Donnerstag, 28. Februar 2019

28. Februar


Vor sechzig Jahren starb der Schriftsteller Maxwell Anderson. Er hat berühmte Theaterstücke geschrieben und Drehbücher zu berühmten Filmen geschrieben. Am berühmtesten von allen Werken ist wohl der von Kurt Weill vertonte September Song geworden, der hier schon einen Post hat. Wir hören ihn uns noch einmal in der Version von Tony Bennett an. Wir können natürlich den Februar nicht mit dem September Song beenden, aber glücklicherweise gibt es den amerikanischen Bariton Josh Groban. Und der hat einen February Song geschrieben.

Dienstag, 26. Februar 2019

Birken


Auf beinahe jedem Bild der Worpsweder Maler sind sie zu sehen, die Birken. Sie gehören zum Bildinventar der kleinen Worpsweder Welt. Das die Maler schon selbst etwas ironisch betrachteten. So erschien in der Worpsweder Zeitung zur Vierzigjahrfeier der Künstlerkolonie am 11. Oktober 1924 ein satirisches Preisausschreiben, das als ersten Preis folgendes auslobte: 1. Preis: Ein original Worpsweder Motiv, bestehend aus: 1 frisch gestrichenes Strohdachhaus, 1 fleckige Kuh, 1 Paar braune Segel, 1 Dtzd. Gutgewachsene Birken, 1 Ia. Sonnenuntergang (alles vom Verschönerungs=Verein Worpswede eigens angepflanzt und sofort lieferbar). Den richtigen Lösungen des Preisausschreibens waren 20 Mark Worpsweder Notgeld beizufügen. Man muss dazu sagen, dass diese Sondernummer der Worpsweder Zeitung zum 11. Oktober eine Ulknummer war. Aber Satire hin und her, das was da so ironisch beschrieben wird, ist die gesamte Worpsweder Bildwelt.

Natürlich haben Dichter die Birken besungen, so zum Beispiel Thomas Hardy in The Upper Birch-Leaves. Aber da ist es schon November, und der Baum verliert seine Schönheit:

Warm yellowy-green
In the blue serene,
How they skip and sway
On this autumn day!
They cannot know
What has happened below, -
That their boughs down there
Are already quite bare,
That their own will be
When a week has passed, -
For they jig as in glee
To this very last.

But no; there lies
At times in their tune
A note that cries
What at first I fear
I did not hear:
"O we remember
At each wind's hollo -
Though life holds yet -
We go hence soon,
For 'tis November;
- But that you follow
You may forget!"

Bei Börries von Münchhausen wird die Birke in seinem Gedicht Birkenlegendchen richtig sexy:

Birke, du schwankende, schlanke,
wiegend am blassgrünen Hag,
lieblicher Gottesgedanke
vom dritten Schöpfungstag

Gott stand und formte der Pflanzen
endlos wuchernd Geschlecht,
schuf die Eschen zu Lanzen,
Weiden zum Schildegeflecht.

Gott schuf die Nessel zum Leide,
Alraunenwurzeln zum Scherz,
Gott schuf die Rebe zur Freude,
Gott schuf die Distel zum Schmerz.

Mitten in Arbeit und Plage
hat er ganz leise gelacht,
als an den sechsten der Tage,
als er an Eva gedacht.

Sinnend in göttlichen Träumen
gab seine Schöpfergewalt
von den mannhaften Bäumen
einem die Mädchengestalt.

Göttliche Hände im Spiele
lockten ihr blonden das Haar,
daß ihre Haut ihm gefiele,
seiden und schimmernd sie war.

Biegt sie und schmiegt sie im Winde
fröhlich der Zweigelein Schwarm,
wiegt sie, als liegt ihr ein Kinde
frühlingsglückselig im Arm.

Birke, du mädchenhaft schlanke,
schwankend am grünenden Hag,
lieblicher Gottesgedanke
vom dritten Schöpfungstag!


Eine sehr schöne literarische Form haben die Birken in Hermann Kasacks Erzählung Das Birkenwäldchen gefunden. Geschrieben 1944 für seinen Freund Peter Suhrkamp, den die Gestapo ins KZ gebracht hatte. Kasack beschreibt hier ein Birkenwäldchen, das er jeden Tag aus der Eisenbahn sehen kann: Als ich an einem der letzten Tage am Birkenwäldchen vorüberfuhr, sah es aus, als ob über dem krausen Blätterbehang ein grauer Staub lag, wie ihn der Wind an trockenen Tagen durch die Luft treibt. Es müßte ein Regen kommen, um die Blätter blank zu waschen. Was aber ließe sich Besseres sagen, um das Birkenwäldchen jemandem lebendig zu machen, der es so lange nicht erblickte als dies: Ich sehe es beinahe täglich mit deinen Augen.

Die Birke, die von vielen Allergikern nicht geliebt wird, ist einer der ersten Bäume, der im Frühling Blätter trägt, für den Maibaum nimmt man meistens eine Birke. Sie ist ein Symbol des Frühlings und des Lebens. Sie findet sich auch häufig auf Friedhöfen, wahrscheinlich soll sie da ein Symbol des ewigen Lebens sein. Aber Birken leben nicht ewig. Die Birke, die Opa nach dem Krieg auf dem Familiengrab hat pflanzen lassen, war nach einem halben Jahrhundert riesig geworden, ich musste sie auf Wunsch der Gemeinde fällen lassen. Es wurde keine neue Birke gepflanzt, sie wäre ein Fremdkörper geblieben. Die alte Birke hatten alle gekannt, die da unten in den Särgen lagen.

Und so kann sie auch ein Symbol des Todes sein. Ich war gerade zum Gymnasium gekommen, da gab es eine offiziell angesetzte Stunde zur Feier des Kriegsendes. Die fiel bei unserem Klassenlehrer Hermann Bollenhagen, dessen Kriegsverletzungen man jeden Tag sehen konnte, ohne jede Verherrlichung aus. Trocken und spröde erzählte er, wie er als junger Soldat in Russland mit seiner Kompanie in einen Birkenwald ging und links und rechts von ihm die Soldaten plötzlich tot am Boden lagen. Man sah den Feind nicht, man hörte die Schüsse kaum. Da waren nur dieser Birkenwald, der blaue Himmel eines Spätsommertages, und der Tod. Dies war offensichtlich ein anderer Krieg als der Krieg meines Großvaters dreißig Jahre früher in Frankreich.

Während Bollenhagen die Geschichte erzählte, dachte ich an den kleinen russischen Friedhof in einem Birkenwäldchen bei Eggestedt, das wie eine Landzunge in die Äcker hineinreichte, und den ich einmal beim Spielen mit meinen Freunden, auch an einem Spätsommertag mit blauem Himmel, entdeckt hatte. Viele Lehrer erzählten uns in den fünfziger Jahren ihren Krieg, aber niemand sprach von den Zwangsarbeitern, die den U-Boot Bunker in Farge gebaut hatten, an Unterernährung und Entkräftung gestorben waren und da in dem kleinen Birkenwäldchen lagen, mit Grabkreuzen in kyrillischer Schrift. Die Geschichte ist nicht nur in Büchern zu finden, sie schreibt sich auch in die Natur ein. Da ist sie nur schwer zu lesen.

Sonntag, 24. Februar 2019

Plakativ


Der amerikanische Maler Winslow Homer wurde am 24. Februar 1836 in Boston, Massachusetts, geboren. Ich kenne den Maler seit mehr als einem halben Jahrhundert, weil ich seine Bilder damals in der Vierteljahrsschrift Perspektiven/Perspectives fand. Er hat hier schon einen Post (und er kommt mit seinen Bildern in vielen Posts vor), und auf dieser Seite können Sie sein Werk betrachten. Da haben Sie für das Wochenende ein opulentes optisches Vergnügen. Die junge amerikanische Dichterin Hannah Fries hat über dieses Bild aus dem Jahre 1900 ein kleines Gedicht geschrieben:

Reckless precision, pull and layered flow
of paint: the force that forms the wave drives it
ceaselessly to shore. He holds it in his hand,
presses his own will against it: crimson
streak across the horizon, sunset tingeing
the ocean as it plunges at the rocks,
gets dragged between them, all churn and rush,
into the hollow body of the next
rearing wave. What to make of it,
arched back like a broken wrist, tethered
by a brush to its shattering and wild against
last light, bursting into sculpture, impossibly
paused—a salty spume of chiseled shards,
an unhinged slap to the flushed sky.

Das Motiv für die Brandung an der Küste brauchte er nicht lange zu suchen, er konnte es aus seinem Studio in Prouts Neck heraus malen. Auch diesen Fuchs fand er in Prouts Neck. Es war sein bisher größtes Bild  (76.4 cm x 122.2 cm). Und das von der japanischen Malerei beeinflusste Werk war das erste Bild, das er gut verkaufen konnte. Die Pennsylvania Academy of the Fine Arts kaufte das Bild, kaum, dass die Farbe trocken war. Das Meer, das Homer immer faszinierte, ist hier auch im Hintergrund zu sehen.

Hannah Fries hat in ihren Winslow Homer Gedichten auch für dieses Bild ein Gedicht geschrieben:

The fox is belly-deep, rust red streak
in the drift of snow that takes its color
from everything in order to hold every
thing against it—a few prickly stems
proffering berries like drops of blood
to the fox’s extended paw. Hunted,
he is for a moment paused, neck not
outstretched to speed the flight, but raised,
head turned and black ears pricked
toward the surf where it shatters over rocks,
blue-green foam, gray ocean sucking back
into sky. He turns his head but keeps
his course along the shore while faceless
crows—a jeer of black wings—wait.


Freitag, 22. Februar 2019

Kunstfigur


Würde ich sie an einem Nacktbadestrand erkennen? Sie wissen, von wem ich rede. Von der schönen Buchhändlerin, die so gerne am Strand von Cap d'Agde geblieben wäre. Meine Kenntnis von Nacktbadestränden ist nicht sehr groß: einige Sommer Sylt in meiner Jugend an einem Strand, der Abessinien hieß. Wenn ich ehrlich bin, habe ich in der Zeit nur zwei wirklich schöne Frauen gesehen. Und die waren in Begleitung von übergewichtigen Männern mit Sonnenstudiobräune und goldenen Uhren am Arm: beauty and the beast. Man muss als schöne Frau offenbar im Leben Konzessionen machen.

Ich glaube, dass ich meine schöne Buchhändlerin am FKK Strand nicht ohne weiteres erkennen würde, ich habe sie bisher zu wenig beschrieben. Einmal mit dem Bikinihöschen in Hendaye und einmal vor dem beschlagenen Spiegel im Badezimmer des französischen Hotels. Sie wird wahrscheinlich sehr schlank sein. Watt bistu bloos für'n mageres Postür, würde ihre Tante sagen. Schlank, aber mit den Rundungen an den richtigen Stellen. Wir lassen sie noch einen Augenblick am Strand, wir können sie natürlich auch als Blaustrumpf mit Brille in die Buchhandlung versetzen. Wir lassen sie aber jetzt am Strand (den schmerbäuchigen Typ mit der goldenen Rolex ersparen wir ihr), weil ich da ein wunderbares Gedicht habe, das sich in der Autobiographie The Perfect Stranger: A Memoir von P.J. Kavanagh findet:

Curled in your night-dress on the beach,
Corn-yellow ghost, pale with sleep,
Head to the starry North, bare toes to the burning East,
Tracking the Sun's climb into our seaside perch,
I watch you at the fringe of this other island
Our public love makes private for us two;
Your face in floating shadow like a moon,
Stretching your arms around the bay to yawn,
Ebony trees in your fingers turning to green.
I stand alone, in the dark, with the birds in the bush.
Like the pewter lagoon I am flustered by day,
Which turns, turns, like a pin to prick out my eye.
Now sun, the angry bo'sun, straddles the sea.
'Is that you?' your murmur,
Grateful and blind my whisper
'You and me'.

Kunstgeschöpfe reden das, was ihr Schöpfer ihnen eingibt. Die Nicklausse in Offenbachs Oper Les contes d'Hoffmann singt in ihrer Arie Vois sous l'archet fremissant von den Dingen, die in ihrer Maschinerie rumoren. Literarische Kunstfiguren sind keine singenden Automaten, sie singen oder sprechen das, was wir eingeben. Was wirkliche Frauen sprechen, ist manchmal rätselhaft.  Die Bedienungsanleitungen sind verlorengegangen. Ich habe gerade Jacques Offenbach erwähnt, den ich leider in dem Post 1819 vergessen habe, auch er hat in diesem Jahr den zweihundertsten Geburtstag. Vielleicht schreibe ich bis zum Juni ja noch mal über Offenbach, wo mir Heidi dieses schöne französische DVD von Orphée aux enfers. Zu dem Orpheus Thema könnten Sie jetzt hier im Blog Che farò senza Euridice lesen. Und zu Jacques Offenbach gibt es hier die beiden Posts Jacques Offenbach und La Périchole. Und die Kunstfigur Nicklausse lassen wir auch noch einmal singen, diesmal im Duett.

Mittwoch, 20. Februar 2019

star planétaire de la mode


Die schöne Schlagzeile star planétaire de la mode habe ich in einer französischen Zeitung gefunden. Die Nachrichten zum Tode von Karl Lagerfeld überschlugen sich. War er wirklich so großartig? Reichte er an Dior, den Grafen de Givenchy oder Jacques Fath heran? Ich weiß es nicht. Er verwaltete den Namen von Coco Chanel, was bei einer Nazi Kollobateurin ein schwieriges Erbe war. Glücklicherweise konnte ich nichts davon hören, was im Fernsehen gesagt wurde: mein altes Metz Röhrengerät hatte plötzlich keinen Ton mehr. Ist jetzt beim Fernsehdoktor. Ich stelle heute noch einmal etwas hier ein, was schon vor Jahren hier stand. Da geht es weniger um Lagerfelds Leistungen in der Haute Couture, als um all die schlimmen Dinge, die in der Herrenmode seinen Namen getragen haben.

Der Sommer ist zum Altweibersommer geworden. Der Herbst steht vor der Tür, man kann es nicht leugnen. Fette bunte Modemagazine, Kataloge, die mit der Post kommen und Prospektbeilagen in den Zeitschriften bringen uns die neue Mode. Oder was die Industrie dafür hält. In den Schaufenstern werden die Dekorationen getauscht, der slimfit Anzug, der gestern noch Mode war, weicht dem, der heute Mode ist. Wahrscheinlich noch slimmer und noch fitter. Die kleinen, feinen Herrenausstatter räumen Tweed- und Cordjacketts und Cordhosen in die Fenster, das ist nie falsch. Und jedes Teil hat natürlich ein Etikett mit einem Designernamen, der angeblich irgendetwas verheißt.

Bei den großen Kleidungshäusern scheint ein Ende des trading up gekommen zu sein, man sieht kaum noch wirkliche Markenware. Die ist den Eigenmarken gewichen. Marken, die kurios lächerliche Namen wie McEarl oder Franco Callegari haben. Und die Lichtjahre entfernt sind von Marken wie Belvest, Caruso, Kiton oder Regent. Besonders gefällt mir die Billigmarke Hemlock bei Anson's, die mit Hemlock feel better! beworben wird. Also, der Philosoph Sokrates fühlte sich nicht mehr so gut, nachdem er seinen Becher hemlock getrunken hatte. Aber der Markenwahn der achtziger Jahre scheint langsam zu Ende zu sein. Wer trägt heute noch Armani?

Karl Lagerfeld hat eh niemand je getragen. Das Label hat ja nie in der obersten Liga der Herrenmode mitgespielt. In Deutschland hat die Familie Aulbach in Miltenberg die Lizenz. Früher hießen sie einmal Miltenberger Kleiderwerke (MKW) und machten ordentliche Sachen. Warben mit Kleide Dich besser - Trage MKW Modellkleidung, und hatten im Herrenjournal ganzseitige Anzeigen mit dem Filmschauspieler Claus Biederstaedt. Dann wurden die Miltenberger zu Daniel Hechter, weil sie den Namen gekauft hatten. Und seit 1990 haben sie die Karl Lagerfeld Lizenz und dürfen die Etiketten mit diesem Namen in ihre Jacketts nähen. Der Karl würde das Zeug nicht anziehen. Aber der Karl wird sich gesagt haben, dass Kleinvieh auch Mist macht, pecunia non olet. Der Karl wird heute achtzig, so sagt man. Wozu wir natürlich herzlich gratulieren. Vielleicht bringt er zu dem Festtag eine Kollektion von Jogginghosen heraus.

Dass diese ganze Sache mit dem Etiketten ein Schwindel ist, hat schon Thomas Mann gewusst. Und ich zitiere gerne einmal diese köstliche Passage aus Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull:

Mein armer Vater war Inhaber der Firma ›Engelbert Krull‹, welche die untergegangene Sektmarke ›Lorley extra cuvée‹ erzeugte. Unten am Rhein, nicht weit von der Landungsbrücke, lagen ihre Kellereien, und nicht selten trieb ich mich als Knabe in den kühlen Gewölben umher, schlenderte gedankenvoll die steinernen Pfade entlang, welche in die Kreuz und Quere zwischen den hohen Gestellen hinführten, und betrachtete die Heere von Flaschen, die dort in halbgeneigter Lage übereinander geschichtet ruhten. Da liegt ihr, dachte ich bei mir selbst (wenn ich auch meine Gedanken natürlich noch nicht in so treffende Worte zu fassen wußte), da liegt ihr in unterirdischem Dämmerlicht, und in euerem Innern klärt und bereitet sich still der prickelnde Goldsaft, der so manchen Herzschlag beleben, so manches Augenpaar zu höherem Glanze erwecken soll! Noch seht ihr kahl und unscheinbar aus, aber prachtvoll geschmückt werdet ihr eines Tages zur Oberwelt aufsteigen, um bei Festen, auf Hochzeiten, in Sonderkabinetten eure Pfropfen mit übermütigem Knall zur Decke zu schleudern und Rausch, Leichtsinn und Lust unter den Menschen zu verbreiten. Ähnlich sprach der Knabe; und so viel wenigstens war richtig, daß die Firma ›Engelbert Krull‹ auf das Äußere ihrer Flaschen, jene letzte Ausstattung, die man fachmännisch die Coiffure nennt, ein ungemeines Gewicht legte. Die gepreßten Korken waren mit Silberdraht und vergoldetem Bindfaden befestigt und mit purpurrotem Lack übersiegelt, ja, ein feierliches Rundsiegel, wie man es an Bullen und alten Staatsdokumenten sieht, hing an einer Goldschnur noch besonders herab; die Hälse waren reichlich mit glänzendem Stanniol umkleidet, und auf den Bäuchen prangte ein golden umschnörkeltes Etikett, das mein Pate Schimmelpreester für die Firma entworfen hatte und worauf außer mehreren Wappen und Sternen, dem Namenszuge meines Vaters und der Marke ›Lorley extra cuvée‹ in Golddruck eine nur mit Spangen und Halsketten bekleidete Frauengestalt zu sehen war, welche, mit übergeschlagenem Beine auf der Spitze eines Felsens sitzend, erhobenen Armes einen Kamm durch ihr wallendes Haar führte. Übrigens scheint es, daß die Beschaffenheit des Weines dieser blendenden Aufmachung nicht vollkommen entsprach. "Krull", mochte mein Pate Schimmelpreester wohl zu meinem Vater sagen, "Ihre Person in Ehren, aber Ihren Champagner sollte die Polizei verbieten. Vor acht Tagen habe ich mich verleiten lassen, eine halbe Flasche davon zu trinken, und noch heute hat meine Natur sich nicht von diesem Angriff erholt. Was für Krätzer verstechen Sie eigentlich zu diesem Gebräu? Ist es Petroleum oder Fusel, was Sie bei der Dosierung zusetzen? Kurzum, das ist Giftmischerei. Fürchten Sie die Gesetze!" Hierauf wurde mein armer Vater verlegen, denn er war ein weicher Mensch, der scharfen Reden nicht standhielt. "Sie haben leicht spotten, Schimmelpreester", versetzte er wohl, indem er nach seiner Gewohnheit mit den Fingerspitzen zart seinen Bauch streichelte, "aber ich muß billig herstellen, weil das Vorurteil gegen die die heimischen Fabrikate es so will — kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Außerdem sitzt die Konkurrenz mir im Nacken, lieber Freund, so daß es kaum noch zum Aushalten ist."

Mehr braucht man über den Schwindel mit dem Glamour nicht zu sagen. Thomas Mann verstreut noch keine Markennamen in seinen Texten, wenn wir mal von der Lorley extra cuvée und der Zigarrenmarke Maria Mancini im Zauberberg absehen (mehr zu dieser Zigarre aus Bremen hier). Das Geburtstagskind Karl Lagerfeld (Ich bin ein Papierfresser!) hat ein besonderes Verhältnis zu Thomas Mann: Das Problem bei Thomas Mann ist, dass ich das nur zu gut verstehe. Ich bin ja aus dem Norden. Die ganze Mentalität, das ist mir so familiär. Ich liebe die Novellen noch heute, aber nicht unbedingt 'Tod in Venedig'. Thomas Mann war zu konventionell. So konventionell bin ich nicht. Ich lebe ja auch in einer anderen Zeit. Im letzten Jahr hat der Karl bei der LitCologne auch öffentlich über Thomas Mann geredet, hatte aber mit einer Absage gedroht, wenn er von Elke Heidenreich interviewt würde. Weil die in einem Artikel für die Brigitte geschrieben hatte: Die Halbhandschuhe verstehe ich nur zu gut, denn nirgends sieht man das wahre Alter eines Menschen deutlicher als an seinen Händen. Das hört der Karl nicht gerne, denn er ist wie das Bildnis von Dorian Gray forever young.

Aber Thomas Mann konventionell? Da muss ich etwas verpasst haben. Karl Lagerfeld (der angeblich mehr als 200.000 Bücher hat), der Die Buddenbrooks heute noch auswendig kann, bei Doktor Faustus einschläft und den Zauberberg nicht mag (Den 'Zauberberg' habe ich nie zu Ende gelesen, das war mir zu langweilig), sollte vielleicht doch einmal Der Tod in Venedig lesen. Denn Gustav von Aschenbach (im Film wunderbar gespielt von Dirk Bogarde), der sich so verzweifelt bemüht, jung zu erscheinen, das ist niemand anderes als Karl Lagerfeld:

Wie irgend ein Liebender wünschte er, zu gefallen und empfand bittere Angst, daß es nicht möglich sein möchte. Er fügte seinem Anzuge jugendlich aufheiternde Einzelheiten hinzu, er legte Edelsteine an und benutzte Parfüms, er brauchte mehrmals am Tage viel Zeit für seine Toilette und kam geschmückt, erregt und gespannt zu Tische. Angesichts der süßen Jugend, die es ihm angetan, ekelte ihn sein alternder Leib, der Anblick seines grauen Haares, seiner scharfen Gesichtszüge stürzte ihn in Scham und Hoffnungslosigkeit. Es trieb ihn, sich körperlich zu erquicken und wiederherzustellen; er besuchte häufig den Coiffeur des Hauses. 

Er saß dort, der Meister, der würdig gewordene Künstler, ... der in so vorbildlich reiner Form dem Zigeunertum und der trüben Tiefe abgesagt, dem Abgrunde die Sympathie gekündigt und das Verworfene verworfen hatte, der Hochgestiegene, der, Überwinder seines Wissens und aller Ironie entwachsen, in die Verbindlichkeiten des Massenzutrauens sich gewöhnt hatte, er, dessen Ruhm amtlich, dessen Name geadelt war und an dessen Styl die Knaben sich zu bilden angehalten wurden,— er saß dort, seine Lider waren geschlossen, nur zuweilen glitt, rasch sich wieder verbergend, ein spöttischer und betretener Blick seitlich darunter hervor, und seine schlaffen Lippen, kosmetisch aufgehöht, bildeten einzelne Worte aus von dem, was sein halb schlummerndes Hirn an seltsamer Traumlogik hervorbrachte.

Romane mit Designernamen vollzupflastern, das blieb einer jüngeren Generation vorbehalten. Zum Beispiel Brett Easton Ellis in seinem grässlichen Roman American Psycho, wo er seitenlang Markennamen abspult. Das waren beinahe immer italienische Produkte, weniger die großen Namen der amerikanischen Konfektionsindustrie. Die Italiener hatten damals ihre große Zeit in den USA, allerdings gelangte kaum das Originaldesign aus Mailand oder Neapel in die amerikanischen Geschäfte. Alles wurde ein wenig verändert für die Nation, deren Ideal der sack suit number one war. Gegenüber Bret Easton Ellis war der Klamottenfetischist und Dandy Tom Wolfe mit der Nennung von Markennamen in The Bonfire of the Vanities ja gar nichts. Zwar trägt Shermann McCoy Anzüge aus der Savile Row, die 2.200 Dollar gekostet haben (sehr preiswert) und $650 shoes from New & Lingwood of Jermyn Street. Aber was ist das schon? Wer kauft sich New & Lingwood Schuhe? Dann doch lieber Foster & Son oder Edward Green. Oder einen Schuh von Cliff Roberts.

Die deutsche Antwort auf Brett Easton Ellis, der mit Less than Zero etwas erfunden hatte, was fortan Yuppie und Pop Literatur hieß, war Christian Kracht. Mit seinem Roman Faserland, bei dem kein Kritiker es ausließ, auf den Einfluss von Ellis hinzuweisen. Das hat Kracht auch selbst zugegeben: Ellis brachte mich unter anderem auf die Idee zu 'Faserland'. Die Nennung von Markennamen aus dem Bereich der Mode ist gegenüber Bret Easton Ellis in Krachts Roman Faserland eher zurückhaltend: Barbour, Ralph Lauren, Armani, Jil Sander, Doc Martens, Kiton und Brooks Brothers hat ein Rezensent gezählt (also jetzt einmal von Marken wie Rolex und Cartier etc. abgesehen). In einem Interview im Jahre 1999 sagte Kracht: Aber ich fühle mich […] zu alt, um Konsumgüter und Markennamen in meinen Büchern zu erwähnen. […] Zuerst dachte ich, eine leichte Verneigung vor dem medialen Konstrukt der Popliteratur hineinschreiben zu wollen, ein letztes Aufbäumen durch die Erwähnung der Parisienne-Zigarette, aber was soll’s? Ich habe es zum Glück herausgestrichen – nichts sollte mehr daran erinnern, dass man mir einst vorwarf, bereits auf der allerersten Seite von 'Faserland' tauchten zehn bis zwölf Markennamen auf. 

Dass der Held des Romans ein Kiton Jackett trug, war damals keinem Rezensenten entgangen. Steht ja auch fett im Roman: Ich bezahle den Taxifahrer, der zum Glück während der Fahrt kein Wort gesagt hat, weil er sauer war, daß wir beide gleich alt sind und ich eine Kiton-Jacke trage und er auf Demos geht. Obgleich, wenn ich es mir überlege, hätte ich gerne mit ihm geredet und ihm gesagt, daß ich auch auf Demonstrationen gehe, nicht, weil ich glaube, damit würde man auch nur einen Furz erreichen, sondern, weil ich die Atmosphäre liebe. Ich nehme an, dass ein solches Nennen einer Marke noch nicht unter den Begriff product placement fällt. Aber offensichtlich liebäugeln manche Autoren schon mit solchen Gedanken.

Das Kiton Jackett blieb nicht lange in Christian Krachts Roman. In der dtv Taschenbuchausgabe sucht man es vergeblich. Da trägt der Held ein Jackett von Davies & Sons. Da heißt es dann, dass wir beide gleich alt sind und ich ein Jackett von Davies & sons trage und er auf Demos geht. Was ist falsch am Kiton Jackett? Warum diese Änderung? Und warum Davies & Sons? Da hätte man ja doch Anderson & Sheppard oder Huntsman vorziehen sollen. Gut Davies & Sons (the oldest independent tailor on Savile Row) haben die Uniform für Admiral Nelson geschneidert (und hinterher gut zu tun gehabt, weil alle Marineoffiziere eine Uniform vom Schneider des Admirals haben wollten). Sie haben auch die Anzüge für Sir Robert Peel gemacht. Und für George V. Für den Herzog von Windsor natürlich auch irgendwann (wer hat nicht für den geschneidert?). Ich habe einen Anzug und einen eleganten Stadtmantel von Davies & Sons (natürlich in einem Secondhand Laden gekauft), ich will nichts gegen die Qualität sagen. Aber an die Schneiderkunst von Heinz-Josef Radermacher in Düsseldorf kommen sie nicht heran. Ihren Internet Auftritt versaut sich die Firma durch eine Vielzahl von Druckfehlern und dadurch, dass sie Loake Schuhe verkaufen. Man fasst es nicht.

Die Sache mit dem Garderobenwechsel von Kiton zu Davies & Sons ist mir vor Jahren aufgefallen, leider habe ich nirgendwo eine Erklärung dafür gefunden. Obgleich es schon Sekundärliteratur en masse zu dem Roman gibt und es für den Lehrer (das scheint ein beliebter Roman für den Deutschunterricht zu sein) eine Vielzahl von Handreichungen gibt. Wie Königs Erläuterungen: Christian Kracht - Faserland. Analyse und Interpretation. Diese Klatschen sind ganz schlimme Dinger. Es ist schon schlimm genug, wenn ein Roman wie Faserland im Deutschunterricht gelesen wird. Noch schlimmer ist allerdings, dass der Autor letztens den Wilhelm Raabe Preis bekommen hat.

Am Ende von Faserland sucht der Held in der Nacht auf dem Friedhof von Kilchberg vergeblich nach dem blöden Grab von Thomas Mann: Irgendwo habe ich mal gelesen, daß das Grab von Thomas Mann in der Nähe von Zürich liegt, oben auf einem Hügel über dem See. Thomas Mann habe ich auch in der Schule lesen müssen, aber seine Bücher haben mir Spaß gemacht. Ich meine, sie waren richtig gut, obwohl ich nur zwei oder so gelesen habe. Diese Bücher waren nicht so dämlich wie die von Frisch, Hesse oder Dürrenmatt oder was sonst noch so auf dem Lehrplan stand. Er findet es nicht. Diese Suche nach Thomas Mann ist von etwas verkrampfter Symbolik. An den Meister wird das verzogene Millionärssöhnchen Christian Kracht (Pappa war Axel Springers Generalbevollmächtigter) nicht herankommen. Als Redakteur von Tempo war Kracht an seinem richtigen Platz, warum musste er höher hinaus wollen? Die Rezensenten von Krachts neuem Roman Imperium (für den er den Wilhelm Raabe Preis erhielt) rückten ihn allerdings beinahe unisono in die Nähe von Thomas Mann. Verstehe ich nicht, Imperium habe ich auch nicht gelesen. Das Leben ist zu kurz, um Christian Kracht zu lesen. Lieber noch einmal den ganzen Proust. Es ist erstaunlich, wie schnell heutzutage jemand nach oben geschrieben wird: Helene Hegemann, Uwe Tellkamp, Christian Kracht. Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.

Karl Lagerfeld, auch ein Mann mit einem langen Schatten, wird dies heute bestimmt lesen. Und am Abend zieht er dann seine Jogginghosen an und liest Der Tod in Venedig. Da bin ich sicher.

Samstag, 16. Februar 2019

Fortsetzung?


In der ersten Mail, die mich erreichte, nachdem ich die kleine Geschichte Sommerurlaub ins Netz gestellt hatte, stand die Frage autobiographisch? Etwas, das ich glatt verneinen konnte. In der zweiten stand: Die Kurzgeschichte ist gut, kommt mehr? Das hätte ich zuerst auch verneinen wollen, aber zwölf Stunden später sah die Welt ganz anders aus. Der Post hatte am ersten Tag mehr Leser erreicht als alle anderen Posts in diesem Blog in den letzten neun Jahren. Am dritten Tag klickten 4.150 Leser den Post an. Als ich den Post Rolex schrieb, hat das Internet in bisschen gewackelt, dies war schon ein kleines Erdbeben. Sollte ich meiner schönen Buchhändlerin ein neues Leben in einer anderen Geschichte verschaffen? Oder belassen wir sie erst einmal in ihrer Buchhandlung?

Wie gehen Autoren mit ihren Heldinnen um? Die Romanciers des 19. Jahrhunderts hatten eine fatale Neigung, ihre weiblichen Heldinnen untergehen zu lassen. Ob sie nun Emma Bovary, Anna Karenina, Tess of the d'Urbervilles oder Effi Briest heißen. Das Bild La belle inconnue von Iwan Kramskoy, das in der Kieler Kunsthalle hängt, könnte Anna Karenina zeigen. Das glaubten damals viele Zeitgenossen.

Die Bilder der Filme sind ein Problem. Wir stellen uns beim Lesen unsere Effi auf irgendeine Art und Weise vor und sind dann enttäuscht, wenn sie von Ruth Leuwerik gespielt wird. Oder von Hanna Szygulla. Wenn wir uns Fontanes Text anschauen, werden wir feststellen, dass seine Beschreibungen nicht sehr genau sind. Die Literaturwissenschaft redet hier seit Wolfgang Isers Buch Der implizite Leser von einer Leerstelle.

Diese Leerstellen erlauben eine Vieldeutigkeit, sie regen den Leser zur Interpretation ein. Der Leser macht den Roman erst zum Kunstwerk, keine zwei Leser werden denselben Roman lesen, es gibt unzählige Lesarten. Das wusste schon Proust, als er sagte: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.

Mochte Fontane seine siebzehnjährige Kindfrau Effi wirklich? Ich habe zu diesem Thema hier eine sehr interessante Seite. Die oben genannten Autoren sind natürlich richtige Schriftsteller, mit denen kann ich mich nicht vergleichen. Ich bin nur ein kleiner Blogger, der eine kleine Short Story geschrieben hat, keinen Roman der großen Gefühle. Aber meine Figuren habe ich natürlich selbst erfunden, und je länger ich daran schrieb, umso mehr begannen sie ein eigenes Leben zu führen, das war eine erstaunliche Sache. Die schöne Buchhändlerin sollte niemand sein, den ich kannte, also diese hier schon mal nicht.

Ich hielt mich an Wolfgang Iser, desses Buch Der implizite Leser hier im Volltext gelesen werden kann und verzichtete auf ein Zuviel der Charakterisierung. Der Leser würde schon seine Arbeit machen und vieles ergänzen. Und so erschien die schöne Buchhändlerin manchen als kalt und herzlos, als eine Art von femme fatale, während andere eine selbstbestimmte Frau in ihr sahen. Ich weiß im Augenblick noch nicht, was aus ihr wird. Sie bleibt vorerst in ihrer Buchhandlung. Sie kann da Geschäftsführerin werden, vielleicht sogar eines Tages die Buchhandlung übernehmen. Ihr R4 muss in die Werkstatt. Der Besitzer ist sehr nett und hat Humor. Soll sie mit ihm flirten, damit die Reparatur billiger wird? Oder wird aus dem Flirt vielleicht noch mehr? Wir lassen die schöne Buchhändlerin erst einmal unter der Dusche L'amour est un oiseau rebelle Que nul ne peut apprivoiser singen. Falls es mit dem Besitzer der Renault Werkstatt und ihr noch etwas wird, werden Sie das hier erfahren.

Mittwoch, 13. Februar 2019

Radio


Die Unesco hat den 13. Februar zum Welttag des Radios ausgerufen. Auf NDR Kultur sammeln die Moderatoren große Radiomomente. Wenn ich gefragt würde, hätte ich auch einige große Momente aufzuzählen: Den Fall von Dien Bien Phu oder das Anrollen der der sowjetischen Panzer am 17. Juni in Berlin. Und nicht zu vergessen die schleswig-holsteinische Schneekatastrophe, als es drei Leute ins Englische Seminar geschafft hatten, einer auf Skiern. Und der Syndikus der Uni um zehn Uhr im Radio sagte, dass der Lehrbetrieb an der Uni selbstverständlich ungehindert stattfindet. Fällt das unter Fake News oder einfach unter Dummheit? Das da oben ist mein neues kleines Radio, kommt aus England, heißt Auna Georgia. Cool im Design wie der Schneewitchensarg, aber voll digital. Muss man heute haben.

Aufgewachsen bin ich mit dem analogen Radio, einem Röhrengerät von Grundig mit dem grünen magischen Auge. Röhrenradios haben heute immer noch ihre Liebhaber. Als die Gruppe Shakespeare's Sister Turn Your Radio On sangen, gab es noch kein Digitalradio. Als Marilyn Monroe sagte: It’s not true that I had nothing on. I had the radio on, auch noch nicht. In diesem Blog kommt das gute alte Radio schon häufig vor. So zum Beispiel in den Posts KulturwandelManfred SexauerElkie BrooksIngeburg ThomsenRadio Feature, Axel EggebrechtLyrics, und Mehr Jazz.

Ein kleines Radiogedicht habe ich heute auch, es ist von Bert Brecht und heißt An den kleinen Radioapparat:

Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug
Dass seine Lampen mir auch nicht zerbrächen
Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug
Dass meine Feinde weiter zu mir sprächen

An meinem Lager und zu meiner Pein
Der letzten nachts, der ersten in der Früh
Von ihren Siegen und von meiner Müh:
Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein.

Gesungen habe ich das auch von keinem Geringeren als Dietrich Fischer-Dieskau.

Und irgendein Radiosender wird heute mitteilen, dass mein Blog gestern 4.150 mal angeklickt wurde, da bin ich sicher. Die Leser haben natürlich alle den Sommerurlaub gesucht, falls Sie den Post noch nicht gelesen haben, klicken Sie hier. Ein Radio kommt darin auch vor.

Sonntag, 10. Februar 2019

Sommerurlaub


Frankreich, jedes Jahr dasselbe, er musste nach Lyon. Dort saß sein wichtigster Geschäftspartner. Er hasste diese Reisen, er konnte kein Französisch. Früher war seine Frau manchmal mitgefahren, die konnte etwas Französisch, aber von der war jetzt geschieden. Er überlegte sich, ob er die schöne Buchhändlerin von gegenüber überreden könnte, ihn nach Frankreich zu begleiten. Die hatte einen alten roten R4 mit dem Sticker eines französischen Campingplatzes auf der Heckscheibe. Die konnte bestimmt Französisch. Sie konnte nicht nur Französisch, sie hatte mal drei Semester Romanistik studiert. Dann aber gemerkt, dass man auch Altfranzösisch belegen und eine Klausur bestehen musste, da hatte sie das Studium aufgegeben. Das Studentenleben hatte ihr sowieso nicht gefallen. Sie zog sich gerne hübsch an, das tat an der Uni niemand mehr.

Er dachte das ganze Wochenende darüber nach, wie er ihr die Sache mit Lyon schmackhaft machen konnte, übte dann auch das, was er sagen wollte. Dann fing er sie am Montag ab, als sie gerade die Tür der Buchhandlung aufschloss. Er hätte da einen Vorschlag zu machen, wegen einer Reise nach Lyon. Je vous écoute, sagte sie. Er werde natürlich alle Kosten tragen. Und wenn sie in Lyon mit dem Geschäftlichen fertig wären, dann könnten sie sich den Rest von Frankreich anschauen. Hoffentlich nahm sie das nicht zu wörtlich. Die Fahrt nach Lyon konnte er von der Steuer absetzen, das wusste er schon. Er fuhr auch einen R4, aber ein neueres Modell. Grasgrün, mit dem Namen seiner Firma auf der großen Heckklappe. Ein Radio hatte der Wagen nicht, aber er hatte eine Halterung unter das Armaturenbrett geschraubt, da konnte man ein Kofferradio hineinschieben. Er packte das große gelbe Zelt in den Wagen. Das hatte er vor Jahren gekauft, als er einen Campingurlaub mit seiner Frau machte. Der Urlaub war eine Katastrophe, genauer gesagt, war er der Anfang vom Ende.

Die schöne Buchhändlerin dachte über seinen ungewöhnlichen Vorschlag nach. Warum eigentlich nicht nach Frankreich? Ihr Reisepass war noch gültig, und sie hatte noch Resturlaub vom letzten Jahr zu bekommen. Der Buchhändler hätte sicher nichts dagegen, der war gerade damit beschäftigt, die blonde Volontärin einzuarbeiten. In der Woche, in der sie in Frankreich war, würde er ihr wohl beibringen, wie man den Libri Katalog benutzt. Und wie zufällig dabei ihren Körper berühren. In Lyon war sie schon einmal gewesen, damals nach dem Abitur als Au Pair. Sie hatte keine guten Erinnerungen an diese Zeit. Das hatte auch mit ungewollten körperlichen Berührungen zu tun. Sie dachte die Woche über den Plan nach, hörte auch viele französische Chansons. Juliette Gréco oder Barbaras Lied À Göttingen, à Göttingen. Sie hatte die Schallplatten gekauft, als sie noch an der Uni war. Jeder hörte die damals. Am Ende der Woche entschied sie sich für das Abenteuer. Und am Montagmorgen war sie in seinem Büro und sagte: Oui Monsieur, allons en France.

Sie verabredeten sich auf den nächsten Sonntag. Sie war pünktlich. Warf ihre Reisetasche auf den Rücksitz, sagte Bon Jour, Monsieur und ließ sich ins Auto gleiten. Er hatte den Zündschlüssel noch nicht im Schloss, da hatte sie schon ihre erste Zigarette im Mund. Er wollte sagen, dass in diesem Auto nicht geraucht würde, aber das hatte jetzt wohl keinen Sinn mehr. Sie hatte schon den Aschenbecher aus dem Armaturenbrett gefingert. Ihre Schachtel Ziggis würde für Deutschland reichen, in Frankreich würde sie sich Gauloises oder Gitanes kaufen. Als sie nach Luxemburg kamen, mussten sie ihre Pässe vorzeigen. Der Zollbeamte bat sie, ihre schwarze Sonnenbrille abzusetzen, während er ihren Pass in der Hand hielt. Und fügte ein Madame hinzu. Er hätte ja auch Mademoiselle sagen können, dachte sie sich, wahrscheinlich hielt er sie für die Ehefrau. Das war ihr irgendwie unangenehm. Solange sie noch in Deutschland waren, hatte das Radio gut funktioniert. In Frankreich wurde es schwächer und schwächer. Sie hätte jetzt gerne wieder französische Chansons gehört. Sie sang gerne, zu Hause unter der Dusche oder in ihrem R4, aber mit ihm hier am Steuer würde das wohl nichts.

In Lyon lief alles wie gewünscht, der französische Geschäftsfreund war von ihr begeistert. Die geschäftlichen Verhandlungen waren dank ihrer Französischkenntnisse schnell zu Ende, der Geschäftsfreund lud die beiden zum Abendessen ein. Sie zog sich noch um und ließ einen Blusenknopf mehr offen, damit der Franzose, der sie schon tagsüber mit den Augen ausgezogen hatte, noch etwas zu sehen bekam. Sie hatte überlegt, ob sie den BH weglassen sollte, aber man sollte die Franzosen nicht zu sehr verwöhnen. Sie wäre nach dem Essen noch gerne zum Tanzen gegangen, aus einer Nebenstraße klang Musik von einem Tanzvergnügen zu ihnen herüber, aber ihr Begleiter wollte nicht. Er konnte auch nicht tanzen.

In Lyon wollte sie nicht bleiben, sie wollte jetzt den Rest von Frankreich sehen, das hatte er versprochen. Et maintenant, toute la France, sagte sie. Von da an duzten sie sich, nahmen in den kleinen Hotels jetzt auch kein Doppelzimmer mehr.  Es war ein wenig seltsam, wieder einen Mann neben sich im Bett zu haben. Manchmal schliefen sie miteinander. Er war rührend ungeschickt im Bett, aber sie machte diese Geräusche, die Männer gerne hören. Sie fuhren erst einmal ohne Ziel durch das heiße Frankreich, es waren noch keine Sommerferien, die Straßen waren noch nicht überfüllt. Sie wechselten sich beim Fahren ab, er ließ sie ans Steuer, weil sie auch einen R4 hatte und mit der Stockschaltung von Renault zurechtkam. Sie fuhr ruhiger als er, und sie konnte lesen, was auf französischen Ortsschildern und Verkehrszeichen stand.

Sie könnten die Rhône hinunterfahren bis nach Marseille, schlug er vor, Schlösser besichtigen und so etwas. Ich will ans Meer, sagte sie und summte Charles Trenets La Mer vor sich hin. Cannes oder Nizza? fragte er. Wir sind keine Snobs, sagte sie, wir fahren nach Cap d'Agde. Den Tip hatte sie von einer Freundin bekommen, da sollte ein schöner Strand sei. Es war ein Strand für Nudisten. Darüber würde sie mit ihrer Freundin noch mal ernsthaft reden müssen. Sie wäre gerne geblieben, aber er wollte das auf keinen Fall. Er wollte nicht, dass andere Männer sie nackt sähen. Sie hatte keine Scheu, sich nackt zu zeigen. Ich habe schönere Titten als Deine Frau, sagte sie. Er hätte jetzt ja sagen oder irgendein Kompliment machen sollen, aber er war wenig gewandt in diesen Dingen, ihm fehlte der beau discours zum parlez-moi d'amour.

Sie landeten schließlich in Hendaye, das war schon beinahe in Spanien. Der Strand gefiel ihr, der Campingplatz war auch nicht schlecht. Er holte das Zelt aus dem Auto und begann es aufzubauen. Dabei sollte man Männern nie helfen, dachte sie. Sie packte ihre Sachen für den Strand in ihr Handtuch. Während er noch die Luftmatratzen aufblies, war sie schon unterwegs zum Strand. Sie breitete ihr Handtuch aus und zog ihren Bikini an. Nur das Höschen, sie verzichtete auf das Oberteil. Die Französinnen ihres Alters hier am Strand trugen auch nur einen Slip. Die hübsche beurette dahinten war ganz nackt. Es gab wenig Mücken am Strand. Das war vor Jahren auf Moen in Dänemark anders gewesen. Schöner weißer Sand, aber nur Mücken. Unglaublich. Er war immer noch nicht am Strand angekommen. Sie überlegte sich, was schlimmer wäre, Männer oder Mücken.

Am vierten Tag kamen nachmittags Böen und dunkle Wolken von Spanien her. Sie brachten Regen mit sich, viel Regen. In der Nacht schliefen sie kaum, sie wussten nicht, ob das Zelt dem Sturm und den Wassermassen gewachsen war. Am nächsten Morgen reisten sie ab. Er meinte, dass man bei diesem Wetter jetzt schön Schlösser besichtigen könnte. Immer wieder die Sache mit den Schlössern, das ist doch typisch für Leute mit Mittlerer Reife, dachte sie. Sie sagte entschieden, dass die Schlösser gestrichen seien, es ginge jetzt vers l'Allemagne. Sie übernachteten jetzt wieder in kleinen Hotels, nahmen aber wieder chambres doubles. Das erste Hotel hatte glücklicherweise eine funktionierende Dusche. Die Duschen auf dem Campingplatz von Hendaye waren meistens defekt. Sie musste erst einmal das Salz von ihrer Haut kriegen. Sie betrachtete sich vor dem beschlagenen Spiegel. Wenn sie das Bikinihöschen weggelassen hätte, wäre sie jetzt am ganzen Körper gebräunt. Aber sie war mit sich zufrieden, wenn die ganz Woche in Frankreich auch zu nichts gut gewesen war, hatte sie doch eine schöne Sommerbräune. Nicht bronzebraun, aber zu Hause würden auch noch Sonnentage kommen.

Die Rückfahrt nach Deutschland war nicht schön. Das Wetter blieb nass und windig. Das feuchte Zelt hinten im Wagen begann, muffig zu riechen. So nah sie sich in dem Zelt gewesen waren, würden sie sich nie wieder sein. Sie entfremdeten sich immer mehr. Er hasste es, wenn sie überall den Ton angab. Das fing mit dem Essen an. In Hendaye hatten sie mittags gegessen, was die Imbissbude anbot, jetzt bestellte sie in den Restaurants und Hotels immer das Essen. Sie konnte die Speisekarte lesen, er nicht. Einmal bestellte sie eine Bouilabaisse für zwei in der Terrine, aber was angeblich ein provenzalisches Nationalgericht war, war für ihn nichts als eine eklige braune Fischsuppe. Sie trank immer Weißwein, er hätte gerne ein Bier gehabt. Was er bekam, war eine Flasche Kronenbourg. Das ist doch kein Bier, sagte er. Es war ihm klar, dass er auf sie hätte hören und den Wein hätte trinken sollen, der auf dem Tisch stand. Sie hatte ja immer recht, immer musste sie den Ton angeben. Schöne Frauen sind keine Garantie für ein schönes Zusammenleben, dachte er sich.

Am letzten Tag wollte er früh los, damit sie noch am Abend zuhause wären. Sie war noch nicht fertig, sie musste unbedingt in diesem Augenblick Ansichtskarten schreiben, die sollten noch hier in Frankreich zur Post. Ansichtskarten müssen sein, egal, wie der Urlaub war. Er fing an, sie zu hassen. Sie waren kaum im R4, da begannen sie an, sich zu streiten, sie gifteten sich an wie ein altes Ehepaar. Wie schnell so etwas geht, dachte sie. Die Männer blieben nie lange bei ihr: Avec le temps, va, tout s'en va on oublie le visage et l'on oublie la voix. Für den Rest der Fahrt schwiegen sie. Das Radio auch. Aber kurz vor der deutschen Grenze waren alle Sender wieder da. Und ohne dass sie einen Sender gesucht hatte, konnte sie plötzlich französische Chansons hören.

Das wäre schön gewesen, hätte das Radio die ganze Woche funktioniert, la vie en rose. Sie kannte nicht alle Interpreten, die von Paname, chagrin d'amour und solitude sangen, aber Juliette Gréco erkannte sie sofort, als die von den souvenirs et les regrets aussi sang. Souvenirs nein, regrets auf jeden Fall, dachte sie. Sie zündete sich gerade eine Gitane an, als Edith Piaf mit ihrer unverkennbaren Stimme, die nach Zigaretten und Alkohol klang, zu singen begann: Non, rien de rien, non, je ne regrette rien. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, zog vorsichtig das Radio aus der Halterung daneben, kurbelte die Seitenscheibe herunter und warf es aus dem Auto. Dieses je ne regrette rien, das war zuviel des Guten.

Sie zündete sich eine neue Gitane an.



Meine Leser haben Fortsetzungen von Sommerurlaub verlangt. Ich bin dem nachgekommen. Die Geschichten heißen Rendezvous, Autorenlesung und der dunkelblaue Bentley.

Samstag, 9. Februar 2019

Rosamunde


Die Schriftstellerin Rosamunde Pilcher ist im hohen Alter von 94 Jahren gestorben. Ist dieser Blog deshalb in den letzten Tagen über viertausend mal angeklickt worden? Es gab hier seit 2010 schon einen Rosamunde Pilcher Post. Der, wie ich immer noch finde, sehr fair ist. Und in dem auch steht, dass Mary Wesley die bessere Schriftstellerin von den beiden ist. Mit dem, was das ZDF in den letzten Jahrzehnten produziert hat, hat die Romanautorin Rosamunde Pilcher wenig, sehr wenig zu tun. Das ist ein deutsches Mißverständnis. Wenn Sie einen guten Roman von Pilcher lesen wollen, dann lesen Sie Coming Home, den Film dazu mit Joanna Lumley und Peter O'Toole hätte ich hier auch noch.


Montag, 4. Februar 2019

Reisende


Mit solchen Bildern hat er ein Vermögen gemacht, der Pompeo Batoni, der heute vor 332 Jahren in Rom starb. Er hat das Touristenporträt erfunden und war der berühmteste Maler seiner Zeit. Batoni profitierte davon, dass die Engländer im 18. Jahrhundert von der Reiselust überfallen wurden, die Grand Tour war eine Pflichtveranstaltung für den Gentleman. Und wenn man in Rom gelandet war, dann ließ man sich von Batoni malen, so einfach war das. Goethe hat die Reiselust der Engländer schon in seinem Faust verspottet, wenn er Mephisto sagen lässt:

Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch-dumpfen Stellen;
Das wäre hier für sie ein würdig Ziel.


Die Engländer reisen nicht nur nach Rom, um sich von Batoni malen zu lassen, sie schreiben auch während der ganzen Reise. Briefe, Gedichte, eine beinahe unübersehbare Literatur. Bei der Reise haben sie bei sich, was ein Engländer unbedingt braucht: Zwei Säcke aus Schaffell, ein Paar Kissen, ein Paar Wolldecken, ein Paar Bettvorleger, Betttücher, zwei Bezüge, ein Moskitonetz aus feinem Schleierstoff, ein Vorhängeschloss, Handtücher, Tischtücher, Mundtücher (nicht schöne, sondern dauerhaft im Gebrauch befindliche), Pistolen, Messer, ein Taschenmesser für die Mahlzeit, silberne Esslöffel, Suppen- und Teelöffel, 

eine Teekanne aus Silber, eine Blechkanne zum Kochen des Teewassers, eine Schachtel mit dem Feuerstahl und dem phosphorigen Zunder, Hafermehl, Federn, Federmesser, Stecknadeln, Schuhe und Stiefel mit doppelter Sohle, einfach oder aus Kork, unentbehrlich, um der Marmor- oder Ziegelpflasterung standzuhalten (die Sohlen müssen elastisch sein), eine Kassette mit Arzneien … Die Liste, die sich in Mariana Starkes Handbuch Travels on the Continent: written for the use and particular information of travellers findet, ist noch länger. Man hat gerne alles dabei, was man braucht.

Heute ist das anders, da haben die Beamten der Regierung von Frau May die Engländer davor gewarnt, im Frühjahr 2019 Europareisen anzutreten. Lebte Pompeo Batoni heute noch, dann würde er Theresa May verfluchen, weil sie ihm das Geschäft versaut.

Batoni ist kein Unbekannter in diesem Blog, er taucht schon in den Posts Anton Raphael Mengs, 18th century Grand Tour, Johann Heinrich Tischbein d.Ä, Tartan, David HumeHorace Walpole auf. Ich schreibe an etwas Längerem, da wollte ich heute mal einen ganz kurzen Post schreiben. Ist beinahe gelungen.

Samstag, 2. Februar 2019

Göttingen


Die CDs, die Gabi mir geschenkt hat, waren immer etwas besonderes. Das fing mit einer CD von Triosence an, das war eine Raubkopie, aber ich gewöhnte mich so schnell an diese Musik, dass ich mir die anderen CDs nachkaufen musste. Dann bekam ich von ihr Madeleine Peyroux, über die musste ich gleich schreiben. Und zu Weihnachten gab es von Barbara Dis, quand reviendras-tu?. Mit der Sängerin konnte ich etwas anfangen, weil ich seit fünfzig Jahren eine LP von ihr habe. Die war in der Schallplattenedition des legendären Magazins Twen erschienen.

Die französische Sängerin Barbara war 1964 zum erstenmal in Deutschland aufgetreten. Ich fahre also im Juli nach Göttingen und ärgere mich bereits, dass ich die Einladung angenommen habe, schrieb sie in ihren Memoiren. Die Tochter einer jüdischen Familie, die mit Glück die deutsche Besatzung überlebt hatte. Es war nicht leicht für sie ins Land der boches zu kommen. Das galt ebenso für Juliette Gréco, die ich 1962 in Berlin erlebte. Sie war als Kind von der Gestapo verhaftet worden, ihre Mutter und Schwester überlebten das KZ Ravensbrück. Aber jetzt in den Sixties kommen beide Sängerinnen nach Deutschland.

Der Göttinger Regisseur Hans-Gunther Klein (hier rechts im Bild) hatte Barbara in Paris überredet, nach Göttingen zu kommen. Doch als sie kam, ging alles schief. Sie wollte einen Konzertflügel haben, nicht dieses braune Turnhallenklavier, das auf der Bühne stand. Aber eine alte Dame in der Nachbarschaft stellt ihren Flügel zur Verfügung, Studenten schleppen das Piano ins Theater. Das Konzert beginnt mit zweistündiger Verspätung und wird ein Riesenerfolg.

Tage später schreibt Barbara die erste Version ihres Lieds À Göttingen, à Göttingen: Am letzten Mittag meines Aufenthaltes kritzelte ich ‚Göttingen‘ im kleinen Garten, der an das Theater grenzte, nieder. Am letzten Abend habe ich den Text zu einer unfertigen Melodie vorgelesen und gesungen, wobei ich mich dafür entschuldigte. In Paris habe ich dieses Chanson fertiggestellt. Ich verdanke dieses Chanson also der Beharrlichkeit Gunther Kleins, zehn Studenten, einer mitfühlenden alten Dame, den kleinen blonden Kindern Göttingens, einem tiefen Verlangen nach Aussöhnung, aber nicht nach Vergessen.

In den letzten Zeilen des Chansons heißt es:

O faites que jamais ne revienne
le temps du sang et de la haine,
car il y a des gens que j’aime
à Göttingen, à Göttingen.

Lasst diese Zeit nie wiederkehren
und nie mehr Hass die Weit zerstören:
Es wohnen Menschen, die ich liebe,
in Göttingen, in Göttingen.

Für den jungen Gerhard Schröder, der in Göttingen studierte, wird das Lied zu einer Hymne der deutsch-französischen Aussöhnung. Ein Jahr nach dem Élysée Vertrag wird der Vertrag mit Leben erfüllt. Nicht von den Politikern, sondern von einer französischen Chansonsängerin. Jetzt haben wir den Vertrag von Aachen, aber Frau Merkel kann kein Französisch. Die Zeiten, in denen Richard von Weizsäcker in Paris eine Rede in französischer Sprache halten konnte, sind lange vorbei. Unsere Politiker können kein Französisch, Martin Schulz ist da eine rühmenswerte Ausnahme.

Juliette Gréco sang, was Jacques Prévert schrieb, Barbara schrieb ihre Lieder selbst. Sie hat sie auch auf deutsch gesungen. Man hat Barbara nie vergessen. In Deutschland vielleicht, in Frankreich nicht. Vor zwei Jahren hat Alexandre Tharaud ihre Lieder mit vielen Sängern und Sängerinnen neu aufgenommen. Und im selben Jahr hat Gérard Depardieu Barbaras Lieder gesungen, À Göttingen war auch dabei.