im Post Lederjacken erwähnt) eine kleine Luxuskollektion zugelegt. In aufwendig gemachten Katalogen bepries Gericke seine Hemden: Aus feinsten naturbelassenen Baumwollstoffen italienischer Weber im schweizer Tessin nach alter Shirtmakertradition genäht. Das alles stimmte, sogar der Musterverlauf war angepasst und die Knopflöcher waren handgenäht. Das ist man bei Fray (die 1991 auch die Firma pegaso kauften) und Borrelli gewöhnt, aber hier? Die Hemden kosteten 169 Mark, das teuerste 298 Mark. Der Preis fiel aber bei Gericke schnell ins Bodenlose. Es muss ja einen Grund dafür geben, weshalb er in den letzten zwanzig Jahren fünf Insolvenzen hingelegt hat. Ich habe noch zwei aus der teuersten Kategorie, die irgendwann ganz preiswert geworden waren, und ich rätsele noch immer, wer im Tessin die damals gemacht hat.

Wenn wir an die Schweiz denken, dann fallen uns Banken und Uhren ein, nicht unbedingt die Mode. Aber die Modeindustrie hat für die Schweiz eine große Bedeutung. 1939 waren in der Modeindustrie eine Viertelmillion Menschen beschäftigt, und die exportierten Waren machten fünfunddreißig Prozent des gesamten Schweizer Exports aus. Ich habe diese Zahlen von der ersten Schweizer Modewoche 1942 in Zürich, zu der Hans Aeschbach dies Plakat entwarf: Baumwollstoff als Kunstwerk. Wir sind im Krieg, aber noch kommen Kunden aus dem Ausland in die Schweiz und staunen, was man zu zeigen hat. 

Die einzige Hemdenfirma, die in dem Bericht auftaucht, ist die Herrenwäschefabrik Beltex in Arzo. Die ist in den folgenden Jahren immer wieder mit Anzeigen in Schweizer Zeitungen und bewirbt ihre Produkte mit dem Satz Die Wahl des Herrn der sich zu kleiden weiß. 1948 kann die Fabrlque de lingerie pour messieurs Beltex ihrer Anzeige im L'Impartial noch hinzufügen: L'expédition suisse à l'Himalaya de l'été dernier était équipéede chemises Beltex. Elles ont admirablement fait leurs preu-ves. Les sportifs qui choisissent notre marque pour les jeux olympiques

Ich weiß nicht, was aus der Beltex geworden ist, in Arzo gab es noch die Hemdenfabrik Carristar, aber die ist seit sieben Jahren auch nicht mehr existent. Einen Teil der Belegschaft und der Ausrüstung der Carristar hat Yari Copt übernommen und seine Hemdenfirma Old Captain Co gegründet: Premetto che purtroppo, un mese fa, la Carristar di Arzo, una delle fabbriche con le quali collaboravo, è stata costretta a chiudere i battenti. Sono comunque riuscito ad integrare parte del personale e dei macchinari all’interno della fabbrica di moda Dresdensia di Pregassona, l’altro nostro laboratorio con cui collaboriamo creando un angolo di camiceria. Und da macht er jetzt bunte Hemden, das Tessin lebt wieder.

Ein Dauererfolg von Schweizer Hemden ist natürlich das Edelweiss Hemd. Die Familie Jenni in Meiringen näht die seit 1978 mit der Hand, hundertzwanzig bis hundertvierzig Hemden in der Woche. Der Preis beträgt achtzig Franken. Es gibt sie aber billiger. In den Landi Läden werden sie für 22,90 Franken verkauft. Die kommen dann aber nicht von der Märithüsli AG der Jennis, die kommen aus Kolumbien. In den letzten Jahren hat es an Schweizer Schulen immer wieder Vorfälle gegeben, bei denen Lehrer den Schülern verboten haben, diese Schweizerhemden zu tragen, weil sie fanden, dass diese Hemden rassistisch seien. Da wird sich Michelle Hunziker jetzt Gedanken machen, ob sie das Hemmli noch tragen darf. Die haben echte Sorgen in der Schweiz.

Ich besitze ein einziges Bruli Hemd, das hier. Es hat mich bei ebay zwanzig Euro gekostet, keine fünfhundert. Es ist sehr unauffällig, man fühlt und merkt ihm die Qualität und die Handarbeitet an, es hat auch handgenähte Knopflöcher, aber so richtig mitreißend ist es nicht. In Fitzgeralds Roman The Great Gatsby schleppt Jay Gatsby seine geliebte Daisy vor seinen Kleiderschrank und zeigt ihre seine Hemden. Das ist die Stelle des Romans, wo Daisy dann They're such beautiful shirts. It makes me sad because I've never seen such beautiful shirts schluchzt. Wenn ich einer Frau den Kleiderschrank mit den Hemden zeigen würde, würde sie auch so etwas schluchzen. Mein erstes Hemd, das außer mir niemand hatte, hat mir meine Oma genäht. Das war in den Adenauerjahren, als es nur weiße Hemden gab. Ich aber wollte ein blau-weiß gestreiftes Hemd haben, gab es in ganz Bremen nicht. Selbst bei Charlie Hespen nicht, der sich ganz an England orientierte. Da hat mir meine Oma das blau-weiß gestreifte Hemd genäht. Den Kragen hat sie nicht so ganz hingekriegt, aber das machte nichts.

Sonntag, 21. November 2021

Kurt Denzer ✝

Es war ein schöner Sommertag, wir alle standen in dem Saal der Alten Muthesisschule und warteten auf das Geburtstagskind. Die Vorbereitungen für das kleine Fest waren sehr geheim gewesen, er durfte nichts davon wissen. Ich trug meinen hellen Sommeranzug, den ich mir im Winterschlussverkauf gekauft hatte, als es draußen schneite. Er war sehr preiswert gewesen, italienische Sommeranzüge sind hier oben nicht so das Ding. Als Kurt, den man von Filmarbeiten im Norden des Landes unter einem Vorwand weggelockt hatte, in den Saal kam, war er wirklich überrascht. Beinahe alle, die seine Arbeit in den letzten Jahren begleitet hatten, waren da. Vertreter der Landesregierung lasen einen Brief des Ministerpräsidenten vor, da hätten sie eigentlich auch ein Bundesverdienstkreuz mitbringen können, die Verdienstmedaille hatte er ja schon. Es sollten eigentlich keine Reden gehalten werden, aber es wurden doch kleine Reden gehalten. Die schönste Rede hielt ein Landwirt aus Delve, wo Kurt den Film über den Reetdachbau Dack ut Delv gedreht hatte. Der Landwirt besaß großes komödiantisches Talent, hinzu kam, dass er das Ganze auf Plattdeutsch vortrug. Das war der siebzigste Geburtstag von Kurt Denzer, er hat mir später eine DVD mit Photos geschickt, aber die hätte ich nicht gebraucht, ich habe keinen Moment von dem Tag vergessen. Die plattdeutsche Rede auch nicht.

Dem Staatssekretär, der 1986 so viel an Kurt Denzers Film Die Welt der Wikinger zu bemängeln hatte, hatte es nicht gefallen, dass kein Deutscher, sondern ein Däne Haithabu entdeckt hat: Und so wurde ich von der Regierung Barschel aufgefordert, im Film deutlich werden zu lassen, dass die versunkene Wikinger-Siedlung von einem schleswig-holsteinischen Schulmeister wiederentdeckt wurde. Mein Einwand, der erste Hinweis auf Haithabu stamme von dem Dänen Sophus Müller, wurde mit der Anordnung quittiert, 'da reicht ein Anruf von uns, das war so…'. Hatte der Staatssekretär bei diesen Gedanken den Lehrer Conrad Engelhardt im Kopf, der im 19. Jahrhundert das Nydam Boot (heute im Schleswiger Landesmuseum in Gottorf) ausgegraben hatte? Man weiß es nicht, aber es ist doch eher unwahrscheinlich, dass die Bildung eines Politikers aus dem Kabinett Barschel bis zu Conrad Engelhardt reicht. Die Bildung der schleswig-holsteinischen Kultusminister reichte ja nie sehr weit. Conrad Engelhardt war zwar Lehrer an einem deutschen Gymnasium, aber im übrigen war er Däne wie Sophus Müller.

Kurt Denzer tat, wie ihm geheißen. Er fand, wir sollten besser sagen, er erfand, einen schleswig-holsteinischen Landschullehrer namens Harm Harmsen und präsentierte ihn der Regierung. Nicht ohne dezent darauf hinzuweisen, dass dieser Harmsen selbst dem berühmten Herbert Jankuhn entgangen war. Dr Denzers damaliger Brief an die Landesregierung war ein Meisterwerk der Satire. Als er bei der Geburtstagfeier von Hartmut Kunkel, einem Kollegen aus Kurts Zeit an der Holstenschule in Neumünster, vorgelesen wurde, erheiterte er den ganzen Saal. Kurts Film über die Wikinger erhielt übrigens 1986 beim Festival International du Film d'Art et d'Archéologie in Brüssel den ersten Preis und bekam in Paris beim Festival du Film Archéologique den Spezialpreis der Jury.

Er wollte mit siebzig aufhören, aber er hörte nie auf. Damals hat Helmut Schulzeck ihn interviewt, das Interview steht im Internet. Wenn man das liest, dann kennt man den Filmemacher Denzer schon ganz gut. Ich habe vor elf Jahren hier den Post Kurt Denzer: Cinearchea geschrieben, er wird auch in dem Post Satyrspiel erwähnt. Und in dem Post Haithabu kommt er natürlich vor, denn Haithabu ohne Kurt Denzer geht gar nicht. Der Haithabu Post hatte ihm gut gefallen, er schickte mir gleich seinen neuesten Film zu dem Thema vorbei. Ich schreibe heute über ihn, weil er gerade im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben ist. Vor zwei Monaten hatten wir noch miteinander telephoniert, er fragte mich etwas zögernd, ob ich etwas gegen einen Besuch einzuwenden hätte. Ich sagte ihm, Corona hin oder her, er solle einfach vorbeikommen. Dazu ist es nun leider nicht mehr gekommen.

Film war sein Leben, Oberhausen war für ihn nicht nur ein Name auf der Landkarte. Schon als siebzehnjähriger Schüler gewann er mit einem Kurzfilm den ersten Preis beim Lippischen Amateur Filmclub Wettbewerb. Er sollte für seine Filme noch zahlreiche Preise bekommen. Er hat Latein, Germanistik und Kunstgeschichte studiert, hat aber seine Dissertation über Film geschrieben: Untersuchungen zur Filmdramaturgie des Dritten Reichs. Wenn Sie den Titel anklicken, können Sie die ganze Arbeit lesen, weil die UB Kiel die Dissertation ins Netz gestellt hat. Zu seinem Doktorvater Karl Otto Conrady hatte Kurt bis zu dessen Tod ein sehr gutes Verhältnis, kein anderer Professor der Uni hätte eine solche Dissertation 1970 angenommen als Conrady, der einmal SPD Abgeordneter im Landtag war. Bei Conrady hatte Reimer Bull seine Doktorarbeit über Arno Schmidt geschrieben, auch das war damals eine kleine Sensation, in einer Zeit, an der die Uni eher von der akademischen Tristesse der Langweiligkeit beherrscht war. Aber Kurt musste immer etwas Neues wagen. Und diese Dissertation war etwas Gewagtes, die Philosophische Fakultät hatte wegen des politischen Themas Angst gehabt und einen dritten Gutachter bestellt.

Wir standen nebeneinander in der Kunsthalle, als Björn Engholm die Eröffnungsrede zu der Günter Grass Ausstellung hielt. Barschel hätte das nicht gekonnt, flüsterte mir Kurt zu. Das war sicher richtig, aber egal ob SPD oder CDU an der Macht war, Kurt hatte mit dem Kultusministerium zu kämpfen. Engholms Rede über die Zeichnungen von Günter Grass (der in einem weißen Leinanzug gekommen war und ein wenig aussah wie Mark Twain) war so etwas wie ein Signal für einen kulturellen Neuanfang im Lande. Engholm konnte nicht nur schön über Kunst reden, unter seiner Regierung gab es etwas, das unter Stoltenberg und Barschel unmöglich gewesen war: eine Förderung der Filmarbeit im Lande, dafür sorgte die Kultusministerin Marianne Tidick, die Kurt sehr schätzte. Nicht nur weil es Geld gab.

Nach seiner Zeit an der Holstenschule in Neumünster hat der Oberstudienrat Dr Kurt Denzer ein Vierteljahrhundert die Filmarbeit der Kieler Universität geleitet. Er mochte die Arbeit an der Schule, von der er jetzt Abschied nahm, um etwas ganz Neues zu beginnen: 1970 begann ich das Referendariat, und die Schule in Neumünster hat mir sehr viel Spaß gemacht. Als ich dann im nächsten Jahr, 1971, wieder nach Oberhausen kam, in einen Hasch geschwängerten Raum, man lag ja da zum Teil auf dem Boden, um die Filme zu sehen, da dachte ich, das ist nicht deine Welt. Ich dachte, der eigentliche Klassenkampf findet ja wo anders statt, nämlich in der Schule, und mir kam das da beim Festival wie Kinderkram vor. Seitdem fuhr ich dann nicht mehr nach Oberhausen. Kurt leitete nun die Filmarbeit des Studentenwerks, gründete Kommunale Kinos (wie das KoKi Kiel in der Pumpe), und die LAG Film wäre ohne ihn ärmer gewesen. Das hat Ulrich Ehlers von der Landesarbeitsgemeinsschaft Jugend und Film zu Kurts fünfundsechzigsten Geburtstag gewürdigt, die schöne Würdigung seiner Arbeit steht glücklicherweise auch im Netz. Mein Lieblingsfilm unter Kurts Dokumentarfilmen heißt Floret Academia (der musste natürlich einen lateinischen Titel haben, weil Kurt Latein studiert hat), ein Film über die Dreihundertjahrfeier der Christian Albrechts Universität. Frech, despektierlich, schnell geschnitten. Der Film eines 68ers, obgleich es das Jahr 1968 noch gar nicht gab. Man sollte den endlich mal ins Netz stellen.

Berühmt geworden ist er für die Gründung der Cinarchea und seine Wikinger Filme, die er im Auftrag des Landes für das Wikinger Museum in Haithabu gedreht hat. Jahrzehntelanger Kampf eines auteurs mit den Geldgebern von der Kultusbürokratie. Da gibt es schreiend komische Anekdoten, und ich hatte gehofft, dass er endlich mal seine Memoiren schreiben würde. Vor fünf Jahren hat er mit A propos Haithabu … noch Fragen? ein kritisches Resüme seiner Arbeit vorgelegt. Er hat den kleinen Film eine Travestie genannt, das hat nun wieder etwas mit Harm Harmsen und dem Versuch der Geschichtsklitterung durch die Landesregierung zu tun.

Es ist traurig, diesen Nachruf schreiben zu müssen, und das auch noch am Totensonntag. Aber ich weiß, dass jeder, der Kurt gekannt hat, ihn nicht vergessen wird. Seine Kollegen aus der Zeit in Neumünster schrieben gestern in ihrer Traueranzeige: Seinen Schülerinnen und Schülern war er ein Lehrer, der ihnen den Weg in eigenständiges, kritisches Denken und in eine demokratisches Lebenshaltung wies. Uns, seinen Kolleginnen und Kollegen, war er ein gradliniger, offener, herzlicher Kollege und Freund, der unsere Treffen mit seiner Intelligenz, seinen Ideen und seinem Humor bereicherte. Wir werden Kuddel sehr vermissen.

Vor Jahren hat er mal im Urlaub die Schauspielerin Eva Mattes getroffen und sich nett mit ihr unterhalten. Als sie ihn fragte, wie er sie denn in ihrer Rolle als Klara Blum in den Bodensee Tatorten fände, hat er gesagt, dass er in seinem Leben noch nie einen Tatort gesehen hätte. Und dem entschuldigend hinzugefügt, er sei Filmemacher. Sie hat herzlich gelacht.


Zu Kurt Denzers achtzigstem Geburtstag hat Franz Obermeier von der Universitätsbibliothek Kiel alles zusammengetragen, was sich über den Filmemacher und Pädagogen im Internet und in anderen Quellen findet. Die Würdigung von Ulrich Ehlers findet sich da, das Interview von Helmut Schulzeck auch. Aber auch zwei Filmkritiken, die der Student Kurt Denzer für die Studentenzeitung Die Skizze geschrieben hat. Das über hundertseitige Werk ist auf der Seite von academia als PDF online gestellt.

Mittwoch, 17. November 2021

Books Do Furnish a Room


Es gab vor vier Wochen wieder eine Buchmesse, mit richtigen Menschen, mit richtigen Büchern, mit Leuten, die über Bücher reden. Da muss ich doch einige Zeilen über Bücher schreiben. Ich habe die Melville Bücher, die ich brauchte, um den Post The Whale zu schreiben, wieder ins Regal gestellt. Eigentlich wollte ich den Post schreiben, ohne Bücher zu benutzen. Aber wenn man einmal Philologe war, dann geht man doch auf sicher und guckt ins Buch. Das Internet enthält ja mehr Müll als seriöse Infomation. Als ich mit dem Einordnen fertig war, habe ich einen Zollstock geholt und die Melville Literatur (Texte und Sekundärliteratur) ausgemessen. Es sind ein Meter und fünfundsiebzig Zentimeter, aber da ist noch was in der zweiten Reihe, das lasse ich mal weg. 

Von Nora und Sandy Marovitz, die ich in dem Post erwähnte, habe ich eine schöne E-Mail bekommen: Thank you so much for sending the English translation of your article. We're very appreciative of your remembering us so fondly. Our memory of the visit to your apartment full of CDs, jazz and books and meeting you is very vivid. Funny that you still have the Kent State University yellow pen. What fond memories! What memorable friendships! Es ist schon Jahrzehnte her, dass die beiden meine Gäste waren, aber die Wohnung full of CDs, jazz and books, die haben sie nicht vergessen. Man vergisst die auch nicht.

Meine Wohnung sieht noch nicht ganz so aus, wie auf diesem Photo hier, aber doch ziemlich ähnlich. Ich habe noch einige freie Wände, an denen Bilder hängen. Der schöne Satz Books Do Furnish a Room ist natürlich auch der Titel eines Romans (hier im Volltext) von Anthony Powell, seine Bücher nehmen auch schon viel Platz in den Regalen ein. Nicht so viel wie Proust, aber immerhin. Die Proust Abteilung hat sich in den letzten Jahren vergrößert, was daran liegt, das ich häufig über Proust geschrieben habe, und mir zahlreiche Neuerscheinungen gekauft habe. Die kleine Tolstoi Abteilung, die früher nur aus Krieg und Frieden bestand, ist auch größer geworden, da ich jetzt vier verschiedene Anna Karenina Ausgaben habe. Und die englische Übersetzung von dem Ehepaar Richard Pevear und Larissa Volokhonsky.

Ein Freund empfahl mir, das Buch Bedrohte Bücher: Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens von Richard Ovenden, dem Direktor der Bodleian Library, zu kaufen. Sie können Ovenden hier zu dem Thema in einem Video hören. Ich sparte mir den Kauf und empfahl meinem Freund den Kauf von Wolfgang Schivelbuschs Buch über die Bibliothek von Löwen. Das hat auch mit der Vernichtung von Bibliotheken zu tun, ich habe es schon in dem Post Flandern erwähnt. Ich kaufe mir das Buch von Ovenden auch deshalb nicht, weil in dem Regal, in dem nur Bücher über Bücher, Bibliotheken, Verlage und Verleger stehen, kein Platz mehr ist. Die berühmte Oxforder Bibliothek hat in diesem Blog schon den Post Bodleian Library, und in dem Post Inspector Lewis kommt sie auch vor.

Bei mir sind Bücher nicht bedroht. Die Bedrohung kommt heute von einer ganz anderen Seite. Zum Beispiel von diesem Herrn. Der heißt Jeff Bezos und ist der Gründer von Amazon. Er hält freudestrahlend ein Gerät in der Hand, das Kindle Fire heißt. Ich weiß nicht, warum das Teil Fire heißt, bei mir das Wort Feuer in Verbindung mit Büchern ganz andere Assoziationen. Lesen Sie doch einmal den Post Feuer. Jeff Bezos trägt einen schwarzen Anzug, keinen Schlips und hat eine Glatze. Wenn man heute à la mode sein will, dann trägt man einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, keinen Schlips und eine Glatze. Und hat ein Kindle Fire in der Hand. Dann hat man aber keine Bücher mehr zuhause. Irgendwie ist das ein schrecklicher Gedanke. Diese Kindle Computer und die Glatzköpfe mit ihrer Uniform.

Nicht diejenigen haben die Bücher recht lieb, welche sie unberührt in ihren Schränken aufheben, sondern sie Tag und Nacht in den Händen haben, hat Erasmus gesagt. Man kann zu viele Bücher haben. Wie dieser Herr, er soll in verschiedenen seiner Pariser Wohnungen dreihundertausend Bücher gehortet haben. Bücher seien eine Droge ohne die Gefahr einer Überdosis, er sei ein glückliches Opfer dieser Droge, hat er gesagt. Er hat auch behauptet, dass er die dreihundertausend Bücher alle gelesen hat. Gibt es irgendwo auf der Welt jemanden, der das glaubt? Mir sind Leute, die so etwas behaupten genauso unheimlich wie die Glatzköpfe in schwarzen Anzügen ohne Schlips. Wenn der Mann mit der schwarzen Sonnenbrille einen Blaumann anhätte, könnten wir ihn für einen Lageristen von Amazon halten. 

Hermann Hesse hat gesagt: Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seinen Boden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken. Der Satz Books Do Furnish a Room stimmt schon. Dank Estelle Ellis und Caroline Seebohm, die das Buch Mit Büchern leben: Buchliebhaber und ihre Bibliotheken veröffentlicht haben, bekommen wir einen Einblick in die Bibliotheken von Büchersammlern. Es ist eher ein Buch für Innenarchitekten als für Menschen, die wirklich Bücher lesen. Es könnte auch von der Zeitschrift Schöner Wohnen herausgegeben sein.

Meine ersten Regale habe ich selbst gebaut, kleine Kisten mit Rückendeckel, weiß angestrichen. Das System habe ich von meinem Freund Ahab kopiert. Der heißt nicht wirklich Ahab, wir nannten ihn nur so, weil er seine Doktorarbeit über den Kapitän der Pequod schrieb. Man ließ sich das Material zuschneiden, leimte und nagelte, strich die Kästen weiß an und stapelte sie dann auf- und nebeneinander. Das Baukastensystem Ahab (50 mal 50, 20 tief) könnte den Systemen Ivar (Lundia) und Billy (Ikea) Konkurrenz machen. Als ich mein erstes Geld verdiente, kaufte ich mir bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ein Regal aus richtigem Holz, 2,20 x 2,10 m, da passte die ganze deutsche Literatur auf fünfzehn Metern Regal hinein. Und Kindlers Literatur Lexikon passte noch oben drauf. Ich bekam Rabatt, weil ich ein WBG Autor war. Die WBG hat das Regal nicht mehr im Programm, aber bei ebay habe ich einige davon gesehen, sehr nostalgisch. Den Rest der Wohnung füllte mir Peter Andersen Munch von der Firma Scan-Miljø mit Lundia Regalen, Ikea wollte ich nicht.

Die Größe einer Bibliothek sagt nichts über ihre Qualität, das hat Karl Lagerfeld nicht begriffen. Es reicht bei ihm nicht mal für den Eintrag im Guinness Book of Records, da steht nämlich, dass ein gewisser John Q. Benham in Avoca, Indiana mit anderhalb Millionen Büchern die größte Privatbibliothek der Welt hat. Das ist schon ein Drittel der E-Books, die Amazon anbietet. Montaigne hatte in seiner Turmbibliothek wahrschenlich tausend Bücher, das war damals sehr viel. Die Bibliothek von Sir Robert Bruce Cotton war acht mal zwei Meter groß, das reichte ihm zum Aufbewahren der Handschriften, die er sammelte. Und er hatte zwei Handschriften, die niemand außer ihm besaß: das Manuskript von Beowulf und das von Sir Gawain and the Greene Knighte.

In dem Roman Books Do Furnish a Room von Anthony Powell gibt es eine Romanfigur namens Lindsay Bagshaw, der diese Phrase als Spitznamen hat. Man weiß nicht so ganz, wie er an den Namen gekommen ist: There were two main elucidations. One asserted that, the worse for drink, trying to abstract a copy of The Golden Treasury from a large glass-fronted bookcase in order to verify a quotation required for a radio programme, Bagshaw overturned on himself this massive piece of furniture. As volume after volume descended on him, it was asserted he made the comment: ‘Books do furnish a room.’
       Others had a different story. They would have it that Bagshaw, stark naked, had spoken the words conversationally as he approached the sofa on which lay, presumably in the same state, the wife of a well-known dramatic critic (on duty at the theatre that night appraising the First Night of The Apple Cart), a clandestine meeting having reached emotional climax in her husband’s book-lined study. Bagshaw was alleged to have spoken the words, scarcely more than muttered them – a revolutionary’s tribute to bourgeois values – as he rapidly advanced towards his prey: ‘ Books do furnish a room.’
       The lady, it could have been none other, was believed later to have complained to a third party of lack of sensibility on Bagshaw’s part in making such an observation at such a juncture. Whichever story were true – probably neither, the second had all the flavour of having been worked over, if not invented, by Moreland – the nickname stuck.



Lesen Sie auch: Lesedefizitesilvae: Wälder: Lesen, perlegi, Buchgespenster

Freitag, 12. November 2021

englische Oberhemden


Sie haben lange nichts mehr über Mode geschrieben, sagte mir ein Leser. Das Gefühl habe ich auch, auch wenn es von Zeit zu Zeit etwas über Mode gab. Wenn ich in meinen Wordpress Themenblog Kleiderschrank gucke, der ja leider wegen WSoD nicht weitergeführt wird, dann gab es in diesem Jahr Posts wie Blaustrümpfe, Orchideen, der Oberrock und Coco Chanel. Gut, früher war es mehr. Es gab allerdings auch immer andere Stimmen, ein Leser schrieb, er würde in meinem Blog alles lesen, außer wenn ich über Hemden und Schuhe schriebe. Ich bin gerade dabei, Hemden in den Schränken aufzuräumen, eine echte Aufgabe angesichts meiner Sammlung.

Ich fand eins im Schrank, an das ich mich kaum erinnerte, zog es an, es passte hervorragend. Es ist von der englischen Firma Raymond Cleeve. Meine Mutter hatte es mir mal von Terner in Hannover mitgebracht. Das war ein Laden, den sie liebte, der hat hier schon einen Post, der Fuchsjagd heißt. Meine Mutter ist lange tot, Terner gibt es nicht mehr, aber das Hemd ist noch da. Ich guckte bei ebay nach Cleeve Hemden, fand eins zum Sofortkauf für vier Euro und kaufte es. Und beschloss, mal eben einen Post über englische Oberhemden zu schreiben. Früher habe ich beinahe nur englische Hemden getragen, wenn ich mir jetzt das angucke, was da auf der Leine zum Bügeln hängt, dann sind das beinahe alles Italiener.

Raymond Cleeve, der seine Hemdenfabrik in Chard in Somerset hatte, begann bei der Firma British Van Heusen Co Ltd. Die war 1928 in Taunton in Somerset gegründet worden. In Somerset saß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein großer Teil der englischen Hemdenindustrie. Und wir sollten nicht vergessen, dass die Firma Fox, die den berühmtesten Flanellstoff der Welt herstellt, auch in Somerset zuhause ist. Die British Van Heusen, die einen Royal Warrant als Hoflieferant besaß, hat nichts mit dem amerikanischen Phillips-Van Heusen Konzern zu tun. Dieses Van Heusen war nur ein Markenname der Firma Harding, Tilton and Harley Ltd, weil John Manning van Heusen um 1910 einen halbwegs weichen Kragen erfunden hatte.

Der allerdings noch nicht Teil des Hemds war, so wie hier sah ein British Van Heusen Hemd in den zwanziger Jahren aus. Man knöpfte den Kragen an das Hemd und kaufte noch einen Ersatzkragen dazu. Solche Hemden hat man bis 1971 produziert, Engländer sind ja traditionell. Der englische Politiker Enoch Powell hat erst im hohen Alter bei seinem Schneider erfahren, dass es schon seit langem Hemden mit angesetztem Kragen gibt.
 
Die Hemden, wie wir sie heute kennen, sind eine englische Erfindung. Im Jahr 1871 hat sich die Firma Brown, Davis & Co. aus Aldermanbury die Knopfleiste patentieren lassen. Vorher konnte man ein Hemd nicht aufknöpfen, man zog es über den Kopf, so wie wir heute ein Unterhemd anziehen. Es ist die 1898 gegründete Firma T.M. Lewin, die um 1900 dieses coat shirt, wie es damals genannt wird, auf den Markt bringt. Hundertzwanzig Jahre später muss T.M. Lewin seine 66 Läden in England aufgeben und seine sechshundert Angestellten entlassen. Die Firma ist weiterhin im Onlinehandel tätig.

Raymond Cleeve hört bei Van Heusen auf, als es mit denen bergab geht. In seiner Fabrik in Chard, was nicht so weit von Taunton weg ist, werden weiterhin Hemden mit anknöpfbaren Kragen hergestellt, erst ab 1976 gibt es die Oberhemden, wie wir sie kennen. Die Firma wuchs und wuchs, und 1998 bezog sie ein neues Gebäude. Sogar Prinzessin Anne kam zur Einweihung. Als es mit der Firma zuende ging, wurde der Name (und die Fabrik in Chard) von Michael Drake gekauft. Der hatte 1977 mit Scarves, Shawls and Plaids angefangen, ich habe zwei Schals von der Firma, die wirklich luxuriös sind. Dann kamen noch Schlipse hinzu und dann alles andere. 2013 kaufte man die Firma Rayner and Sturges, die letzte Firma, die fabrikmäßig Hemden Made in England herstellte, und die einst Ede & Ravenscroft, Dunhill, Paul Smith und Crombie belieferte. Rayner and Sturges wurde nach Chard in die alte Fabrik von Raymond Cleeve verlegt.

Als Emma Willis im Jahre 2000 ihren Laden für Oberhemden in der Jermyn Street eröffnete, hatte sie auch Krawatten von Drake's im Angebot. Sie hatte Kunst an der Slade School of Fine Art studiert, hatte dann aber beschlossen, dass ihre Zukunft im Hemdennähen läge. Sie hat klein angefangen, heute ist sie groß im Geschäft. Sie macht die Hemden für Huntsman, und stattet Daniel Craig, Hugh Grant, Benedict Cumberbatch und diesen Herrn hier aus. Einen Royal Warrant als Hemdenmacherin von Charles hat sie noch nicht, aber ihr Antrag läuft. Dieses Photo wurde gemacht, als Charles ihre Fabrik in Gloucester besuchte. 

Sie ist stolz darauf, dass ihre Hemden Made in England sind, viele große Namen der Jermyn Street können das nicht mehr von sich sagen. Ihre Stoffe bezieht Emma Wills seit fünfundzwanzig Jahren von der Schweizer Firma Alumo, englische Weber gibt es ja nicht mehr so viele. Thomas Mason und David & John Anderson gehören längst dem Italiener Albini. Im 19. Jahrhundert wurde in England die Hälfte der Baumwollstoffe der Welt gewebt, zu den Bedingungen wollen wir lieber nichts sagen. Ein Gedicht wie Song of the Shirt konnte nur in England entstehen.

Willis stellt sich im Internet erstklassig dar, einen Blog hat sie auch. Sie tut auch gute Werke (und redet darüber), zum Beispiel mit ihrem Projekt Style for Soldiers. Während des Höhepunkts der Corona Welle hat sie den National Health Service durch ihr Project Style for Surgeons mit Kitteln aus erstklassigen Schweizer Vollzwirn beliefert. Das ist etwas anderes als die Firma van Laack, die 100.000 ihrer an das Land Nordrhein-Westfalen gelieferten Kittel zurücknehmen musste. Den Deal mit den Kitteln hatte der Firma Armin Laschets Sohn vermittelt, der Mode Blogger ist und auf der Gehaltsliste von van Laack steht.

Dass Turnbull & Asser auch eine Fabrik in Gloucester haben, das steht hier schon 2013 in dem Post Haikragen, sie haben aber auch noch eine Fabrik in Sidcup. Ich hatte in den siebziger Jahren mal eine schwere Turnbull & Asser Phase, ich liebte diese lappigen Manschetten mit den drei Knöpfen. Dass Mr Fish das Hemd mit der umgestülpten Manschette (die Cocktail Cuff genannt wird) für James Bond in Dr No gemacht hat, das weiß ich natürlich, Sie können das in dem Post Haikragen und in dem Post Agentenmode sehen. Es ist immer noch im Programm. Das Hemd, das Daniel Craig in Casino Royale getragen hat, kostet 410 Pfund. Dieses schöne Haus aus dem Georgian Age ist das Bearland House in Gloucester, es beherbergt die Fabrik von Emma Willis. Turnbull & Asser hat in Gloucester nur einen häßlichen Zweckbau in einem Industriegebiet. Wenn Sie alles über Turnbull & Asser wissen wollen, dann klicken Sie hier einmal →Turnbull & Asser an. Ein bisschen Zeit müssen Sie für die opulente Show von Bildern und Videos schon mitbringen.

Karl Lagerfeld ließ sich mehr als tausend Hemden von Hilditch & Key machen, er schickte ihnen Zeichnungen wie diese, und sie machten ihm diese weißen Hemden mit dem hohen Kragen. Ich hatte mal ein Hilditch & Key Hemd, aber da war der Kragen in kürzester Zeit durchgescheuert, Qualität war das nicht. Ihre Hemden sollen jetzt aus Italien kommen, vielleicht sind die ja besser. Formelle englische Oberhemden sind auch nicht jedermanns Sache. Ich erinnere mich noch an die wunderbare Kolumne im Observer von Sue Arnold, wo sie in der Jermyn Street für ihren Mann ein Hemd kaufen will. Das war in den siebziger Jahren geschrieben, als Sue Arnold noch dope nahm, und London das Swinging London war. Da trug man Blümchenhemden und schrille Sachen aus der Carnaby Street, aber keine formellen englischen Hemden mit steifem Kragen.

Die 1984 gegründete Firma  Thomas Pink war auch in der Jermyn Street, wie auch der Billiganbieter Charles Tyrwhitt (designed in London made in Vietnam), der Straßenname edelt das Produkt. Tyrwhitt war der erste Händler, der sich konsequent auf den deutschen Markt orientierte. Inzwischen schalten aber auch andere Händler wie zum Beispiel Hawes & Curtis deutschsprachige Anzeigen im Internet. Thomas Pink wurde 1999 von Louis Vuitton aufgekauft, dann ließen sie das Thomas weg und waren nur noch Pink, jetzt sind sie ganz weg. Der Laden in der Jermyn Street ist geschlossen. Die Qualität von Emma Willis oder Turnbull & Asser hatten ihre Hemden nie, Made in England waren sie auch nicht. Zuerst kamen ihre Hemden aus Irland, später aus Vietnam (wo auch die van Laack Hemden gefertigt werden). Ich besitze eins von Thomas Pink (in pink), aber ich trauere der Firma nicht nach. 

Auch andere Firmen, die schon lange in der Jermyn Street sind, haben Probleme. Die 1865 gegründete Firma New & Lingwood, die zuerst in Eton beheimatet war, ist 2015 von einer amerikanischen Investorengruppen namens Pop Capital gekauft worden, sie haben ihr Personal verjüngt, um eine jüngere Klientele anzuziehen, aber finanziell geht es ihnen nicht so gut. Ihr bisheriger Direktor, der Südafrikaner Anthony Spitz, der New & Lingwood 1992 kaufte, blieb nach dem Deal mit Pop Capital weiterhin Geschäftsführer.

Niemand weiß genau, wer ihre Hemden macht, sie sollen ihre Fabrik in Essex geschlossen haben. In den 1990er Jahren haben sie Bowring und Arundel aufgekauft, den letzten Hemdenmacher auf der Savile Row, der noch Handarbeit lieferte. Als die Gabi zum erstenmal nach London fuhr (wo die schuhverrückte Frau im Laden von Manolo Blahnik beinahe ohnmächtig wurde), hat sie mir ein New & Lingwood Hemd mitgebracht. Dem fielen beim Auspacken schon zwei Knöpfe ab, Qualität sieht anders aus.

Ich kaufte keine Engländer mehr, ich trug Hemden von Stenströms und Italienern wie Truzzi, Orian, Fray und Lilian Fock. Ich weiß auch nicht, was aus der Jermyn Street wird, der Brexit hat die englische Modeindustrie schwer angeschlagen. Boris Johnson interessiert das kaum. New & Lingwood hatte als Hemdenlieferant der jungen Gentlemen an der Privatschule Eton begonnen. Boris Johnson war in Eton, aber er ist kein Kunde von New & Lingwood. Er ist auch kein Gentleman.

Hat ein englischer Premierminister jemals so ausgesehen? Vanessa Friedman von der New York Times hat von einem silly style gesprochen, der Johnson auszeichnet. Auf der Weltklimakonferenz in Glasgow erschien er in einem Anzug von Oliver Brown, den er für vierunddreißg Pfund pro Tag bei der Firma My Wardrobe HQ gemietet hatte. Seine Frau hatte bei der Firma auch ihr Hochzeitskleid gemietet. Wer leiht sich schon einen Anzug? Man kann sich bei Moss Bros einen Morning Coat leihen, wenn man zu einer Hochzeit muss, aber sonst geht das nun gar nicht.

Das britische GQ Magazin hatte nur Hohn für den Premierminister übrig: That's right, Bojo – AKA Worzel Gummidge 2.0 – has finally made a good sartorial decision. Oft derided by the likes of, well, us for wearing the kind of outfits that a blind clown would struggle to make look quite so terrible (remember the floral short and Dennis The Menace beanie combo he wore to go running in 2017? We do), Johnson's decision to wear a second-hand suit at the summit, which is taking place in Scotland's second city until 12 November, is perhaps the smartest (/only?) piece of sartorial virtue signalling we've ever seen from the man at Number Ten. Er hat Schwierigkeiten mit Hemden, das weiße Hemd, das er zur Hochzeit trug war ungebügelt, und offenbar kann er sich nicht einmal die Manschetten richtig zuknöpfen. 2015, als er auf seinem Weg nach oben war, hat er einen Stapel Oberhemden von Turnbull & Asser geschenkt bekommen, die trägt er heute wahrscheinlich zum Joggen.