Donnerstag, 30. September 2021

Anna Karenina: Translations

Sie haben sich bei der Lektüre des Posts russischer Adel wahrscheinlich gedacht, dass ich die Lektüre des Roman Anna Karenina endlich beendet habe. Das ist schon richtig, andererseits vielleicht auch nicht. Denn ich lese den Roman gerade noch einmal, in einer englischen Übersetzung. In dem Post Anna Karenina: Übersetzungen hatte ich geschrieben:

Ich könnte mir natürlich die neue englische Übersetzung von Rosamund Bartlett (Oxford University Press) bestellen. Oder die von Marian Schwarz (Yale UP). Witzigerweise sind beide Übersetzungen im selben Jahr erschienen. Englische Übersetzungen von Tolstois Roman gab es seit 1886 schon genug. Zählt man die beiden neuesten aus dem Jahr 2014 mit, dann kommt man auf 18 Übersetzungen, das sind beinahe soviel wie hier in Deutschland. Die Übersetzerinnen Rosemarie Tietze, Rosamund Bartlett und Marian Schwarz hatten gegenüber allen Vorgängern und Vorgängerinnen einen Vorteil: sie konnten die historisch-kritische Moskauer Akademie Ausgabe von 1970 benutzen.
      Aber ich glaube, ich lasse das mal mit den englischen Übersetzungen. Weil ich mir gerade vorhin bei booklooker für 4,95€ die Übersetzung von Hermann Asemissen (Rütten und Loening, 2 Leinenbände) gekauft habe. Ich berichte irgendwann darüber. Oder schreibe mal über Anna und Wronski, Kitty und Lewin. On verra.

Ich las den Roman nun in der Übersetzung von Hermann Asemissen, die mir gut gefiel. Auch weil ich das Buch ohne Brille lesen konnte. Ich griff aber immer wieder auf Rosemarie Tietze zurück. Das war dieser Glückskauf für fünf Euro gewesen, aber ich mochte das Buch nicht wirklich, weil es eine Dünndruckausgabe ist. Und die Schrift ziemlich klein ist. Im November sah ich bei ebay die zweibändige Insel-Augabe, die Übersetzung von Gisela Drohla, für einen Euro. Niemand außer mir bot bei der Auktion, und so hatte ich für  insgesamt 10,95€ (plus Porto) jetzt drei Ausgaben von Anna Karenina. Ich legte Asemisssens Übersetzung beiseite und hielt mich an Drohla. Guckte zwar immer wieder in Asemissen und Tietze, aber ich hatte mich jetzt in der Drohla Übersetzung festgelesen. Wenn mich heute jemand fragen würde, welche Übersetzung ich empfehlen würde, dann würde ich Gisela Drohla sagen. 

Ich weiß nicht weshalb, ich habe keine Kriterien für das Urteil, aber die Übersetzung von Gisela Drohla liest sich für mich besser als die Tietze Übersetzung. Das sage ich, ein anderer Leser wird vielleicht etwas anderes sagen. Denn wir wissen dank Proust: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Es geht um Lesbarkeit, um stilistische Eleganz. All die Nuancen, die Rosemarie Tietze in einem Interview und in den Fußnoten aufgezählt hat, nehme ich zur Kenntnis, aber es ist mir ziemlich egal, welches Geräusch Schnepfen und Bekassinen machen, ob sie nun quorren (Tietze) oder schmatzen (Drohla).

Neue Übersetzungen werden an alten Übersetzungen gemessen, auf jeden Fall tun das die Kritiker. Niemand übersetzt für sich allein, da ist immer ein anderer, der das schon vorher übersetzt hat. Und der das vielleicht vieles besser übersetzt hat. Jede Neuübersetzung ist eine Nachübersetzung, hat Felix Philipp Ingold gesagt und für eine synthetisierinde Übersetzungsarbeit plädiert. Übersetzer sollten in ihre Neuübersetzungen schon existierende bessere alte Übersetzungen integrieren. Ich finde das sehr vernünftig, aber manche Übersetzer haben das nicht gerne gehört.

Manche Verlage, die die Rechte für eine Übersetzung hatten, die von Kritikern und Lesern immer gelobt wurde, haben bei Neuauflagen die Übersetzung bearbeiten lassen, weil der Text Fehler und Unstimmigkeiten enthielt. Wenn wir heute die englische Übersetzung von Constance Garnett (1861-1946) lesen, so müssen wir wissen, dass dieser Text von Leonard J. Kent und Nina Berberova überarbeitet worden ist. Sie können die Übersetzung >hier oder >hier lesen, und es lohnt sich nach einhundertzwanzig Jahren immer noch, diese Übersetzung zu lesen. Die Engländerin Constance Garnett hat von 1894 bis 1934 viel von der russischen Literatur übersetzt, mehr als siebzig Bände, von denen manche heute immer noch im Handel sind. Das ist eine Leistung, an die wohl kaum ein Übersetzer herankommen wird. Ihr Enkel hat seine Biographie Constance Garnett: A Heroic Life betitelt, und heroisch ist das schon, beinahe die ganze russische Literatur ins Englische zu übersetzen.

Ihre Übersetzung von Anna Karenina aus dem Jahre 1901 war nicht die erste englische Übersetzung, es gab 1886 schon eine Übersetzung von Nathan Haskell Dole (die Sie >hier lesen können). Dole, der mit der crème de la crème der amerikanischen Literatur bekannt war, hat auch eine Biographie von Tolstoi veröffentlicht und seine Werke herausgegeben. Bei ihm lautet der Vorname von Tolstoi noch Lyof, das ist eine Schreibweise, die wir im Englischen am Ende des 19. Jahrhunderts häufig finden. Seine Übersetzung von Anna Karenina ist auf eine seltsame Weise entstanden: To preserve, so far as possible, the spirit and style of the original, has been the translator's aim in presenting, for the first time to English readers, Count Tolstoi's great novel, 'Anna Karenina.' After the present translation was begun, an anonymous French paraphrase appeared. In order to hasten the preparation of this volume for the press, that version has been used in a few passages, but always with the Russian original at hand. Die französische Ausgabe eines anonymen Übersetzers war 1883 bei Hachette in Paris erschienen. Wahrscheinlich hatte Adèle Bohomoletz sie verfasst. Hachette verkaufte diese französische >Übersetzung, die die Basis von Doles Text war, noch ein halbes Jahrhundert lang, die 22. Auflage erschien 1936.

Nathan Haskell Doles Übersetzung, die ein Jahr nach der ersten deutschen Übersetzung von >Paul Wilhelm Graff erschien, hat sich auf dem Markt nicht halten können. Die englischsprachige Welt wollte die Übersetzung von Constance Garnett haben. Wie groß dieser Einfluß ist, verdeutlicht eine Aussage, die die amerikanische Übersetzerin Marian Schwartz 2015 in einem Interview machte: Garnett—whose translations I do like and who must have been doing something right because she launched the English reader’s love affair with Russian literature—was introducing Tolstoy to the English reader for the first time and so did what an author’s first translator is often compelled to do: help the reader by writing an English text less challenging than the original Russian. Translators who followed Garnett, including me, benefited from her groundwork. Indeed, my impulse to translate this novel arose wholly from a passion bordering on obsession to take the next step after Garnett—a step translators between us did not take—and confront Tolstoy’s aesthetic choices head-on. I wanted to convey the nuances not expressed directly, in so many words, but rather embedded in his aesthetic and stylistic choices. Ich habe auch diese >Übersetzung hier für Sie.

Ich hatte die neuen Übersetzungen von Rosamund Bartlett und Marian Schwarz schon in dem Post Anna Karenina: Übersetzungen erwähnt. Jane Shmidt begann ihre Rezension von Bartletts Übersetzung in der Chicago Tribune mit der witzigen Paraphrase des ersten Satzes von Anna KareninaAll good translators are alike, each meticulous translator is meticulous in her own way. Den Satz sollten wir uns mal merken. 

Die beste Übersicht über die englischsprachigen Übersetzungen hat Professor Bob Blaisdell (der um Tolstoi richtig zu verstehen, Russisch gelernt hatte) mit seinem wunderbaren Artikel An Anna Is an Anna Is an Anna gegeben: The Tolstoy of Garnett (one of the few translators to have met the author in person, and the only one of those whose work is still read as current) is a monocled British gentleman who is simply incapable of taking his characters as seriously as they take themselves. Pevear and Volokhonsky, a Russian-American husband-and-wife team, created a reasonable, calm story­teller who communicated in conversational American English. Rosamund Bartlett, a longtime scholar of Russian literature and culture and a biographer of both Tolstoy and Chekhov, creates an updated ironic-Brit version of Tolstoy. Marian Schwartz, Bartlett’s distinguished American competitor who has translated a great variety of Russian authors, has produced what is probably the least smooth-talking and most contradictory Tolstoy yet. 

Der Slavistikprofessor Hugh McLean hat in seinem Artikel Which English 'Anna?' gesagt: None of the existing translations is actively bad. From any of them the ordinary English-speaking reader would obtain a reasonably full and adequate experience of the novel. The English in all of them sounds like English, not translationese. I found very few real errors and only a few omissions, and of the latter most were only a few words or phrases. One’s choice among the existing translations must therefore be based on nuances, subtleties, and refinements.

Die englischsprachige Version von Anna Karenina, die in den letzten Jahren am häufigsten gekauft wurde, ist die von dem Ehepaar Richard Pevear und Larissa Volokhonsky. Sie hat viel Lob bekommen: The new and brilliantly witty translation by Richard Pevear and Larissa Volokhonsky is a must, schrieb Lisa Appignanesi im  Independent, und James Wood urteilte im New Yorker: Pevear and Volokhonsky are at once scrupulous translators and vivid stylists of English, and their superb rendering allows us, as perhaps never before, to grasp the palpability of Tolstoy’s   characters, acts, situations. Der Verkaufserfolg der Übersetzung beruht allerdings nicht auf dem Lob der Kritiker, er beruht auf Oprah Winfrey, die in ihrem Book Club sagte: First of all, get this edition. Look for the Oprah's Book Club little sticker there because there's lots of different editions. Eine Woche später war das Buch die Nummer Eins der Bestsellerliste, Penguin druckte 961.030 Exemplare nach. Oprah Winfrey hat das Buch übrigens nie gelesen. Sie brauchen sich diese Übersetzung nicht zu kaufen, Sie können sie >hier lesen. Ich bin heute spendabel mit Übersetzungen von Anna Karenina.



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