Dienstag, 29. März 2022

Hundedagekongen

Das hier ist der Däne Jørgen Jürgensen wie er sich 1808 von Christoffer Wilhelm Eckersberg hat malen lassen. Man nimmt an, dass das Bild von Eckersberg ist, ganz sicher ist man sich da nicht. Jürgensen, der am 29. März 1780 in Kopenhagen geboren wurde, kommt aus einer berühmten Uhrmacherfamilie, sein Vater ist der Uhrmacher des Königs und sein Bruder Urban wird einer der berühmtesten Uhrmacher Europas werden. Aber der Jørgen, der will kein Uhrmacher werden. Er möchte zur See fahren. Sein Vater erlaubt es ihm. Als Eckersberg dies Bild malt, ist Jørgen schon mehr als zehn Jahre auf den Weltmeeren unterwegs, meist auf englischen Schiffen.

Er wird für einen kurzen Augenblick berühmt werden, wenn er in den heißen Sommertagen des Jahres 1809 in Island den dänischen Gouverneur absetzt und sich zum Herrscher des Landes macht und eine Flagge für sein Reich entwirft, blau mit drei Stockfischen drauf.  Hundedagekongen wird man ihn später nennen, den König der Hundetage. Seine Herrschaft über Island dauert nur neun Wochen, die heißen Hundstage lang. Dann kommen die Engländer und nehmen seine Exzellenz mit. Er wird nie wieder nach Kopenhagen zurückkehren, er wird in Tasmanien sterben. Ich lasse den Rest seines abenteuerlichen Lebens einmal aus, Sie können alles darüber in dem wunderbaren Buch von Sarah Bakewell The English Dane lesen. Es war ein Buch, das die Buchhändlerin und Biblothekarin berühmt machte. Eigentlich hätte ihr erstes Buch The Smart sie schon berühmt machen können.

Ihre nächsten beiden Bücher nach The English Dane machten sie weltberühmt. Ihr Buch über Montaigne, das die beste Einführung in Leben und Werk des Philosophen ist, gewann in England den National Book Critics Circle Award und den Duff Cooper Prize. Sechs Jahre später erschien ihr Buch über die Existentialisten, über das der Guardian sagte: Sarah Bakewell recounts the story of existentialism with wit and intelligence, offering a fresh take on a discipline often deemed daft and pretentious. Ich habe das schöne Buch schon in dem Post Exis gewürdigt. Und ihr Buch über den Hundstagekönig habe ich schon 2010 in dem Post Biographien erwähnt.

In Australien hat Jørgen Jürgensen seinen Namen in Jorgen Jorgensen geändert, mit dem dänischen ø haben die da ja ihre Schwierigkeiten. Das Australian Dictionary of Biography hat einen Artikel über sein Leben, der viel zuverlässiger als der Wikipedia Artikel ist. Jürgensens Autobiographie kann ich Ihnen natürlich auch anbieten. Und dann kann ich noch die schöne Seite des Reading Museum empfehlen. Diese von Jürgensen selbst gemalte Karikatur besitzt das Nationalmuseum von Island in Reykjavik, es ist ein rätselhaftes Bild. Ein Mann mit wirren Haaren im weißen Kleid wie ein kleiner Engel, der einen grünen Palmzweig in der Hand hält. Jørgen Jürgensen ist von Historikern mit einem Kometen verglichen worden. In seiner Autobiographie wird er 1835 schreiben: I have had my full share of days, and little is there in this world to care for. All human wisdom is vanity if not regulated by prudence. One error leads to another, and every deviation from the straight path is sure to lead the strayed sheep into the masses of a labyrinth.


Samstag, 26. März 2022

der Krieg kommt nicht in die Bücher


Future years will never know the seething hell and the black infernal background, the countless minor scenes and interiors of the secession war; and it is best they should not. The real war will never get in the books, hat der amerikanische Dichter Walt Whitman, der heute vor hundertdreißig Jahren starb, geschrieben. Er wusste, wovon er redete. Er hatte Verwundete in den Lazaretten des Bürgerkriegs gepflegt. Es dauert seine Zeit, bis ein Krieg in die Bücher kommt, aber der Krieg war immer in der Literatur. The real war will never get into the books ist die Überschrift des letzten Kapitels in Whitmans autobiographischen →Specimen Days von 1865, das Buch wird er erst 1876 weiterschreiben. Die zeitgenössische amerikanische Literatur war während des Bürgerkrieges und der Zeit der reconstruction sehr zurückhaltend damit, den Krieg zu beschreiben. The Unwritten War hat der amerikanische Professor Daniel Aaron sein Buch über die Literatur des Bürgerkriegs genannt. Gut, wir haben Ambrose Bierce, der →What I Saw at Shiloh schreiben konnte, weil er bei Shiloh dabei war. Herman Melville hat seine →Battle-Pieces geschrieben, Whitman seine Gedichte. Wir haben John William DeForest, der →Miss Ravenel's Conversion from Secession to Loyalty schreibt, und der einen unbekannten Realismus in den amerikanischen Roman bringt:

A quarter of a mile further on they found a second surgeon similarly occupied, from whom Van Zandt obtained another deep draught of his favorite medicament, rejecting chloroform with profane politeness. Colburne refused both, and asked for water, but could obtain none. Deep in the profound and solemn woods, a full mile and a half from the fighting line, they came to the field hospital of the division. It was simply an immense collection of wounded men in every imaginable condition of mutilation, every one stained more or less with his own blood, every one of a ghastly yellowish pallor, all lying in the open air on the bare ground, or on their own blankets, with no shelter except the friendly foliage of the oaks and beeches. In the centre of this mass of suffering stood several operating tables, each burdened by a grievously wounded man and surrounded by surgeons and their assistants. Underneath were great pools of clotted blood, amidst which lay amputated fingers, hands, arms, feet and legs, only a little more ghastly in color than the faces of those who waited their turn on the table. The surgeons, who never ceased their awful labor, were daubed with blood to the elbows; and a smell of blood drenched the stifling air, overpowering even the pungent odor of chloroform. The place resounded with groans, notwithstanding that most of the injured men who retained their senses exhibited the heroic endurance so common on the battle-field.

Hemingway hat DeForests Roman als das überzeugendste Werk des Bürgerkriegs bezeichnet, doch die literarische Bewältigung des Krieges wird erst viel später kommen. Stephen Cranes →The Red Badge of Courage erscheint dreißig Jahre nach dem Kriegsende, Gone with the Wind im nächsten Jahrhundert. Als vielleicht interessantester historischer Roman des Civil War ist Michael Shaaras →The Killer Angels aus dem Jahre 1974 zu nennen.

Der Krieg, den Whitman erlebte, war nach dem Krimkrieg der zweite industrielle Krieg der Geschichte, die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts wird es nie wieder geben. Es war nicht mehr die Zeit der Kavallerie, es war die Zeit der Kanonen und der Massenvernichtung. Die Zahl der Toten geht in die Millionenhöhe. Die Schlacht von Cold Harbor nimmt Verdun vorweg. Nach jedem Krieg gibt es Stimmen, die sagen: Nie wieder Krieg. Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, steht in der Charta der Vereinten Nationen. Das war 1945. Rußland gehörte zu den Gründungsmitgliedern der United Nations.

Ich bin noch im Krieg geboren, bin in der Nachkriegszeit in dem von den Amerikanern besetzten Bremen aufgewachsen. Ich habe noch etwas von dem unsagbaren Leid mitbekommen. Viele Väter waren gefallen oder waren Kriegsversehrte wie mein Vater. Sieben Durchschüsse in Rußland, da war für den Leutnant der Reserve der Krieg zuende. Viele Häuser waren zerstört. Viele Familien beklagen Tote. Die erste Liebe meiner Mutter, ein Unteroffizier namens Hans Bünte, gefallen vor Rotterdam, Tante Margrets Neffe, der Hauptmann der Reserve Georg K., bei Tscherkassy, kurz nachdem er das Ritterkreuz gekriegt hatte, Omas junger Cousin Ludwig in Nordfinnland, Vatis Bruder irgendwo in Russland, Werners Bruder in Lyon. Sie liegen verstreut über Europa, die Familien wären glücklicher, wenn sie wüssten, wo die Gräber sind. Meine Jugend war das Nachkriegsdeutschland, waren Ruinen, gerettete Photoalben und viele Erzählungen. Alle erzählten vom Krieg. Wenige von der Zeit vorher. Was wäre das für ein Material gewesen, wenn ein Historiker das damals aufgeschrieben hätte! Später in der Oberschule hatte dieser Krieg, dessen Auswirkungen wir alle noch kannten, beinahe nicht stattgefunden. Da gab es den Punischen Krieg, da lasen wir Caesars De Bello Gallico, doch das Kriegsende in Bremen war kein Thema des Unterrichts. Warum ist damals niemand auf die Idee gekommen, so etwas wie Kempowskis Das Echolot: Ein kollektives Tagebuch zu schreiben? The real war will never get in the books.

Jetzt ist wieder Krieg. Wird jemand über ihn schreiben? Wir wissen nicht, was kommt. Wir wissen nicht einmal, was wirklich geschieht. Es ist auch ein Krieg der Wörter. Putin beweist uns, dass George Orwell mit 1984 Recht hatte: War is peace Freedom is slavery Ignorance is strength. Der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkachenko hat in einem Lyrikportal Poesie der Freiheit dazu aufgerufen, Gedichte über den Krieg zu schreiben: Jedes Gedicht, jede Zeile, jedes Wort ist bereits ein Teil der ukrainischen Geschichte. Nach unserem Sieg müssen sich zukünftige Generationen an das erinnern, was wir durchgemacht haben, und sich von Mut und heldenhaftem Kampf inspirieren lassen. Schließen Sie sich dem kulturellen Erbe an und fügen Sie Ihre Werke hinzu, denn wir wissen mit Sicherheit, dass die Kriege eines Tages vorbei sind und die Poesie nicht. Vielleicht sollte jemand das Sonett von Andreas Gryphius ins Ukrainische übersetzen und auf die Seite stellen:

Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun /
Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret.
Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret.
Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun /
Die Jungfern sind geschänd’t / und wo wir hin nur schaun
Ist Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret.
Hir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr / als vnser Ströme Flutt /
Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen.
Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen.

Dienstag, 22. März 2022

Kelly ✝


Ich habe einmal Janosch gesehen. An einem schönen Sommertag stand er draußen in der Sonne vor der Buchhandlung von Wolfgang Erichsen. Das ganze Schaufenster war mit Janosch Büchern dekoriert, und er war wohl hier, um Bücher zu signieren. Aber weil es ein schöner Sommertag war, war niemand gekommen, die Dänische Straße war menschenleer. Und so stand Janosch vor dem Laden in der Sonne. Er trug Jeans, ein hellblaues ausgebleichtes Jeanshemd und hatte eine Zigarre in der Hand. Er wirkte, als sei er ganz weit weg. Vielleicht in Panama. Fünfzig Meter weiter traf ich Kelly vor seinem Laden. Ich habe eben Janosch gesehen, sagte ich. Wer ist Janosch? fragte er. Wir haben dann über Fußball geredet. Oder Bluegrass. Kelly hatte weitreichende Interessen, aber Tigerenten gehörten nicht dazu.

Michael Rieckhof, der vor Jahren meinem Freund Kelly den Laden in der Dänischen Straße abgekauft hat, hat mich gerade angerufen, um mir zu sagen, dass Kelly gestorben ist. Er ist fünfundachtzig Jahre alt geworden. Nachdem seine Frau gestorben war und seine Tochter einen belgischen Grafen geheiratet hatte, lebte er in Portugal, den Golfplatz im Rücken, den Atlantik vor sich. Kauf Dir doch endlich mal einen Computer, habe ich ihm vor Jahren gesagt. Dann kannst Du meinen Blog lesen, Du kommst da ständig drin vor. Aber Computer waren nicht seine Welt. Im letzten Jahr hat er mir noch eine Karte von einer Weltreise mit einem Luxusliner geschickt. Ich stelle heute etwas ein, das ich vor neun Jahren geschrieben habe. Es ist eine kleine Geschichte der deutschen Herrenausstatter, ich glaube, es ist auch ein schöner Nachruf für ihn. Viele der hier erwähnten Firmen und Läden gibt es inzwischen nicht mehr, die Welt der Mode ist eine schnelllebige Welt. Aber Kelly's in Kiel ist immer noch da.

Also, ich hätte das Jackett nicht gebraucht, das ich am letzten Sonntag auf dem Flohmarkt kaufte. Die Schränke sind voll mit Jacketts. Aber dies hier war reine Nostalgie. Hatte ein Label mit dem Namen Tyrone. Und kostete nur zehn Euro. Die nette blonde Frau, die mir das Teil verkaufte, verstand etwas von Stoffen, weil sie früher damit gehandelt hatte. Wir waren uns einig, dass dies eine tolle Baumwollqualität sei. Bei Raffaele Caruso nannte sich so etwas mal aus unerfindlichen Gründen Old Cotton. Knittert natürlich auch, aber knittert edel, wie der blöde Spruch von Boss sagte: Leinen knittert edel. Den ersten Leinenanzug habe ich Anfang der sechziger Jahre in Hamburg im Alsterpavillon gesehen, trug ein eleganter grauhaariger Typ, der eine Schönheit vom Typ Brigitte Bardot als Trophäe mit sich führte. Brigitte Bardot Kopien gab es damals ja häufiger als Leinenanzüge. Wie kann man nur so herumlaufen? entrüstete sich meine Mutter. Ich fand das damals cool, denn in der Welt von so ungeheurer Korrektheit der Adenauerjahre, in der dank steifer Einlagen alles formtreu war und nichts knitterte, erschien mir dieser zerknitterte Leinenanzug wie eine modische Befreiung. Die Idee hatten Giorgio Armani und Massimo Osti später auch. Ich schon vorher, als ich meine Oma fragte, ob sie mir aus meinem Tweedjackett die Einlagen herausnehmen könne. Sie hat sich leider geweigert.

Es ist Jahrzehnte her, dass ich zum ersten Mal das Label Tyrone an einem Jackett sah. Was ist das denn für 'ne Firma, fragte ich Kelly. Du, das ist eine neue Marke, interessante Sache. Kelly fand immer neue Marken und interessante Sachen. Er hieß natürlich nicht Kelly, das war nur sein Spitzname. Weil er so gut tanzen konnte. Wie Gene Kelly. Seine Tochter Alexandra, die sich in London mit einer Gräfin Bismarck ein Apartment teilte, hat ihn mal ins Annabel's geschleppt, da hat er den ganzen Abend mit Diana getanzt. Die war ja sowas von glücklich, dass da mal jemand war, der richtig tanzen konnte und ihr nicht immer auf die Füße trat. Hat er mir erzählt, er war ein großer Geschichtenerzähler. Nicht alle seine Geschichten waren wahr, aber ich glaube, dass diese stimmte.

Der Laden, den Kelly in den siebziger Jahren in der Dänischen Straße gegenüber vom ehemaligen Kunsthistorischen Institut aufmachte, hieß natürlich Kelly's. Vorher war in dem Laden ein Marineschneider drin, der immer Uniformen und Colanis (benannt nach der Kieler Firma Berger & Colani, die die kaiserliche Marine belieferten) im Fenster hatte. Und Mützenbänder, genau wie die von meinem Onkel Gustav, der auf der Großherzogin Elisabeth gefahren war. Bei der Marine ändert sich modemäßig auch nie was. Die Sektsteuer, die von Willem II für den Bau von Schlachtschiffen eingeführt wurde, ist auch immer noch da. Obwohl wir keine Schlachtschiffe mehr haben. Nur der Kieler Knabenanzug ist ein bisschen aus der Mode gekommen.

Kelly hatte 1970 - gleichzeitig mit Leuten wie Dietmar Kirsch, Thomas Friese (Thomas-I-Punkt), Dolf Selbach oder Heinrich Zapke - eine Marktlücke entdeckt. Denn vorher gab es in Kiel keine wirkliche Herrenmode, nichts Vergleichbares mit Bremen oder Hamburg. Gut, es gab einen Hettlage & Lampe, die auch einen kleinen separaten Men Shop hatten. Hela hieß dann eines Tages Ansons und damit verschwand der etwas luxuriösere Men Shop. Das älteste Fachgeschäft war ein gutbürgerlicher Laden namens Witte. Den gibt es immer noch, und er ist immer noch ein gutbürgerlicher, gut sortierter Herrenausstatter, bei dem man durchaus einkaufen kann. Inzwischen gibt es auch Witte 2 (jünger und modischer) und einen Witte für die elegante Dame. Alles andere ist verschwunden: Albertus Becker (wo ich mal im Ausverkauf einen tollen englischen Driway Regenmantel kaufte), Anzug Meyer (immer todlangweilig), die drei Schneider und die drei Marineausstatter. Dafür haben wir aber heute Peek & Cloppenburg (die auch mal einen kleinen Luxusshop hatten) und Ansons. Und so etwas wie Nortex in Neumünster. Und natürlich H&M, Zara, Engbers, TK Maxx und all dieses Zeug. Das Verschwinden der Herrenschneider und der kleinen Herrenausstatter und die Hinwendung der Kunden zu Läden wie Ansons und diesen scheußlichen Dingern in Gewerbegebieten (die sich aus irgendeinem Grund Designer Outlets nennen) und den Monolabel-Stores sind keine Kieler Eigenart, es gibt sie überall.

Kleine Herrenausstatter (die im amerikanischen Englisch haberdasher heißen) wie der Laden, den Kelly gründete, sind eine bedrohte Spezies. Manche haben sich inzwischen zu einer Gruppe wie dem Masculin Modekreis zusammengeschlossen. Das mag exklusiv scheinen, aber man findet dann doch von Hamburg (Braun) und Bremen (Stiesing) bis Trier (Fabius) die gleiche Ware in den Schaufenstern. Wahrscheinlich sollte man die Herrenausstatter unter Denkmalschutz stellen. Das wäre sowieso mal ein wirkliches Desiderat: ein Modegesetz. Und eine clothes police, die alle den guten Geschmack beleidigenden Leute von der Straße holt, wenn jemand call wardrobe gerufen hat.

Den Laden mit dem Namen Kelly's gibt es heute noch. Kelly hat ihn vor fünfzehn Jahren seinem Geschäftsführer Michael Rieckhof verkauft und spielt jetzt in Portugal Golf. In einer Umfrage nach den besten Herrenausstattern der Republik steht Kelly’s auf Platz 20 der fünfundzwanzig Besten in Deutschland. Das Äußere des Ladens hat sich nicht geändert, das Geschäft hat seine Wohnzimmeratmosphäre behalten. Kein Marmor, Chrom und Glas, wie all diese sterilen neuen Läden, die in der Postmoderne und der Zeit der Armani-Pest aus dem Boden schossen, mit diesen arroganten Schnöseln als Verkäufer da drin.

Die Dänische Straße ist zur Fußgängerzone geworden, die Straßenbahn (Linie 2), die hier längs fuhr, gibt es schon lange nicht mehr. Keith, der in der Straße ein Büro hat (auf dem Schild unten am Haus steht nur ichfahrealsobinich und autosapiens), parkt sein grünes Bentley Coupé oder den ingridgrauen Ferrari (oder was er gerade fährt) immer frech vor dem Laden, obgleich er eigentlich gar nicht in die Straße fahren darf. Aber so eine dunkelgrüne Corniche vorm Laden sieht immer gut aus und passt ins Ambiente. Wahrscheinlich bezahlt ihm Michael Rieckhof die Tickets und setzt sie als Werbungskosten ab.

Eigentlich wollte Kelly Fußballer werden, hatte auch schon einen Vertrag bei einem Oberligaverein in der Tasche. Aber dann hat er in Düsseldorf diese bildschöne Frau kennengelernt, und die hat gesagt, dass vielleicht etwas aus ihnen werden könnte. Aber nicht mit einem Fußballer. Da hat er dann an der Textilfachschule Nagold Herrenkonfektion gelernt. Man konnte mit ihm über alles reden, über Fußball, Django Reinhardt, Jazz und Country & Western Musik. Und über Frauen. Obwohl er diese bildschöne Ehefrau hatte, hatte er irgendetwas von Don Giovanni an sich, er liebte es im Sommer in der Ladentür zu stehen, watching the girls go by.

Wir reden natürlich auch viel über Mode. Er kauft extravagante Dinge ein, manchmal verkauft er sie auch ungern, er hängt an ihnen. Sein Laden bekommt mit den Jahren beinahe etwas von einem Kostümmuseum. Es ist heute ein klein wenig stromlinienförmiger geworden. Aber manchmal sehne ich mich nach dieser Zeit zurück, als der Laden einem Theatergarderobenfundus glich. Kelly lässt mich hinter die Kulissen des Geschäfts und der Branche schauen, ich darf bei hunderten von Gesprächen mit Vertretern, Stoffhändlern und Schneidern dabei sein. Sie alle haben Geschichten zu erzählen, es ist alles viel interessanter als an der Universität. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass dieser Laden hier meine Uni war. Er hat heute immer noch mehr von der Atmosphäre eines Wiener Kaffeehauses als von einem schnöden Klamottenladen an sich. Man trifft sich da, und schnackt miteinander. Ich habe da schon intelligentere Gespräche geführt als in der Universität.

Kelly fängt mit Italienern an, Hilton und Nervesa, Nervesa gab es eines Tages bei ihm nicht mehr, weil die Italiener nicht mehr liefern konnten. An Hemden gab es Truzzi, Borrelli  und Lorenzini. Und die gerade neu gegründete Firma Orian, die Hemden mit rundem Kragen im Programm hatte. Italiener waren damals neu in Deutschland. Obgleich Hans Kalich in der Böttcherstraße in Bremen, von dem mein toller Trenchcoat stammte, schon in den sechziger Jahren auf sie setzte - das hat nicht erst mit Dolf Selbach angefangen, wie immer behauptet wird. An deutschen Firmen gab es Windsor (damals neben Regent das Beste in Deutschland), und es gab erstklassige Dänen. Hobson of Copenhagen und Christonette, die tolle Mäntel machten. Von der Firma Winkler's Mayfair of Copenhagen, von der ich drei rattenscharfe Flanellhosen hatte, habe ich leider nie wieder gehört. An Engländern gibt es eines Tages Chester Barrie, Daks und Magee. Magee gibt es da heute noch, und über diese Firma in Donegal schreibe ich gerne noch einmal. Irgendwann gibt es bei ihm Raffaele Caruso, Kiton (in kleinen Stückzahlen) und Zegna. Und er reduziert in den Ausverkäufen beinahe alles jahrelang radikal. Auf jeden Fall in den ersten Jahren. Die Leute kommen aus Hamburg angereist, um sich im überfüllten Laden um die Teile zu kloppen. Facebook gab es noch nicht, aber die Ausverkäufe bei Kelly's sprachen sich wie ein Lauffeuer herum.

Man wusste nie, welche Marken bleiben würden, es hing auch ein wenig von seinen Launen ab. Und sicherlich auch von den Margen, die die Hersteller ihm einräumten. Manchmal war auch eine gewisse Portion Wut mit manchen Marken verbunden, denn häufig wurden Firmen ja erst durch die Initiative der Ladenbesitzer gehätschelt und bekannt gemacht. Und dann findet sich plötzlich das ganze Angebot der Marke bei P&C. Oder ein Händler, der Zegna erst groß gemacht hat, hat plötzlich einen Zegna Flagship Store neben seinem Laden. Da kann man die Verbitterung verstehen. Windsor flog bei Kelly eines Tages raus, weil Kelly eine unüberwindliche Aversion gegen den Jochen Holy hatte, der Windsor gekauft hatte.

Und weil Torsten Riemer um die Ecke einen Laden aufgemacht hatte, der stark auf Windsor und ein Yuppie-Publikum setzte. Also dieses Publikum, das damals im Quadrat in der Schlossstraße den Tag verbrachte, und das nur in Läden mit einer Inneneinrichtung von Stahl, Chrom und Designerleuchten kaufte. Kellys Geschäft florierte vom Start weg, weil dies die modeverrückten siebziger und achtziger Jahre waren, und alle Welt wie bescheuert Klamotten kaufte. Und es plötzlich Designer gab. Vorher waren Designer ja etwas, das man mit dem Victoria & Albert Museum, dem Arts and Crafts Movement, Wilhelm Wagenfeld, Max Bill oder Dieter Rams verband. Jetzt waren es Italiener, deren Namen viele nicht richtig aussprechen konnten. Bis heute nicht. Da war Julia Roberts in Pretty Woman nicht die einzige, die mit dem Namen Versace Schwierigkeiten hatte.

In der Geschichte der Herrenmode gab es bis dahin wenige trademarks - in der Damenmode ist das anders, seit dem Augenblick da Charles Frederick Worth in Paris Etiketten in seine Kreationen nähte. Kein Kunde hätte in den sechziger Jahren etwas mit Marken wie Standop, Odermark oder Napieralla anfangen können. Man vertraute seinem Herrenausstatter, dass er etwas Vernünftiges eingekauft hatte. Lediglich die Miltenberger Kleiderwerke - Kleide Dich besser Trage MKW Modellkleidung - warben damals mit den Filmschauspielern Curd Jürgens und Claus Biederstaedt. Und mit Peter Frankenfeld, diesmal ohne seine karierten Sakkos. In England war das vielleicht etwas anders, da hier Firmennamen wie BurberryDaks/Simpson oder Aquascutum als household words etabliert waren. Die Namen standen auch für Qualität - was bei Designern ja nicht unbedingt der Fall war. Der erste und einzige Armani Anzug, den sich Prince Charles je kaufte, kam in Einzelteilen aus der Reinigung zurück.

Während es bis dahin für den Gentleman eine Selbstverständlichkeit war, dass sein Schneider ihm keinerlei Etiketten in das Jackett genäht hatte (höchstens in die Innentasche), wurden Designerlabels jetzt zur Schau gestellt. Die Presse berichtete süffisant über einen Kanzler namens Schröder, der vollproll mit aufgerissenem Jackett durch den Flieger lief, damit jeder das Firmenetikett bewundern konnte. Damals war das erst Zegna, später Brioni. Manche Männer trennten auch die kleinen auf den Ärmel genähten Firmenschilder nicht ab und liefen stolz damit herum. Deutschlands Antwort auf die italienischen Designer hieß Boss, die aber auch nicht lange in Metzingen produzierten. Weil jetzt jeder Designer weltweit mit Flagship Stores vertreten sein wollte. 

Als Arthur Miller in den fünfziger Jahren zum ersten Mal das Wort lifestyle hörte, gab er dem Wort keine große Lebenserwartung. Musste aber später zugeben, dass er sich da getäuscht hatte. Wenn irgendetwas jetzt vermarktet wurde, dann war es ein lifestyle. Die Peacock Revolution der Sixties und Seventies hatte Witz und Ironie, jetzt wurde aus der Mode eine ernste Sache. Wahrscheinlich waren die letzten Aussteiger aus Poona zurückgekehrt und suchten jetzt neue Gurus. Sie fanden sie in den Designern. Nichtssagende Sätze wie you are what you wear bekamen plötzlich den Charakter eines Gebots. Derjenige, der im 1977er Heft Manstyle: the GQ guide to fashion, fitness, and grooming den bescheuerten Satz dressing well is the best revenge schrieb, hat etwas zu verantworten. Die englische Sprache wurde um eine Vielzahl von Begriffen und Redensarten bereichert: mall rat, fashion victim, shop till you drop, I shop therefore I am und so weiter ad infinitum. Alles, was man trug, war plötzlich ein fashion statement, und man war am besten gewappnet, wenn man(n) power suits trug. Dann sah man so aus, wie die Herren auf der Boss Reklame.

Der mit dem Grübchen am Kinn war das erste immer wiederkehrende Boss Model (kein Deutscher, sondern ein Amerikaner namens Michael Flinn), die Metzinger Antwort auf den Marlboro Man. Oder die postmoderne Antwort auf die monumentale Männlichkeit von Arno Brekers Skulpturen. Aber nichts hielt in dieser schönen neuen Welt ewig. Irgendwann ließ Boss ihn fallen, genau so wie Armani diese unheimlich schöne Frau aus der frühen Werbung in der italienischen L'Uomo Vogue fallen ließ. Weil sie eine eigene Meinung hatte. Armani und Frauen ist sowieso so eine Sache, aber dann Frauen mit eigener Meinung, das geht nun gar nicht.

So wie die Designer jetzt eine neue Sache waren, waren auch die Models eine neue Sache. Sie mutierten ja bald zu Supermodels, und eine ganze Industrie von Ghostwritern und Modejournalisten schrieb ihnen einen synthetischen Mythos herbei. Wobei die männlichen Models natürlich immer im Schatten der neuen Göttinnen standen, die Supermodels hießen. Kann sich noch jemand an Viktor Latscha, das Gesicht der deutschen Herrenmode der sechziger Jahre, erinnern? Es gab aber jetzt doch schon eine Vielzahl von in der Branche bekannten Dressmen wie Michael Flinn oder hier Rick Edwards, bevor Marcus Schenkenberg einen Status als Halbgott in U-Hosen bekam.

Viele begriffen den Geist der Zeit und der Designermode nicht so richtig. Sie krempelten sich ihre Jackettärmel auf wie Don Johnson in Miami Vice und fanden das cool. Das war natürlich nicht im Sinne der Designer, dass die nerds ihre Kreationen verunstalteten. Denn jetzt hatte jeder Designer passend zu den power suits seine eigene Philosophie. Der Klamottenrausch der achtziger Jahre korrespondierte mit der Erfindung der Postmoderne, anything goes. Selten wurde das Wort Philosophie so wohlfeil verramscht (ich sage jetzt nichts über Herrn Precht). Designermode zu Rezessionspreisen: Ein Kilo Versace für 498 Mark konnte man vor zwanzig Jahren in einer Bremer Zeitung lesen. Stiesing bewarb damit seinen Off-Price Laden in der Hillmann Passage. Wahrscheinlich markierte die Werbebotschaft auch das Ende des Designerwahns. Das Kilo Versace kann man heute schon sehr viel billiger kriegen. Aber wer will das schon?

Es war eine künstliche neue Welt, in der die wagemutigen Herrenausstatter, die rechtzeitig auf die Italiener gesetzt hatten, sehr gut verdienten. Bei Kelly reichte es für ein kleines Sommerhaus in der Karibik und ein Chalet in der Schweiz. Aber es war für die Modeindustrie sicherlich auch ein Haifischbecken, weil viele kleine Firmen, die originelle Mode machten, schnell wieder verschwanden. Zu denen gehörte leider auch das Label Tyrone. 1994 war in den Textilmitteilungen zu lesen: Nach Trennnung von Brinkmann-Gruppe und Odermark aus konzeptionellen Gründen, steht die vor sechs Jahren eingeführte Marke italienisch inspirierter Mode auf eigenen Füßen. Solche Sätze bedeuten nichts Gutes, und irgendwann war es mit Tyrone vorbei. Zuvor waren sie sicher bei der Friedrich W. Brinkmann GmbH & Co. KG angesiedelt (nennt sich heute bugatti Holding), die sich damals mit der Linie der Designerin Doris Hartwich noch eine kleine Extravaganz leisteten. Doris Hartwich Herrenmode gibt es heute noch. Tyrone, seit 1994 immer weiter verkauft (unter anderem an die Schweizer Firma Ritex) scheint jetzt ein Label für Kinderkleidung zu sein.

Für die Fachwelt kam die Liquidierung der Tyrone Mode Vertriebs- GmbH, Herford zum 31.12. 1993 nicht so furchtbar überraschend, denn schon im Juni 1993 hatte Brinkmann mitgeteilt, dass Tyrone in Zukunft dem Label Fariani bei der Konzerntochter Odermark zugeschlagen werde: Fariani-Kunden können die Kollektion mit Fariani-Label kaufen, Tyrone-Kunden mit Tyrone-Label. Damit verliert eine Marke natürlich ihre Identität, wenn es am Schluss der Produktionskette völlig beliebig ist, welches label in das Teil genäht wird. Andererseits: war das nicht der Kern des ganzen Designerwahns, bei dem es nur auf das Label ankam und niemand wusste, wo und wie das Teil hergestellt wurde?

Angeblich waren es zwei Topleute von Windsor, die im Zorn von Windsor schieden und mit dem Label mit dem irischen Namen Tyrone unter dem Mantel der Brinkmann Gruppe Schutz fanden. Die Geschichte kann stimmen, ich habe in den letzten Jahrzehnten eine Menge Leute getroffen, die böse Dinge über die Firma sagten, seitdem der Firmengründer Gerhard Klasing da nichts mehr zu sagen hatte. Auf jeden Fall ähnelte das Konzept von Tyrone (mit modisch, hochwertigem Anspruch) dem der Firma Windsor in den besten Tagen, englische Stoffe und italienisch angehauchter Schnitt. Als ich Michael Rieckhof letzte Woche fragte, was ihm zu der Firma Tyrone einfiel, sagte er Tolle Schultern. Und das stimmt auch, das Tyrone Jackett, das in meinen Schränken mehr als zwei Jahrzehnte überlebt hat, hat eine beinahe italienische Schulter. Gut, kein Vergleich mit Kiton, aber es ging schon in diese Richtung. Die Produktion der Linie lag bei Odermark, die ja in der Brinkmann Gruppe auch für die Maßkonfektion zuständig waren. Die auch immer Sondergrößen führten, zum Beispiel durch ihre Athletic Linie. Was es in der deutschen Konfektion schon in den dreißiger Jahren als sogenannte Sportgrößen gegeben hatte, aber die Konfektion vergisst schnell. Zum Beispiel, dass man Knöpfe richtig gut annähen kann. Seit Oscar Wilde gesagt hat Fashion is a form of ugliness so intolerable that we have to alter it every six months, muss die Konfektionsindustrie das Rad zweimal im Jahr neu erfinden.

Als es Tyrone eines Tages nicht mehr gibt, entdeckt Kelly Diniz & Cruz. Und dann wieder eine andere Firma, das wird jeder Herrenausstatter tun, der seinen Kunden nicht das graue Einerlei von P&C anbieten will. Michael Rieckhof ist auch ständig dabei, etwas Neues zu entdecken. Originalität und Kreativität waren und sind das Geheimnis des Ladens. Herrenausstatter wie Michael Jondral in Hannover, der Heinrich Zapke beerbte, oder Rudolf Böll in Rottach-Egern definieren sich nur über den Preis, Originaltät und Kreativität spielen keine Rolle mehr.

Natürlich gibt es heute immer noch Private Label Sakkos. Früher kamen die von Dressler, das machten beinahe alle Herrenausstatter so. Alle Jacketts, die Ladage & Oelke ihren Kunden als Original English verkauften, kamen von Dressler. Das ist ja auch nichts Böses, die Qualität bei Dressler (inzwischen auch bei Brinkmann gelandet) stimmte immer. Und sie hatten genügend Rümpfe im Programm, um vom Spargeltarzan bis zum Bodybuilder dem Kunden ein passendes Jackett zu bieten. Offerierten auch immer ein sehr englisch aussehendes Modell mit schrägen Taschen und Billettasche. Das musste wahrscheinlich sein, weil sie jahrzehntelang die Burberry Lizenz für Deutschland hatten. Die haben sie vor ein paar Jahren verloren, dafür aber die Lizenz von Daks bekommen. Ich habe kein englisch aussehendes Dressler Jackett im Internet gefunden (ich habe zwar noch welche im Schrank, aber ich habe keine Digicam).

Dass ich die kleine Firma Tyrone in solch nostalgischer Erinnerung habe, mag auch daran liegen, dass Kelly sich die wildesten Stücke aus der Kollektion herauspickte (ich habe erst später erfahren, dass er farbenblind war) und sie dann seinen Kunden anschnackte. So etwas tat er immer, er hatte ein Händchen dafür. Und Mut. Den braucht man auch, um mein altes Tyrone Jackett zu tragen, das aus weißen, grünen und schwarzen Karos besteht. Es passt nach knapp zwanzig Jahren immer noch. Aber nur, weil die damals so füllig geschnitten waren, kommentierte Michael Rieckhof etwas gehässig. Soll ich ihm mal sagen, dass ich die augenblickliche Mode der zu kurzen und zu engen Jacketts scheußlich finde? Dieses Photo der Dänischen Straße ist aus dem Jahre 1967, da gibt es Kelly's noch nicht. Da ist da noch der Marineausstatter Geiger in dem Haus. Ohne Uniformen sieht das Haus heute besser aus.


Sonntag, 20. März 2022

Lieder

Der zwanzigste März ist der Geburtstag zweier Frauen, die beide etwas mit dem Krieg zu tun hatten. Und die beide etwas mit Liedern zu tun hatten, die die ganze Nation kannte. Die erste ist die Schweizerin Gilberte Montavon, die 20. März 1896 in Courgenay geboren wurde, und die jeder in der Schweiz als die Gilberte de Courgenay kennen wird. Weil jeder in der Schweiz das Lied ✺La petite Gilberte de Courgenay kennt, das die Militärmusiker Robert Lustenberger und Oskar Portmann im Winter 1915/16 geschrieben haben. Diese Gilberte, die sich im Ersten Weltkrieg rührend um die Soldaten kümmert, ist im Zweiten Weltkrieg durch einen 1941 gedrehten Film zu einer patriotische Kultfigur der Schweizerischen Geistigen Landesverteidigung geworden.

Und im Jahre 1941 wurde für die am 20. März 1917 geborenene Engländerin Vera Lynn ein Lied geschrieben, das ganz England kennen wird. Und das ganz England auf das Ende des Krieges hoffen läßt. Als Vera Lynn im November 1941 das Lied ✺The White Cliffs of Dover aufnimmt, ist England ist nicht mehr allein im Krieg gegen Hitlers Deutschland, die Sowjetunion und die USA treten 1941 in den Krieg ein. In einer Strophe des Liedes heißt es:

There'll be love and laughter 
And peace ever after
Tomorrow when the world is free.

Darauf hoffte man damals. The White Cliffs of Dover wird Englands bekanntestes Lied im Zweiten Weltkrieg. 1941 ist die Battle of Britain zuende, es sind keine deutschen Flugzeuge mehr über den weißen Kreideklippen. Die deutschen Flugzeuge und die deutschen Truppen sind jetzt woanders. Die sind in der Ukraine. In der Kesselschlacht von Kiew und bei dem Massenmord von Babyn Jar. Einundachtzig Jahre später ist wieder Krieg in der Ukraine. Man kann nur hoffen, dass der Wahnsinn bald zuende sein wird. Und es wieder Liebe und Lachen, Frieden und Freiheit geben wird.

Donnerstag, 17. März 2022

Kino


Ich muss bis halb zwei in der Nacht im Kino wachbleiben, dann kann ich zum ersten Mal in meinem Leben meinen Namen auf der Kinoleinwand lesen. Im Abspann von Gabis Film über den englischen Maler Francis Bacon. Irgendwie hatte die Festspielleitung diesen Film wohl als einen loser eingestuft, so dass er als letzter bei dem Lübecker Festival gezeigt wurde. Das war mir jetzt egal, mein Name flackerte für einen Augenblick auf der Leinwand. Gabi hatte mir einen Dank ausgesprochen, weil ich ihr erklärt hatte, dass man einen Film schneiden muss. Sie hatte ihren Kurzfilm, für den sie Mittel der Frauenförderung erhalten hatte, penibel Szene für Szene nacheinander gedreht. Vom editing hatte sie noch nie etwas gehört. Und so lagen wir dann einen halben Tag auf dem Teppich vor meinem Fernseher, beide mit viel Papier und mehrfarbigen Kugelschreibern ausgestattet. Wir stoppen die Längen von Szenen und markieren auf unserem Fahrplan, wie und was geschnitten werden muss. Danach holt sich Gabi bei der AG Film der Uni einen von Kurt Denzers jungen Leuten, der ihr den Schnitt macht. Ich bin kein Regisseur, kein Praktiker, so wie Kurt Denzer das ist. Aber ich verstehe viel von Filmen, weil ich einen großen Teil meines Lebens im Kino verbracht habe. Und mein Name mittlerweile auf zahlreichen Büchern oder in Artikeln steht, die das Wort Film im Titel haben. Und meine Filmbibliothek mehrere Meter in den Bücherregalen einnimmt. Und ich besitze sogar einen Kinoschlips, den Heike mir mal geschenkt hat. Der ist aus durchsichtigem Kunststoff, innen drin kann man kleine Filmstreifen und Popcorn sehen. So was muss man als Cineast unbedingt haben.

Als ich noch klein bin, gibt es noch keine Fernsehgeräte. Aber es gibt überall Kinos. Bei uns im Ort allein drei. Eins in der Breiten Straße, wo ich auf dem Weg zur Schule immer alle Filmphotos angucke. Eins in der Gerhard Rohlfs Straße neben dem Schreibwarengeschäft Six, und dann das Roxy unten in der Hafenstraße. Und natürlich gibt es ein Kino in Grohn. Und in Blumenthal oben am Berg, wo Tante Tilla und Hannelore nach dem Tod von Onkel Gustav wohnen. Und Vati mal fünfzig Meter weiter seine Praxis hatte, als wir noch nicht in unser Haus konnten, weil da die Amerikaner drin waren. Und dann gibt es noch die vielen Kinos in Bremen. Da gibt es auch ein AKi, ein Aktualitätenkino, in dem kann man stundenlang (oder auch tagelang) drin bleiben, Kino als Endlosschleife. Normalerweise sind diese Akis in Deutschland ja am Bahnhof, um den Reisenden die Zeit zwischen zwei Zügen zu vertreiben, aber in Bremen ist es in der Sögestraße. Die Akis zeigen keine guten Filme, allerdings habe ich 1965 im AKi in der Sögestraße Francesco Rosis Augenblick der Wahrheit gesehen. Das Kino hatte sich zwar gerade in UFA Sögestraße umgetauft, ist aber eigentlich das alte AKi geblieben. Ich bin auch drin sitzengeblieben, um den Anfang des Filmes noch einmal zu sehen. Die guten Filme sind eigentlich den Erstaufführungskinos und den Lichtspieltheatern vorbehalten, in den sechziger Jahren zeigen die AKis nur noch drittklassige Western und Schmuddelfilme. Aber da sind auch andere Bremer Kinos in der Krise, zwischen 1961 und 1965 schließen neunzehn Häuser in ganz Bremen. 

Das Puschenkino zeigt seine Auswirkungen. Hollywood reagiert auf die neue Konkurrenz mit Filmen von epischer Länge und dem Breitwandformat. Günther Köpp lädt uns zu Porgy und Bess in ein neues Kino in Walle ein. Für den Film kriegt man angeblich schon keine Karten mehr, weil er solch eine Sensation ist, ein Breitwandsuperformat, Todd AO, oder wie das heißt. Und Lautsprecherbeschallung von allen Seiten. Unglücklicherweise hat Doktor Köpp nur Karten für die erste Reihe gekriegt. Rasiersitz, wie man so schön sagt. Gab es keine anderen Karten mehr, oder war er zu knickerig? Mit dem 360 Grad Rundumkrach und der riesigen flackernden Leinwand sehnte ich mich nach unserer Aula und den harten Klappstühlen zurück, die die Lürssen Werft unserer Schule spendiert hatte. Da hörte man zwar das Rattern und Schnurren des Filmprojektors im Mittelgang, und die Lautsprecher waren auch nie richtig ausgesteuert, aber dies hier war nichts für angehende Cineasten. Kurz nachdem Diahann Carroll Summertime, and the living is easy gesungen hatte, habe ich das Kino verlassen. Bin mit dem Bus in die Innenstadt gefahren und bin im studio für filmkunst in die zweite Nachmittagsvorstellung gegangen. Günther Köpp war mir hinterher wochenlang böse.

Wenn man noch klein ist und allein ins Kino darf, dann sind das Jugendvorstellungen am Sonntagmittag, die können bei Kindern offenbar keinen Schaden anrichten. Unglücklicherweise laufen in der Scala in der Breiten Straße immer nur Western mit Fuzzy. Wenn man einen davon gesehen hat, braucht man keinen zweiten zu sehen. Dann lieber Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv im Radio hören. Einmal war ich alleine in Grohn im Kino, da war es schon dunkel, als ich nach Hause ging. Das war ein bisschen unheimlich, weil die Straßenbeleuchtung in Grohn 1950 nicht so toll war, und ich mich in dem Ort auch nicht wirklich auskannte. Außerdem regnete es in Strömen. Ich war sieben, und ich war traurig, irgendwie hatte ich für einen Augenblick dieses Gefühl der Einsamkeit, das ich im Kinderheim in Norderney gehabt hatte. Bambis Mutter war gerade gestorben.

Wenn man mit den Eltern ins Kino geht, dann gibt es immer Heimatfilme. Also das, was heute ARD und ZDF jeden Sonntag in der Mittagszeit wieder hervorholen. Das sind für mich heute, wie wahrscheinlich für viele meiner Generation, Nostalgieveranstaltungen. Nicht dass meine Eltern diese Filme besonders liebten, aber man geht damals ja auch wegen der Wochenschau ins Kino. Das ist immer aufregend, das Geschehen der ganzen Welt in Schwarzweiß, mit dramatischer Musik untermalt. Und dann gibt es noch einen bildenden Kulturfilm, bevor der Hauptfilm anfängt. Die Kulturfilme sind immer das Schlimmste, so etwas Ähnliches gibt es auch im Schulunterricht. Da flackern auf den Filmen immer die Buchstaben FWU, und da weiß man schon, dass das jetzt wieder ein Lehrfilm aus Göttingen ist. Die sind noch schlimmer als Fuzzy Western. 

Jahrzehnte später werde ich einen schlimmen déjà vu Augenblick haben, wenn Kurt Denzer uns Filmwissenschaftlern von der Uni vormacht, wie ein Filmemacher einen Dokumentarfilm analysiert. Er nahm dafür den Film Glas, der sicherlich unter ästhetischen Gesichtspunkten dafür hervorragend geeignet ist, mich aber an die schlimmen Zeiten der Kulturfilme erinnerte. Denn das will man ja nicht sehen, wenn man jetzt in der Pubertät ist, man will endlich richtige Filme sehen. Sicherlich würde man gerne unbekleidete junge Frauen im Kino sehen, aber diese Sorte Kino gibt es noch nicht. In Vegesack erst recht nicht. Und Ruth Leuwerik und Sonja Ziemann würden sich auch nie nackt auf der Leinwand zeigen. Wer wollte die auch nackt sehen?

Im Kunstfilm der Zeit erregt der Busen von Ulla Jacobsen in Sie tanzte nur einen Sommer die Nation. Es ist ein anderer Film als Ich denke of an Piroschka, aber eigentlich genau so harmlos. Ulla Jacobsen war bekleidet (oder für wenige Sekunden nackt) aber viel hübscher als Lieselotte Pulver oder Hannerl Matz. Aber als ich endlich alt genug bin (oder so aussehe, als ob ich alt genug wäre), um den Film zu sehen, muss ich sagen, dass ich nicht weiß, was hier skandalös sein soll. Als wir alt genug sind, um schöne Schwedinnen im Film zu sehen (Ingmar Bergman hatte immer die schönsten Frauen), da interessierte uns das nicht mehr so sehr, weil wir da längst schöne Schwedinnen in Schweden oder Dänemark am Strand gesehen hatten. 

Diese traurige Liebesgeschichte mit dem schwedischen Sommer war aber hervorragend photographiert, mit viel Gelbfilter, was die Wolken und das Flirren der Sonne auf dem Wasser hervorragend herausbrachte. Auf solche Dinge achten wir jetzt nämlich, wir haben alle mindestens einen Photoapparat, wenn nicht sogar zwei, und wir lesen alles, was man über die Photographie bekommen kann. Wir würden ja auch alles über Filme lesen, aber damals gibt es (wenn man von Magazinen wie Film und Frau absieht) noch nicht die Literatur, die es heute zu beinahe jedem Film im überreichen Maße gibt. Wahrscheinlich gibt es bei der Explosion des Filmbuchmarktes inzwischen auch schon Dissertationen über Fuzzy. Was es gibt, ist die Illustrierte Film-Bühne, jene schlechtgedruckten braunen oder grünen Heftchen, die man an der Kasse kaufen kann. Dramatische Szenenphotos und eine kurze Inhaltangabe, aber für das Geld kann man schon bei Chiamulera gegenüber von der Scala hinterher ein Eis kaufen. Vielleicht hätte man sie doch kaufen und sammeln sollen. Die bringen auf Flohmärkten schon richtiges Geld. 

Glücklicherweise gibt es aber Reprints, die Joe Hembus herausgegeben hat. Wenn ich die Illustrierte Film-Bühne auch nicht kaufe oder aufbewahre, die Drehbücher von L’Avant-Scène, die ich in Paris gekauft habe (oder jene, die Peter mir geschenkt hat), die habe ich immer noch. Film und Frau mit den frühen Modephotos von F. C. Gundlach (hier sein Portrait von Ruth Leuwerik) hat nicht zu meiner Welt gehört, da es nicht in den Lesemappen enthalten war, die Vati für das Wartezimmer abonniert hatte, und die am ersten Tag immer von der Familie gelesen wurden. Außerdem waren es die falschen Frauen und die falschen Filme. Alles nur Glamour und high key Ausleuchtung. Heute kosten Einzelhefte auch schon leicht zehn Euro, aber das zahlen Sammler auf dem Flohmarkt auch für Familienphotos von Unbekannten aus den dreißiger Jahren. Ich frage mich immer, was sie damit wollen. Wollen sie sich eine imaginäre Vergangenheit zurechtlegen? Die Dokumentation eines Lebens in Filmen kann ich ja verstehen, denn diese Filme sind mein Leben gewesen. Aber was soll ich mit falschen Bildern?

Unser Gymnasium hat einen Schülerfilmclub, das hat jetzt wahrscheinlich jedes Bremer Gymnasium. Wenn man im Vorstand ist, darf man in Bremen bei der Landesbildstelle den Filmvorführerschein machen. Wuddel hat den natürlich. Die Filme werden vom Vorstand des Filmclubs ausgewählt, der Direktor und der Vertrauenslehrer Dr Friedrich Freese sind aber dabei. Manchmal gibt es erregte Diskussionen, wie bei dem Schimmelreiter von 1934 mit Marianne Hoppe. Es gibt Einwände, dass dies eigentlich ein Nazifilm ist, in dem Hauke Haien zu einer übermächtigen Führerfigur wird. Aber es ist auch eine Literaturverfilmung, das adelt einen Film beinahe immer. Denn im Unterricht wird ja auch gerade Der Schimmelreiter gelesen (ich lese daneben noch Aquis submersus in einer alten Reclamausgabe von Opa). Der Film ist aber hervorragend photographiert, also siegt die Filmkunst über die Ideologie. 

Das Angebot der Filme ist begrenzt, denn die wirklich guten Filme sind den Filmkunsttheatern vorbehalten, wie dem neu gegründeten studio für filmkunst am Herdentorsteinweg in Bremen oder dem Atlantis Filmtheater in der Böttcherstraße. Das wendet sich an Cineasten, also das, was wir gerade werden. Obgleich wir das Wort Cineasten noch gar nicht kennen. Der einzige cineastische Film, den wir damals sehen, ist Bardems Tod eines Radfahrers mit der wunderschönen Lucia Bosé. Und Männern in tollen Trenchcoats (von dem Sportwagen ganz zu schweigen). Schöne Frauen und tolle Trenchcoats möchte damals jeder haben, einen Führerschein haben wir noch nicht. Und der einzig tolle Sportwagen, den man in Bremen sehen kann, ist der Facel Vega kurz vorm Weserstadion. In einem Facel Vega ist Albert Camus umgekommen, das wissen wir, weil wir jetzt Exis sind, Camus und Sartre lesen und Juliette Gréco hören.

Während ich damals über alle gelesenen Bücher sorgfältig Buch führe, habe ich das mit Filmen nicht getan. Häufig steht in meinen Tagebüchern aus den frühen sechziger Jahren einfach nur Film. Aber für das Jahr 1962 findet sich an einer Stelle eine unvollständige Liste für ein dreiviertel Jahr: Ninotschka, Jakubowsky und der Oberst, Letztes Jahr in Marienbad, Hamlet, Das siebte Siegel, Frühstück bei Tiffany, Fanfan der Husar, Saat der Gewalt, Boccaccio ’70, Sie küssten und sie schlugen ihn, Wilde Erdbeeren, Privatleben, Faust, Mondo Cane, Aimez-vous Brahms?, Ein Amerikaner in Paris. Mondo Cane habe ich in Hannover gesehen, als ich da drei Tage zur Aufnahmeprüfung für Reserveoffizieranwärter war. Da hatte mich jemand überredet, mit ihm da reinzugehen, alle Welt redete von dem Dokumentarfilm. Der Film war grässlich, aber ein Vorgeschmack auf das, was noch an Grässlichem auf Zelluloid serviert werden würde. Letztes Jahr in Marienbad habe ich dreimal gesehen, aber bis heute noch nicht verstanden. Privatleben von Louise Malle mit Brigitte Bardot würde ich jederzeit wieder anschauen (obgleich Fahrstuhl zum Schafott natürlich viel besser ist). Ich dachte, dass ich Aimez-vous Brahms in Berlin gesehen hätte. Die haben tolle Kinos damals in Berlin, den Zoo Palast, das Delphi nicht weit davon und das Astor am Kurfürstendamm. Aber hier im Tagebuch steht Roxy dabei, das ist in Vegesack in der Hafenstraße. Wahrscheinlich war ich im Herbst noch einmal mit Traute in Berlin in dem Film. Damals sah ich auch ein wenig so aus wie Anthony Perkins, trug auch solche Sachen, wie er sie in den Film trägt.

Und das ist natürlich damals ein zusätzlicher Reiz des Kinos: die Mode. Denn Michelangelo Antonioni offeriert nicht nur eine exzellente Kameratechnik und schöne Frauen (wie Lucia Bosé, Alida Valli, Dorian Gray, Lea Massari und Monica Vitti), sondern auch die ganze italienische Schneiderkunst. Je trister die eigene Zeit ist, desto mehr möchte man in der auf der Leinwand präsentierten Welt leben. Hätte ich doch nur ein Tweedjackett wie Steve Cochran in Il Grido gehabt! Von den vielen Glencheckanzügen und Kamelhaarmänteln in Antonionis Filmen ganz zu schweigen. Marcello Mastroianni wird für mich zu einer modischen Leitfigur werden.

Es gibt damals noch andere Filme außer denen, die in den Lichtspieltheatern (welch schönes, ausgestorbenes Wort!) gezeigt werden. Da wo es Vorhänge und Zwischenvorhänge gibt, und die Platzanweiserinnen uniformähnliche Kostüme und kleine Häuschen tragen. Und das sind Filme, die nicht im Kino gezeigt werden. Filme in Worten. Filme, die man gesehen hat und die man jetzt seinen Freunden erzählt. Die Filmerzählung wird zu einer Kunst, in der Handlung und Kameraeinstellungen sorgfältig beschrieben werden, bis jeder die Szene vor Augen hat. Ekke, der als einziger irgendwo Arsen und Spitzenhäubchen gesehen hat, erzählt mir den Film, wenn wir nach James Tröbs kräftezehrenden Sportunterricht unten auf dem Sportplatz den Berg der Poststraße zurück zur Schule schlurfen. Als ich Frank Capras Film endlich eines Tages sehe, kenne ich jede Szene. Das ist die Macht einer guten Filmerzählung.

Eine Stufe höher als unsere Filmerzählungen wird der Film eines Tages in die Literatur wandern. Wenn ich Guillermo Cabrera Infante lese, habe ich das Gefühl, ich hätte einen Zwilling auf Kuba in den fünfziger Jahren gehabt. Seine filmversessenenen Romanfiguren sind uns so ähnlich. Autoren werden anfangen, filmisch zu denken und zu schreiben. Obgleich gute Autoren das schon immer getan haben, und Joseph Conrad im Vorwort zu The Nigger of the Narcissus davon gesprochen hat, dass es sein Ziel sei to make you see. Und Fitzgerald (der Conrad bewunderte) beinahe statt Romanen Filme schreibt, sein Great Gatsby ist ja schon ein halbes Drehbuch. Und John Fowles hat gesagt, dass er den Anfang von The French Lieutenant’s Woman wie ein Kinobild im Kopf gehabt hat. Und dann kommt Rolf Dieter Brinkmann aus dem traurigen katholischen Kaff Vechta, wo außer der Strafanstalt nichts los ist und redet von dem Film in Worten. Und schreibt Filme in seine Gedichte hinein. Kopfkino. Von nun an wird man Autoren nicht mehr danach beurteilen, was sie schreiben, sondern ob die Filme, die sie in ihre Werk hineinschreiben, auch unsere Filme sind.

Natürlich geht man damals auch wegen der Frauen ins Kino, nicht nur der Frauen auf der Leinwand wie Lucia Bosé, von der ich irgendwann auch Cronacra di une amore und La signora senza camelie sehen werde. Nein, man geht wegen der wirklichen Frauen ins Kino, die jetzt, wo wir sechzehn, siebzehn oder achtzehn sind, zunehmend interessant werden, und mit denen man in der Dunkelheit des Kinos Körperkontakt haben kann. Und die man hinterher in der Dunkelheit der Nacht nach Hause begleiten kann. Einmal habe ich nach einem Film in unserer Aula, als ich mit Ute die Bismarckstraße hinunter zum Bahnhof ging, einen riesigen Mond unten über Grohn gesehen. Den Film an diesem Abend habe ich völlig vergessen, Ute natürlich nicht, aber dieser riesige gelbe Mond unten über dem Bahnhof war besser als jeder Film. Es war, als ob man den Berg hinuntergehen und direkt in ihn hineinspazieren könnte. 

Frauen haben damals aber häufig einen ganz anderen Filmgeschmack als wir. Ich werde nie vergessen, dass Renate mich in Die Kraniche ziehen geschleppt hat, der in einem Kino hinten in der Hammersbeker Straße gespielt wurde. Sie fand den Film toll, ich fand ihn nur russisch patriotischen Kitsch, gut photographiert, aber sentimental. Durfte ich damals aber nicht sagen. Unsere Eltern würden es ja begrüßen, wenn wir Die Mädels vom Immenhof gut finden würden, aber darüber sind wir längst hinaus. Für uns zählen jetzt nur noch der italienische Neorealismus und französische Filme (aber auf keinen Fall das Tagebuch eines Landpfarrers, das es im Schülerfilmclub gab). Bei der jetzt beginnenden nouvelle vague sind wir von Anfang an dabei. Obgleich Georg das etwas abschätzig französisches Sabbelkino nennt. Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn gab es sogar in unserem Filmclub. Für den stimmte der Direktor aber nur, weil der Film etwas mit Schule und Pädagogik zu tun hat. Deshalb wurde im gleichen Schuljahr wahrscheinlich auch Die Saat der Gewalt gezeigt. Natürlich gehen wir in dieser Zeit auch, zum Missfallen der Eltern, in amerikanische Western. Richtige Western, die nichts mehr mit Fuzzy gemein haben. Der einzige Western, den unsere Eltern akzeptieren, ist Zwölf Uhr Mittags mit Gary Cooper und Grace Kelly, den die deutsche Presse einen Edelwestern nennt. Aber richtige Western müssen Western von John Ford sein, oder John Wayne muß darin mitspielen, etwas anderes geht gar nicht. 

Für den richtigen französischen Cineasten fehlt uns noch der filmtheoretische Überbau, wir haben zwar in dieser Phase, wo wir Exis sind und Tweedjacketts und schwarze Rollkragenpullover tragen, den rive gauche Look, aber noch nicht die richtigen Götter der Filmtheorie. Wir wissen noch nicht, dass André Bazin den amerikanischen Western filmtheoretisch als le cinéma américain par exellence geadelt hat. Und wir haben auch verpasst (was mir heute noch unerklärlich ist), dass das erste Buch über den Western, Jean-Louis Rieupeyrouts Le Western, Ou le cinéma américain par excellence, in deutscher Übersetzung 1963 bei Schünemann in Bremen erschienen ist. In einer Reihe, die Ein City-Buch hieß, mit einem Klappentext von Walter H. Schünemann, aber einwandfrei die deutsche Übersetzung des Originals, sogar noch vom Autor für diese Ausgabe erweitert. Und natürlich von Joe Hembus herausgegeben, dessen Western-Lexikon wir wenig später auswendig lernten. Der deutsche Rieupeyrout ist heute nicht mehr zu bekommen, mein Exemplar hat mich vor Jahrzehnten im Antiquariat zehn Mark gekostet. Es zählt heute zu meinen seltensten Bremensien.

Wenn ich mir anschaue, was in den fünfziger und sechziger Jahren in den Cahiers du Cinéma diskutiert wird, dann ist unser Filmprogramm gar nicht so verschieden von dem der französischen Cineasten. Mein Leben mit dem Film ist nicht so verschieden von Truffauts alter ego Antoine Doinel. Ich kann auch von Glück sagen, dass Michelangelo Antonioni, die nouvelle vague und polnische Filme wie Das Messer im Wasser und Asche und Diamant in meine kinobegeisterte Jugend fallen. Wenn man heute jung wäre und mit dem ganzen Hollywood Schrott aufwachsen müsste, könnte man dann ein Filmliebhaber werden? Interessant ist der Zugewinn an Status beim Filmkritiker, der dank der Intellektualisierung dieser Spielart der Literaturkritik durch die Franzosen plötzlich immer wichtiger wird. Man hat damals das Gefühl, dass der ganze intellektuelle Diskurs nicht mehr in philosophischen oder philologischen Fachzeitschriften geführt wird, sondern in den Cahiers oder dem deutschen Ableger Filmkritik

Kein Intellektueller (oder jemand, der sich so geriert) in den sechziger Jahren, der nicht auch Filmkritiker ist. Selbst wenn man nur für kleine hektographierte Blättchen schreibt, wenn man Filmkritiker ist, ist man jetzt ganz oben. Und die deutschen Filmkritiker sind schon gut, obgleich sie sich meiner Meinung nach zu stark an den Franzosen orientieren. Während ich, weil ich jede Woche den Observer oder die Sunday Times (manchmal auch beide) lese, eher für Dilys Powell schwärme. Selbst wenn man den sogenannten Neuen Deutschen Film nicht so mag (kein Vergleich zur nouvelle vague), bei dem alle Jungregisseure auch Filmkritiker sind, ist das Niveau bei den Leuten, die jetzt die blaue Reihe Film bei Hanser machen, schon sehr hoch. Also Leute wie Wolfram Schütte. Oder Uwe Nettelbeck bei der Zeit. Oder Blumenberg, Syberberg, Bitomsky und wie sie alle heißen. Oder Enno Patalas und Frieda Grafe nach einem gemeinsamen Kinobesuch (wie können Frauen und Männer die gleiche Meinung über einen Film haben?). Wir haben einen Höhepunkt der Filmkritik, den wir nie wieder bekommen werden. Selbst in Schüler- und Studentenzeitungen kann man einen Abglanz davon sehen. Natürlich leider nicht in den Bremer Nachrichten oder der Norddeutschen Volkszeitung.

Bernhard Wickis Antikriegsfilm Die Brücke hat es in unserem Schülerfilmklub auch gegeben. Der Film hebt sich ja ab von den vielen deutschen Filmen, die den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben. Die sind damals ein Teil der Kultur der jungen Republik, und sie werden von unseren Eltern mit gemischten Gefühlen betrachtet. Also Filme wie Haie und kleine Fische, Hunde, wollt ihr ewig leben oder Des Teufels General. Etwas anderes als Leisers beklemmendes Mein Kampf. So hervorragende DDR Filme wie Konrad Wolfs Ich war Neunzehn haben damals nicht den Weg zu uns gefunden (gab es erst 1971 im Fernsehen). Jedes Deutschland bewältigt jetzt seine Vergangenheit selbst, ob mit dem schneidigen Joachim Hansen in Stern von Afrika oder Joachim Fuchsberger (den ich von Peters Erzählungen kenne, weil er mal als kleiner Junge in einem Heimatfilm bei Blacky auf dem Schoß gesessen hat) in Die grünen Teufel von Monte Cassino

Wenn auch manche dieser Filme durchaus kritisch sind, die Vielzahl ist es nicht. Und als Drehbuchautoren und Regisseure wirken da noch viele, die auch bei den Nazis im Filmgeschäft waren. Und nicht nur bei diesen Kriegsfilmen, die sitzen auch noch im Establishment des Fernsehens. In diesen Filmen kann man sich ein paar schöne Stunden mit der unbewältigten Vergangenheit machen (wie Joe Hembus das in Der deutsche Film kann gar nicht besser sein formuliert hat), Geiselgasteig wird jetzt zum Geschichtslehrer Deutschlands. Und die Charakterköpfe des deutschen Schwarzweißfilms schlüpfen jetzt in die Uniformen des Nazireiches und tragen meistens ein Ritterkreuz über dem Schlips. Wie Curd Jürgens als General Harras, Wolfgang Preiß in Haie und kleine Fische oder als Graf Stauffenberg, O.E. Hasse als General in 08/15 oder als Admiral in Canaris. Wobei dieser Film von Alfred Weidenmann gedreht wurde, einem Nazi der ersten Stunde. Der uns später noch Derrick bescheren sollte.

Auf der anderen Seite der Zonengrenze entstehen wirkliche antifaschistische Filme wie Ich war Neunzehn, Lissy, Nackt unter Wölfen und Jakob der Lügner. Wir haben 08/15, Kinder, Mütter und ein General und Fabrik der Offiziere. Aber diese Sorte Film hat immer ihre Liebhaber, Kriegsteilnehmer, die hinterher endlos darüber diskutieren, ob die SS Uniformen im Film korrekt waren. Als ich Franklin J. Shaffners Patton, der hier als Panzer nach vorn angekündigt wurde, im Kino sah, war das Kino voller Rentner. Die alle den Saal während des Filmes verließen, ein solch kritisches psychologisches Portrait eines Generals gefiel ihnen nicht (und ihr Held Rommel kam da auch nicht drin vor), die Schauspielkunst von George C. Scott wurde von ihnen nicht gewürdigt.

Erstaunlicherweise treffe ich auch bei der Bundeswehr auf eine Vielzahl von Filmfreaks. Einen davon sehe ich auch in Kiel an der Uni wieder, wir fahren am Wochenende gemeinsam nach Bremen. Also, ich fahre, und er zahlt Benzingeld. Und die ganze Fahrt lang diskutieren wir über Filme. Er wird eines Tages eine Frau vom unteren Ende der Weserstraße heiraten (so nennt man euphemistisch snobistisch diesen Teil der Straße, wenn man im richtigen Teil wohnt), aber davor diskutieren wir bei den Wochenendfahrten jahrelang über Film. Es gibt zwar keine Bücher über Filme, aber es gibt ständig Gespräche über Filme. In den Filmclubs an der Uni redet man sich die Köpfe heiß. Wir zeigen das, was die kommerziellen Kinos nicht zeigen. Wir bereiten das auch wissenschaftlich auf, schreiben hochintellektuelle Beiträge, wird alles auf Wachsmatrizen getippt und dann an der Gstetner Umnüdelmaschine abgezogen. Liest hinterher keiner, liegt am nächsten Tag noch in der Mensa rum. Man kann das ja verstehen, ich habe die Chronik der Anna Magdalena Bach von Jean-Marie Straub auch todlangweilig gefunden. Hinterher waren wir dann noch mit dem ganzen Filmclub in der Mitternachtsvorstellung vom Regina, wo es Eddie Constantine zum Mitschießen gab. Da hockte schon der ganze linke Asta. Ich glaube, die Eddie Constantine Filme im Regina wurden nur für die Frustbewältigung von gescheiterten politischen und kulturellen Hoffnungen gezeigt.

1976 mache ich an der Uni das erste Seminar zum amerikanischen Film, ein Proseminar über John Fords Stagecoach. Es ist auch das erste Seminar zum Thema Film an dieser Uni. Wenig später überreden Götz und ich unseren Professor, dass wir ein Kolloquium zum Thema englischer und amerikanischer Film machen sollten. Der Professor findet (wie immer) auch gleich einen einprägsamen Namen: Filmphilologie. Damit können wir leben, man kann die Sprache von Filmen lesen, wie man Bücher lesen kann. Der Prof möchte sich auf Literaturverfilmungen konzentrieren, ich möchte lieber auf Filme im kulturellen Kontext hinaus. Abgesehen von Alfred Weber in Tübingen sind wir die ersten in Deutschland, die film studies machen. In Amerika gibt es dafür an jeder größeren Universität schon einen Professor. Was mir Professor James Naremore aus Bloomington erzählt, wenn er bei mir im Wohnzimmer auf dem großen Sofa sitzt, das kann einen schon neidisch machen. Inken hat den Spezialisten für den Film Noir angeschleppt, sie hat drüben bei ihm ihre Magisterarbeit geschrieben. Aber wenn wir auch nicht solche Mittel haben, genauso genommen haben wir überhaupt keine Mittel, schaffen wir es doch, das Ganze ins Laufen zu bringen. Wenn ich an Alfred Webers Projekt zur Erforschung des amerikanischen Dokumentarfilms mitarbeite (damals das gößte Projekt der deutschen Amerikanistik) und meinen Artikel zu The Plow that Broke the Plains schreibe, spüre ich zum erstenmal, was es bedeutet, Teil eines solide finanzierten Projekts zu sein.

Ich baue in unserer Bibliothek eine Filmbibliothek auf, ohne einen Pfennig staatlicher Förderung, alles aus dem regulären Bücheretat abgeknapst. Die Buchhandlung Cinemabilia in New York schenkt mir, mit rotem Stempel complimentary copy, ihren Catalogue Seven. Die wissen, dass ich von nun an bei ihnen kaufen werde. Ich kaufe aber auch beim Strand Books Store, dem größten Antiquariat der Welt. Und unser amerikanischer Buchhändler Nolan Smith besorgt uns (in völlig un-amerikanischer Manier) seltene, vergriffene Titel. Als unser Professor 1986 stirbt, haben wir eine Filmbibliothek, die sich überall sehen lassen kann. Publikationen noch und noch. Dissertationen, wie die von Volker Behrens über The French Lieutenant’s Woman, Sammelbände, Workbooks (die in einzelnen Bundesländern auf der Liste der empfohlenen Literatur stehen), Aufsätze, Rezensionen. Die Uni streicht die Professur und das ganze Projekt Filmphilologie (Götz und ich bieten aber aus Trotz noch zwanzig Jahre lang Filmseminare an). Als Kurt Denzer pensioniert wird, wird auch die Dokumentarfilmarbeit der Uni eingestellt, alles wird abgewickelt. Vulgo weggeschmissen. Ulli Ehlers, der ein halbes Leben lang die Landesarbeitsgemeinschaft Film in Schleswig Holstein geleitet hat, erzählt mir auf der Party zu Kurts siebzigstem Geburtstag, dass er einen Film vor der Mülltonne bewahrt hat. Den Dokumentarfilm Glas. Ausgerechnet den. Ich verschütte vor Lachen mein Mineralwasser. Aber eigentlich ist es zum Heulen. 

Im Vernichten von Kultur ist diese Universität, die einmal eine Nazi Vorzeigeuniversität war, ganz groß. Ich weiß schon, weshalb sie in dieser Selbstlebensbeschreibung keine Rolle spielt. Heute gibt es einen Professor für cultural studies und Medienwissenschaft, der vor seiner Berufung niemals unterrichtet hat und sich mit einem Vortrag über Hip Hop qualifiziert hat. Seine Doktorandin erforscht chinesisches Essen in New Yorks Chinatown. Der zweite Doktorand promoviert über die Ford Fernsehwerbung zwischen 1959 und 1967. Und das Forschungsprojekt hat hunderttausende von Euro zur Verfügung. Man weiß nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll.

Mein Leben verläuft glücklicherweise über lange Strecken fernsehlos. Ein Fernsehgerät kaufen meine Eltern erst sehr spät (immer das Teuerste, was der Laden unten an der Grenze zu Aumund und später Barlage um die Ecke ihnen andreht). Aber keine Fernsehtruhe, es genügt, dass wir eine Musiktruhe haben. Und außer den Nachrichten (die jetzt die Wochenschau im Kino ersetzen), der Aktuellen Schaubude aus dem gläsernen Studio in Hamburg mit Werner Baecker (was am Anfang der Verkaufsraum eines Opelhändlers neben der Staatsoper ist, wir waren mal an einem Sonnabendabend dabei) und dem Sport will ich nichts sehen. Das Fernsehen ist etwas für Erwachsene. Unser wirkliches Leben ist draußen, oder im Kino (oder im Keller in der Dunkelkammer). Als ich bei der Bundeswehr bin, habe ich jahrelang keinen Fernseher gesehen. Allerdings konnten unsere Funkgeräte im HS 30 auf der gleichen Frequenz wie das deutsche Fernsehen laufen, wenn man dann auf Senden drückte (was natürlich streng verboten war), konnte im Umkreis von 1,6 Kilometer niemand mehr fernsehen. Ich nehme mal an, dass sich die Einwohner von Munster und Bergen-Hohne daran gewöhnt hatten. Und während des Studiums gab es auch kein Fernsehen für mich. Wenn es mal etwas Wichtiges im Fernsehen gab (wie zum Beispiel eine Fußballweltmeisterschaft), musste man sich bei Noli einladen, der hatte ein Fernsehgerät.

Dennoch bin ich dem Fernsehen dankbar für einige große Augenblicke, die ich nicht vergessen habe. Also als wir mit zwanzig Mann nach dem Cricket im Schlafzimmer von Bärbel und Georg lagen, um Mönchengladbach siegen zu sehen, das Spiel, in dem Netzer sich selbst eingewechselt hat. Und es war auch ein schöner Augenblick als der Intendant der Pariser Oper Rolf Liebermann vor laufender Kamera den Herrn Norbert Walter (Chefvolkswirt der Deutschen Bank, nachdem er am Kieler Weltwirtschaftsinstitut rausgeflogen war) wegen seiner Nazisprüche fertigmachte. Bis der geweint hat. Das sind die Augenblicke, wo ich für einen Fernseher dankbar bin. Aber neben alle Folgen von Chereaus Ring des Nibelungen (auf einem winzig kleinen Farbfernseher, den mir mein Bruder billig besorgt hatte) und den köstlichen Hamburger Mozart Aufnahmen der London Theatre Company (vor allem Cosi fan Tutte mit der schnuckeligen Jacinta Mulcahy), sind die großen Augenblicke des Fernsehens für mich nur der Kinoersatz von Filmen, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. Ich bin N3 wirklich dafür dankbar, dass ich Alexei Germans Moi drug Ivan Lapshin sehen konnte. Und natürlich Bondartschuks Krieg und Frieden. Wenn ich schon keinen Videorecorder habe, diese Filme habe ich im Kopf.

A Tale of Two Cities mit Dirk Bogarde habe ich auf Uwes Jollenkreuzer mit einem Portable gesehen, dessen Bildfläche so groß wie eine Postkarte war. Zehn Zentimeter vor dem Bildschirm. Drinnen in der Kajüte Sidney Carton, wie er zur Guillotine schreitet und draußen das glucksende Wasser des Weser-Ems-Kanals. Jahrzehnte später sehe ich beim meinem Bruder, der eine Satelliten Schüssel hat, als Turner TV ins Netz geht und noch unverschlüsselt ist, alle englischen Klassiker aus den Pinewood und Elstree Studios, die mir bisher entgangen sind. Alle Filme mit Dirk Bogarde habe ich inzwischen gesehen (und alle seine Bücher gelesen), ich habe auch A Tale of Two Cities auf einem größeren Bildschirm gesehen. Das war aber nicht so intensiv, wie damals auf Uwes Boot.

Als unser Fernseher ganz neu war, habe ich zusammen mit Vati eine eindrucksvolle Produktion von Der Richter und sein Henker mit Karl Georg Saebisch (viel besser als der Film mit Jon Voigt und Jacqueline Bisset Jahre später) gesehen. Die bleibt unvergessen, ebenso wie Das Haus an der Stör aus der Reihe Stahlnetz, zu der Wolfgang Menge das Drehbuch geschrieben hat. Und natürlich habe ich wie alle Deutschen den Tatort verfolgt, vor allem die Folgen mit Sieghard Rupp als Zollfahnder Kressin oder die mit Walter Richter als Trimmel. Kressin stoppt den Nordexpress (wiederum Drehbuch von Wolfgang Menge) und Taxi nach Leipzig habe ich auf DVD, das ist heute reine Nostalgie. Und um so vieles besser, als das, was die Degeto heute kauft oder produziert, dieser unerträgliche Schmonzetteneinheitsbrei.

Die Kinos meiner Jugend, die für meine Eltern manchmal noch eine blasse Erinnerung an die Filmpaläste waren, die sie in ihrer Jugend noch kennen gelernt hatten (mein Vater schwärmte von den Berliner Kinos, in denen er während seines Studiums an der Charité gewesen war), gibt es heute nicht mehr. Keine Kartenverkäuferinnen in modernistischen Glas- und Chromkapseln. Kein Foyer, bei dem die Wände mit grellbunten Plakaten und Filmphotos hinter Glas bedeckt waren. Keine langsam verglühenden Lichter mehr, nicht die kleinen punktförmigen Seitenlichter, die den Seitengang an der roten Stoffwand des Vorführungssaals hinunterliefen. Keine Samtvorhänge mehr, die mit den Jahren immer dunkler und schwerer wurden. Keine Platzanweiserinnen mehr. Wenn Edward Hopper nicht einmal eine einsame Platzanweiserin gemalt hätte, dann wüsste man wahrscheinlich gar nicht mehr, dass es die einmal gegeben hat.


Dies ist das Kapitel 32 aus meiner beiseite gelegten Autobiographie Bremensien. Ich habe das vor zwölf Jahren geschrieben. Vieles aus dem Text ist in den Blog gewandert, ich habe das mit fett gesetzten Links markiert.