Donnerstag, 9. März 2017

Radio Feature


Man mußte in dieser Woche damit rechnen, in nordwestdeutschen (und nicht nur in nordwestdeutschen) Straßenbahnen und bei sonstigen Menschenanhäufungen Ohrenzeuge von Gesprächen zu werden, in denen von einer Rundfunksendung "Was wäre, wenn ...?" die Rede war. Es war festzustellen, daß kaum je eine Sendung solche Beachtung gefunden hat wie diese. Frauen, die vom Holzsammeln kamen, sprachen genau so darüber wie Männer am Auszahlschalter der Banken. Es handelte sich um die Sendung, die der Nordwestdeutsche Rundfunk am Vorabend des Beginns der Moskauer Konferenz startete, zuerst am Sonntag, dann noch einmal am Mittwoch. Axel Eggebrecht gab einen Rückblick auf die Zukunft der Welt. Aus der Perspektive des Jahres 2047 stellt er die Frage "Was wäre, wenn ...?" Was wäre, wenn die Welt aus dem Zustand der Furcht vor der endgültigen Selbstzerfleischung erlöst würde? Was wäre, wenn an Stelle von Konferenzen in den ausgefahrenen Geleisen der traditionellen Diplomatie die Vernunft siegte?

Wir sind noch nicht im Jahre 2047, aber es sind schon siebzig Jahre vergangen, seit dieser Artikel im ➱Spiegel erschien. Und die Frage Was wäre, wenn an Stelle von Konferenzen in den ausgefahrenen Geleisen der traditionellen Diplomatie die Vernunft siegte? ist bisher noch nicht beantwortet. Heute vor siebzig Jahren sendete Axel Eggebrecht das Radio Feature Was wäre, wenn ... Ein Rückblick auf die Zukunft der Welt, es war das erste deutschsprachige Feature. Eggebrecht hat für diese neue Form am 8. November 1945 einen Aushang an das Schwarze Brett des Nordwestdeutsche Rundfunks in Hamburg gepappt, den ich einmal hier wiedergebe:

Talks and Feature[s] Dpt. Hamburg, den 8. November 1945

Über Hörfolgen (Features)

1. Voraussetzungen für das Schreiben einer Hörfolge: Der Verfasser muß sein Thema kennen und lieben, ehe er beschloß oder beauftragt wurde, es zu schreiben. Kaum eine andere Funkarbeit braucht so viel Vertrautheit mit dem Gegenstand, so viel Lust zur Sache, wie diese.

2. In jeder Hörfolge muß der Druck einer lebendigen Gesinnung spürbar sein. Das heißt nicht, daß wir lauter politische Features machen wollen (vor denen wir bei richtiger Gelegenheit keine Angst haben). Aber wir wollen nicht vergessen, welche große und beglückende Aufgabe hier gestellt ist: Wir können mithelfen bei der Umformung und Neuerziehung der Menschen, vor allem der jungen Menschen, für die alles das eine Ergänzung der durchlöcherten Schulbildung bedeutet.

3. Daraus ergibt sich eine andere Verpflichtung, die sich eigentlich von selbst versteht, heute aber bewußt gemacht werden muß: Diese halbstündigen Sendungen sollen Muster guter deutscher Sprache sein. Kämpfen wir gegen die Sprachverlotterung.

4. Die Form einer Hörfolge wird umso besser gelungen sein, je deutlicher sie sich von Nachahmung eines Hörspiels unterscheidet. Eine Hörfolge ist kein Kleindrama. Sondern dramaturgisch erzählte Epik.

5. Also äußerste Beschränkung der Dialoge! Wenn sie ein Sechstel des Ganzen einnehmen, ist es besser, als wenn sie [ein] Drittel füllen. Sonderfälle müssen zwingend aus dem Thema begründet sein.

6. Dennoch gibt es reichliche Möglichkeiten, um bei jedem Stoff Spannung und Auflockerung zu erreichen. Ein paar Anregungen:

a) Ein gedrängter, ja gehetzter Sprachstil kann selbst ein gewichtiges Thema überraschend beleben.

b) Das Präsens (in der reinen Epik von zweifelhaftem Wert) ist häufig die gegebene Zeitform für die Grammatik des Feature-Schreibers.

c) Möglichst keine erfundenen Gespräche berühmter Leute! Ganz lassen sie sich nicht vermeiden, sicher. Aber wie können wir unsere kleinen Worte Goethe, Dostojewskij oder Cromwell unterschieben? Viel eher dürfen wir z.B. die vermutlichen Gedanken einer geschichtlichen Gestalt aufschreiben. In einer besonderen, abgerissenen, gleichsam notierenden Form, aus der klar die Erfindung erkennbar ist. Idealforderung: Dialoge und Äußerung eines Großen nur aus dessen Werken, Briefen und überlieferten Gesprächen nehmen!

d) Kommentar und Polemik nicht in den Mund der "Helden" legen. Sondern Äußerungen unbedeutender Zeitgenossen bringen: Marktfrau, Portier, Pamphlet, erfundene Briefe, Zeitungsartikel, Gespräche mit Dritten. Ein ganzes Arsenal!

e) Ein wichtiger Punkt: Hörfolgen sollten von vornherein in zwei oder drei ganz verschiedenen Stilen geschrieben werden. Tatsachenbericht und Lebensdaten - Seelenzustand - Landschaft und Umwelt: jedesmal ein anderer Stil. Also nicht darauf verlassen, daß nachher verschiedene Sprecher den gleichförmig hinfließenden Text schon beleben werden!

7. Künstler (ob sie nun Dichter, Musiker, Bildhauer oder Maler sind) werden erst durch ihr besonderes Leben geeignete Hörfolgen-Gestalten. Ihre Werke sollen dies Leben illustrieren.

8. Um ein einzelnes Kunstwerk ließe sich ein Feature nur schreiben, wenn Entstehung oder späteres Schicksal des Kunstwerks interessant sind, nicht aber nur, weil es ein großes Kunstwerk ist. Ähnliches gilt für große Ideen. In einer Hörfolge werden sie durch ihre Wirkung klargemacht und nicht durch Beschreibung und Erörterung ihrer Tiefe oder Neuartigkeit.

9. Hörfolgen sollen niemals versuchen, vollständige Biographien zu ersetzen, sie geben einen oder einige wesentliche Ausschnitte. Diese müssen freilich so gewählt sein, daß sie ausstrahlend schon ein Licht auf das Ganze werfen, das wir in einer halben Stunde ausleuchten können; daß sie den Hörer begierig auf mehr machen ...

10. Ein gute Hörfolge braucht im allgemeinen nicht mehr als 10 bis 12 Unterteilungen in der halben Stunde zu haben.

Axel Eggebrecht


Radio Features, die eine Mixtur von Hörspiel, Dokumentation und Reportage sind, haben die Engländer in den dreißiger Jahren erfunden. Und die haben 1945 im Hamburg beim Nordwestdeutschen Rundfunk das Sagen (die Karte zeigt in Grün das Sendegebiet des NWDR). Man kann das noch oben auf dem Paper mit den zehn Geboten für das Feature (von denen auch vieles ein Gebot für Blogger sein sollte) von Axel Eggebrecht sehen: Talks and Feature[s] Dpt. Hamburg steht da. Es ist ein Glück für den Sender, das Hugh Greene (der Bruder von ➱Graham Greene) dort der Chef wird. Er wollte, dass der Rundfunk völlig unabhängig sein sollte und Politiker kein Mitspracherecht haben sollten. Als er Hamburg verlässt, um Chef der BBC zu werden, wird er wieder einmal eine Rede gegen den staatlichen Einfluss halten: In meiner Rede im großen Konzertsaal, wo ich mich vor mehr als zwei Jahren zum ersten Mal an die NWDR-Mitarbeiter gewandt hatte, unterstrich ich - dies übrigens weder zum ersten noch zum letzten Mal - dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk staatlichen und parteipolitischen Zwängen so weit wie möglich entzogen sein muss... Als ich vom Podium herunterkam, knurrte mir Herr Brauer, der Bürgermeister von Hamburg, leise, aber unüberhörbar feindselig ins Ohr: »Sie werden Ihr Ziel nicht erreichen, Mr. Greene. Sie werden es nicht erreichen.«

Das Radio Feature gibt es bei der ➱ARD heute immer noch: "das ARD radiofeature" ist Qualitätsjournalismus und Radiokunst zugleich. Es ist Kraftfeld des öffentlich-rechtlichen Radios, Dokumentationszentrum mit akustischem Mehrwert und bietet Information und Hörerlebnis aus einem Guss. Hören, was dahinter steckt! Jedes Feature gibt es nach der ersten Ausstrahlung ein Jahr lang zum Download, Nachhören und als Podcast. Die Sprache ist in dieser Selbstbeschreibung der Radiokunst allerdings eine andere geworden. Axel Eggebrecht konnte sich klarer ausdrücken. Ich bin mit dem Radio und mit Axel Eggebrecht aufgewachsen, und ich bin dankbar dafür.

Ich möchte da noch eine kleine Gehässigkeit anfügen, die schon in dem Post ➱Axel Eggebrecht steht: ... er war eine Institution, die nicht wegzudenken war. Eine Woche, ohne Axel Eggebrecht mit seiner unnachahmlichen Stimme gehört zu haben, war keine Woche. Irgendwie verkörperte er den letzten Rest des Geistes der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Er brachte Bildung und Vernunft in seine Sendungen. Das alles ist verloren gegangen. Der NDR ist vor wenigen Tagen in einer Medienanalyse als bester Sender im Norden herausgestellt worden, wie der Intendant Lutz Marmor stolz vor der Presse bekannt gab. Lutz Marmor verdient 286.000 Euro im Jahr, und das Niveau seines Senders ist flach wie das Land. Ich weiß nicht, ob Axel Eggebrecht für seine Radioarbeit in seinem ganzen Leben soviel Geld bekommen hat, wie Lutz Marmor in einem Jahr kriegt.

1 Kommentar:

  1. Typisch gestern ein Schreiben des NDR, auf die Frage, warum man in einem Beitrag die klassische Musik übergehe: es ist Aufgabe des Fernsehens, das zu zeigen, was der Masse des Publikums gefällt.
    Dann ist natürlich Nena wichtiger als Bach, Mozart oder Beethoven.

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