Sonntag, 29. Januar 2023

Seume

In Bremen versuchte ichs indessen allein auf meine eigene Hand, und es gelang mir am hellen lichten Tage unter ziemlicher Gefahr. Die nächste Veranlassung war ein Gezänk mit dem Feldwebel über Brotlieferung, in welches sich der kommandierende Offizier etwas diktatorisch handgreiflich mischte. Das Gespenst der Preußen saß mir fest im Gehirn; ich hatte ganz gegen meine Gewohnheit ohne alle Absicht in einigen Gläsern Wein mich etwas warm getrunken und machte kurz und gut auf und davon, am Ufer hin, über die Brücke weg, in die Altstadt hinein. Ein guter, alter, ehrlicher Spießbürger mochte mir doch wohl einige Verwirrung ansehen; er kam freundlich zu mir und fragte: »Freund! Ihr seid wohl ein hessischer Deserteur?« »Und wenn ich denn einer wäre?« sagte ich. »Da muß ich Euch sagen, unser Magistrat hat Kartell mit dem Landgrafen.« Und nun....

An dieser Stelle bricht die Lebensbeschreibung des Johann Gottfried Seume ab. Er ist auf der Flucht. Sein Landgraf Friedrich II von Hessen hatte ihn an die Engländer verkauft. Der ist jetzt ganz groß im Geschäft mit dem Soldatenverkauf an die Engländer. Sein Sohn Wilhelm, wird ihm darin folgen. Die Wilhelmshöhe und die Rembrandts müssen ja irgendwie finanziert werden. Wäre der hessische Landgraf aus meiner Schule hervorgegangen, so würde er seine Untertanen nicht wie Vieh, das an die Schlachtbank geführt wird, an die Engländer verkauft haben. Das ist ein unwürdiger Zug in dem Charakter eines Fürsten. Solches Vertragen ist durch nichts als schmutzige Selbstsucht hervorgerufen, hat Friedrich der Große geschrieben. 

Lassen Sie uns noch einmal zurückspringen zu diesem und nun. Wir sind in Bremen im Spätsommer des Jahres 1783, Seume ist zwanzig Jahre alt. Genau ein Jahr vorher ist er nach mehrmonatiger Überfahrt über den Atlantik in Halifax gelandet. Als Soldat auf Seiten der Engländer, die gegen ihre eigenen Landsleute im Amerika kämpfen. Er wird Indianer sehen, und er schreibt das Gedicht Der Wilde, das früher in jedem Lesebuch war. Und auch heute noch in die Lesebücher gehörte.

Irgendwann hat sein Leiden ein Ende, und das verdankt er einem preußischen General, der eigentlich ein Franzose ist. Guillaume René de l’Homme, Seigneur de Courbière erspart ihm die Strafe des Spießrutenlaufens, er wird ihn begnadigen und ihn zum Hauslehrer seiner Kinder machen. Er sei ihm ein hochherzig mitleidiger Vorgesetzter gewesen, wird Seume schreiben. Leider sagt er uns nicht mehr über seinen Wohltäter, weil ja seine Lebensbeschreibung mit den Worten Und nun abbricht. Der Dichter Christian August Heinrich Clodius, der die Biographie ergänzte, sagt uns: Der brave General Courbière, welchen die Preußen nach der Schlacht bei Jena mit Achtung öffentlich genannt haben, nahm sich seiner an, erleichterte ihm den Dienst, trug ihm auf, seine Kinder zu unterrichten, und empfahl ihn mehreren Familien. Jetzt hatte Seume keine Not. Aber weil er nicht hoffen durfte, wieder loszukommen, und keine Aussicht hatte, befördert zu werden bei der Einrichtung Friedrichs II., nach welcher nur die Adeligen Offizierstellen erhalten konnten, dachte er an einen neuen Versuch, zu entfliehen, ungeachtet der erste so wenig gelungen war.

Die zweite Flucht geht schief, es drohen hohe Strafen, aber da ist wieder der Baron Courbière, der die Hand über den jungen Mann hält: Zum Unglück war der General, sein Gönner, mit dem Obersten des Regiments gespannt; keiner traute dem andern, um etwas für den Arrestanten gegen die fürchterlichen Kriegsgesetze zu wagen. Die angesehensten Männer in Emden verwandten sich für Seume mit allen Kräften, doch ohne glücklichen Erfolg; vergeblich bat fast die ganze Stadt. Endlich kam die Jugend, an ihrer Spitze die eigenen Kinder des Generals, und baten mit Tränen und Händeringen für ihren geliebten Lehrer um Gnade. »Kinder«, sagte der General, konnte aber vor Wehmut kaum sprechen, »Kinder, ich kann nicht, so gern ich wollte.« – Man nahm Seume die Ketten ab und stellte ihn vor das Kriegsgericht, welches ihn zu zwölfmal Spießruten verurteilte. Finster und schweigend trat er ab, als der Oberst »Halt!« rief. Seume trat wieder vor. Der Oberst sprach weiter: »In Rücksicht des sonstigen guten Betragens des Arrestanten, seines moralischen Lebenswandels und des guten Gebrauchs, welchen er von seinen Talenten macht, auch wegen der Art und Weise, wie er in den Dienst gekommen ist, verwandelt das Kriegsgericht die bestimmte Strafe in sechswöchiges Gefängnis bei Wasser und Brot.« – Der General setzte halblaut hinzu: »Arrestant wird es wohl auch nicht übelnehmen, wenn ihm die Bürger zuweilen ein Stück Braten spenden.« Dieser Wink wurde gut verstanden. Seume schmauste während der sechs Wochen seines Arrestes durch die Gutmütigkeit der Bürger in Emden besser als der General und konnte noch von seinem Überfluß den Kameraden reichlich mitteilen.

Der brave General Courbière hat in diesem Blog natürlich schon einen Post. Die braven Bremer hatten dem flüchtigen Soldaten Seume geholfen, über die Weser zu kommen, das ist nicht vergessen. Es gibt heute in Bremen ein kleines Seume Denkmal, diesen Denkstein hatte Hermann Allmers bezahlt. Er hatte damals dazu gesagt: Jenes Stück im Leben des armen Seume ist der einzige Fall, wo Bremen in Beziehung zu einem deutschen Dichter der Vergangenheit tritt, und zwar ehrenvoll genug, denn es hilft ihm, seinen Schergen entfliehen. Dies Ereignis mahnt zugleich an des Vaterlandes traurigste und schmachvollste Zeit; aber es ist gut und heilsam, daß sich das deutsche Volk auch an solche Dinge und solche Tage erinnert.

Wir nehmen das mit der Erinnerung einmal wörtlich. Johann Gottfried Seume wurde heute vor zweihundertvierzig Jahren geboren. Es lohnt sich, an ihn und sein Leben zu erinnern. Und zwei Zitate hätte ich auch zu bieten: Die wahre Freiheit ist nichts anderes als Gerechtigkeit und Das Loos des Menschen scheint zu seyn, nicht Wahrheit, sondern Ringen nach Wahrheit; nicht Freiheit und Gerechtigkeit und Glückseligkeit, sondern Ringen darnach. Und vom Baron Courbière habe ich noch den schönen Satz, den er dem französischen General Savary sagen ließ, der ihm mitteilte, es gäbe keinen König von Preußen mehr (Der Herr, dem Sie zu dienen behaupten, hat uns alle seine Rechte überlassen, indem er uns seine Staaten überließ). Nachdem der Parlamentär, der Oberstleutnant Charles Jean Louis Ayme, ihm das vorgelesen hat, wird Courbière die berühmten Sätze sagen: Votre Général me dit ici qu’il n’y a plus un Roi de Prusse, puis que les Français ont occupé ses états. Eh bien, ça se peut; mais s’il n’y a plus un Roi de Prusse, il existe encore un Roi de Graudenz. Dites cela à votre général.

Freitag, 27. Januar 2023

sag' kein Wort!


Wenn der Pastor Dir die Geschichte von der Leica erzählt, sag’ kein Wort, flüsterte mein Bruder mir im Vorübergehen mit verschwörerischem Ton zu. Kein Wort! Er hastete weiter, dies war seine Hochzeit. Wir waren im obersten Stockwerk des Hotels Maritim, der Saal war voll. Eine halbe Stunde später hatte ich den Pastor neben mir. Mit einer kleinen Kamera. Die müsse er mir unbedingt zeigen, wo ich doch auch photographiere. Die Canon A1 mit aufgeschraubtem Motor und Blitzlichtgerät in meiner Hand verriet mich als den Festphotographen. Und dann erzählt er mir die Geschichte seiner Kamera, und da wusste ich, weshalb ich kein Wort sagen durfte. Ein Industrieller, der ein Ferienhaus in seiner Gemeinde hatte, war bei einem Reitunfall verunglückt und war danach den Verletzungen erlegen. Der Pastor hatte ihn vor seinem Tod täglich am Krankenbett besucht; und nach seinem Tod hatte die Witwe ihm aus Dankbarkeit einen großen Holzkoffer mit Photoapparaten geschenkt. Da waren zwei Leicas drin und ein halbes Dutzend Leitz Objektive. Spezialobjektive, die er für seine Arbeit brauchte, hatte ihm die Witwe gesagt. 

Ich wusste, was so was kostet. Ich hatte gerade kurz vorher einen ähnlichen Koffer im Schaufenster von Photo Doose im Knooper Weg bewundert, ohne Spezialobjektive. Es war eine Leica Ausrüstung, die Edgar Wallace einmal seiner Tochter Penelope geschenkt hatte. Überall der Name eingraviert. Kam mit der Rechnung eines Londoner Photohändlers und einem Brief von Edgar Wallace, und war preislich mit 2.500 Mark eigentlich sehr niedrig angesetzt. Ich war damals stark in Versuchung, das Konvolut zu kaufen, machte morgens auf dem Weg zur Uni einen kleinen Umweg und starrte zehn Minuten lang in das Schaufenster. Aber was sollte ich damit? Ich war kein Edgar Wallace Fan. Ich kaufte mir ein Jahr später eine alte Leica IIIg aus dem Jahre 1943. In deren Gehäuse witzigerweise auch der Name Wallace eingraviert war; das hatte allerdings nichts mit Edgar Wallace zu tun, viele Besitzer ließen sich damals ihren Namen in das Gehäuse der Leica eingravieren. 

Der Pastor konnte mit dem schönen Geschenk nichts anfangen, und so hatte es sein Küster übernommen, die Ausrüstung zu verkaufen. Stellen Sie sich vor, der ist damit nach Hamburg gefahren, nach St Pauli, und er hat den Kasten mit den Kameras gegen diese schöne kleine Kamera eingetauscht. Es ist schwer, in solchen Augenblicken ernst zu bleiben, aber ich war ja durch meinen Bruder gewarnt. Ich sagte kein Wort. Wenn ich mal von einem Wert von zehntausend Mark für den Leica Koffer ausgehe und davon die hundert Mark abziehe, die die Kamera des Pastors gekostet hat, ist für den Küster bestimmt noch eine rauschende Nacht auf der Reeperbahn oder der Herbertstraße übrig geblieben. Da hat es sicherlich auch noch eine liebe Kleine gegeben, die nicht nein sagte, und die bis morgen früh um neune seine kleine Liebste sein würde. Ich nehme an, dass er jetzt in der Hölle schmort.

Montag, 23. Januar 2023

Die Kartause von Parma


Heute vor zweihundertvierzig Jahren wurde Marie-Henri Beyle geboren, der sich als Schriftsteller Stendhal nannte. Der große Egoist, dem wir Sätze wie chacun pour soi dans ce désert d'égoïsme qu'on appelle la vie verdanken, war schon häufig in diesem Blog. Vor zwölf Jahren habe ich in dem Post Stendhal über den Roman Die Kartause von Parma geschrieben: Die Waterloo Szene des Romans (hier eine Leseprobe der neuesten Übersetzung) ist am 17. Mai 1839 im Constitutionnel sozusagen als Kostprobe des Romans veröffentlicht worden, am gleichen Tag erschien der Roman. Stendhal hat die Kartause von Parma in knapp zwei Monaten geschrieben, wie in einem Rausch, fünfzehn Stunden am Tag. Und dazu sagt er noch: Während ich die 'Kartause' schrieb, habe ich jeden Morgen, um den Ton zu stimmen, zwei, drei Seiten im Bürgerlichen Gesetzbuch gelesen. Ich wollte immer natürlich sein. Hatte je zuvor ein französischer Schriftsteller gesagt, dass das Stilideal des Französischen der Code Civil ist? 

Stendhal schickte eins der ersten Exemplare an Balzac, den König der Romandichter unseres Jahrhunderts. Balzac hat im September 1840 in seiner Revue Parisienne einen langen Essay über die Kartause von Parma geschrieben, der einem beinahe die Lektüre des Romans erspart. Wann erzählt schon einmal ein Schriftsteller den Roman eines Kollegen mit seinen Worten nach? Stendhal hat sich herzlich für diese Reklame bedankt. Der Balzac Essay ist der neuesten deutschen Übersetzung der Kartause von Elisabeth Edl (Hanser Verlag 2007, dtv 2009) beigegeben, womit das Buch auf die stattliche Länge von 998 Seiten kommt. Meine schöne alte Propyläen Ausgabe von 1921 mit dem roten Lederrücken, die mir Harald Eschenburg (senior) einst verkaufte, bringt es nur auf 570 Seiten. Der Roman ist auch in der Hanser Ausgabe nicht länger, aber es gibt einen 340-seitigen Anhang über den sich jeder Philologe freut. Vielleicht auch mancher Leser, der zu den happy few gehört, denen Stendhal den Roman widmete. 

Das kann ich alles so stehen lassen, aber ich möchte doch etwas hinzufügen, über die Nachworte der Stendhal Übersetzungen des Hanser Verlags, über den Hanser Verlag und seine Übersetzer. Der Münchener Verlag ist in diesem Jahrhundert durch eine Vielzahl von Neuübersetzungen hervorgetreten, die die Kritiker begeistert haben. Barbara Conrads Übersetzung von Krieg und Frieden und Rosemarie Tietzes Übersetzung von Anna Karenina sind von der Kritik ausführlich gewürdigt worden. Und auch in diesem Blog tauchen diese Übersetzungen auf. Aber bei Hanser gibt es noch viel mehr an neuübersetzter Weltliteratur. Die Moby-Dick Übersetzung von Matthias Jendis, die Daniel Göske herausgegeben hat, muss auch genannt werden. Daniel Göske hat für Hanser Joseph Conrads Shadow Line übersetzt. Und er hat gerade zusammen mit Maren Ermisch Fontanes Ein Sommer in London für den Aufbau Verlag fertiggestellt. Der Band der Großen Brandenburger Ausgabe erschien im Dezember. Hat jetzt nichts mit dem Hanser Verlag zu tun, aber ich musste das mal eben erwähnen, da ich Daniel Göske kenne, und Maren Ermisch mal meine Studentin war. Ich habe aus Elisabeth Edls Übersetzung der Kartause einiges in dem Post Kanonengedröhn zitiert. Ich glaube, dass die Leistungen der beiden Tolstoi Übersetzerinnen größer waren als die Stendhal Übersetzungen von Edl, die werbemäßig davon profitierte, dass ihr Ehemann Verlagslektor bei Hanser war.
 
Mein erstes Buch von Stendhal war 1962 Lucien Leuwen, übersetzt von Walter Widmer. Kostete in der Reihe Exempla Classica des Fischer Verlags damals 4,80 DM. Ich hatte den Plan, alle hundert Bände der Reihe Exempla Classica zu lesen, weil ich mit einundzwanzig die Weltliteratur gelesen haben wollte. Das ist mir nicht ganz gelungen, aber ich war nah dran. Fischer hatte für jeden Band der Reihe einen renommierten Fachwissenschaftler gewonnen, der ein Nachwort zu dem Roman schrieb. Für diesen Band hat das Fritz Schalk getan. Der Einzelband von Fischers Exempla Classica kostete damals 2,40 DM, ein Großband 3,60 und ein Doppelband 4,80. Fünfundzwanzig Bände erschienen pro Jahr, in vier Jahren hatte man die Meisterwerke der abendländischen Literatur komplett. Die Bände enthielten ein Nachwort, Anmerkungen und eine kleine Bibliographie, dafür hatte der Gesamtherausgeber Walter Killy gesorgt. Was im Rückblick zu kleinen Kuriositäten führte: Cervantes' Exemplarische Novellen wurden von dem Widerstandskämpfer Werner Krauss herausgegeben, Schillers Gedichte (Band 89) von dem Nazi Benno von Wiese

Was mich besonders interessierte, war natürlich die englische Literatur; und so lernte ich durch die Nachworte den Anglistikprofessor Rudolf Sühnel kennen, obwohl die Universität noch in weiter Ferne lag. Weil ich sein Nachwort zu Jane Austens Emma gelesen hatte. Und natürlich das zu Joseph Conrads Die Schattenlinie. Und zu Thackerays Die Geschichte des Henry Esmond

In der Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft versuchte man, mit diesem wissenschaftlichen Anspruch mitzuhalten. Thackerays Vanity Fair wurde dort von Mira Koffka übersetzt, das Nachwort schrieb Fritz Wölcken, der durch sein Buch über den Krimi berühmt geworden war. Und der Band von Coopers Die Ansiedler an den Quellen des Susquehanna hatte ein Nachwort von dem berühmten Amerikanisten Hans-Joachim Lang, der nach vielen Jahren endlich einen Wikipedia Eintrag hat. Rowohlt hatte auch einen Roman von Stendhal im Programm. Das war Die Kartause von Parma in der Übersetzung von Walter Widmer, mit einem Essay Zum Verständnis des Werkes und einer Bibliographie von Rudolf Baehr. Walter Widmers Sohn, der Schriftsteller Urs Widmer, hat in einer Rezension gesagt, dass Elisabeth Edl die bisherige Referenz-Übersetzung seines Vaters übertroffen habe:  Es ist in der Tat faszinierend und lehrreich zu sehen, wie eine Übersetzung, die einmal die Leser und Leserinnen durchaus entzückt hat, alt werden kann. Denn Elisabeth Edl tut eigentlich nichts anderes, als Stendhal unvoreingenommen und genau zu lesen. Sie hat ein wunderbar sicheres Gespür für seine Lakonie und gerät nie in Versuchung - wie dies meinem Vater immer wieder geschah -, Stendhal sozusagen nach oben zu schreiben. Ihn 'besser' zu machen, 'schöner', oder scheinbar unvollständige Satztrümmer stillschweigend zu ergänzen.

In gewisser Weise setzt der Hanser Verlag mit seinen Nachworten zu Die Kartause von Parma und Rot und Schwarz das fort, was Fischer und Rowohlt in den sechziger Jahren begonnen hatten. Romane mit einem Nachwort sind eine schöne Sache, auch wenn es nicht unbedingt 340 Seiten lang sein muss, wie das Nachwort der Hanser Ausgabe der Kartause. Das in manchen Teilen im übrigen wortgleich ist mit Edls Nachwort zu Stendhals Rot und Schwarz. Es ist immer gut, wenn man etwas recyclen kann, ich mache das auch. Beim Projekt Gutenberg kann man Die Kartause von Parma in der Übersetzung von Dr Arthur Schurig lesen. Die Übersetzung ist hundert Jahre älter als die von Elisabth Edl, aber man kann sie immer noch lesen. Dies gelbe Zeug hier braucht man dafür nicht unbedingt.



Donnerstag, 19. Januar 2023

Made in Italy: Fray


Die italienische Firma Fray ist nicht so bekannt wie Borrelli, Finamore oder Lorenzini. Es gibt sie seit 1962, und seit 1991 hat sie noch eine Schwesterfirma, die Pegaso heißt. Die stand kurz vor dem Untergang, da hat die Firma Fray sie gekauft. Es gibt qualitativ und preislich keinen Unterschied zwischen den beiden Firmen. Die Hemden tauchen selten bei ebay auf, dieses hier allerdings letztens schon. Neu und ungetragen. Kostete im Sofortkauf fünfzehn Euro, habe ich sofort gekauft. Sie wollen lieber nicht wissen, was solch ein Hemd im Laden kostet. Meine Fray und Pegaso Hemden haben mich vor vielen Jahren nie mehr als zehn Mark in einem Secondhand Laden gekostet. Deshalb habe ich ganz viele davon. Und kann leicht etwas über ihre Qualität sagen.

Es sind unauffällige, ja geradezu langweilige Hemden. Sie sind meistens weit geschnitten und haben all das, was ein italienisches Luxushemd ausmacht: Handarbeit, handgenähte Knopflöcher, perfekte Musteranpassung, Nähte mit zehn Stichen pro Zentimeter, erstklassige Stoffe und dicke Knöpfe. Und manchmal noch unten am Hemd, der Knopfleiste gegenüber, ein kleines Stück zusätzlichen Stoffs, das verhindert, dass das Hemd aus der Hose rutscht. Sie haben keine Dreiecke in den Seitennähten wie das Finamore und Borrelli haben. Sie haben da einen kleinen fünfeckigen Stoffknubbel. Den man genauso bei den Hemden von Werner Scherer und Rudolf Böll findet. Das Geschäft von Rudolf Böll in Rottach-Egern scheint dem Untergang geweiht. Die prachtvolle Internetseite ist gelöscht und Teile der Kollektion werden jetzt von Werner Scherer mit Sonderpreisen verkauft.

1962 eröffnete Lucia Pasin in Bologna in der Via Borgonuovo ihr Atelier und nähte Hemden. Der Anfang der Firma Fray ähnelt dem Anfang der Firma Finamore, wo Carolina Finamore in Neapel auch in einem kleinen Atelier begann. Lucia Pasin hat später über ihre Arbeit gesagt: La passione per il proprio lavoro è una forza che non si esaurisce e non ci esaurisce. Come in amore, se c’è passione ed anima si investe tutto in se stessi e si è sicuri di farcela senza stancarsi mai. Lavoro oggi con lo stesso entusiasmo di allora. Das ist klar, dass die Italiener auch beim Nähen von Hemden das Wort amore ins Spiel bringen müssn. Angeblich, so erzählt man in der Firma, streichelt Signora Lucia jedes Hemd, bevor es verpackt wird. Fray Hemden sollen dem Träger, der natürlich un uomo di cultura, amante della raffinatezza ist, Glück bringen. Das kleine Atelier wurde größer, Lucia Pasins Ehemann Giorgio Randi kümmerte sich um den Vertrieb und man zog nach Casalecchio Di Reno, was etwas außerhalb von Bologna ist.

Die Firma Fray kann auch etwas anderes, als unauffällig und langweilig zu sein. Das zeigte schon das Pegaso Hemd im ersten Absatz. Und erst recht dieses etwas exzentrische Hemd, das habe ich während des Schreibens dieses Posts getragen. Es hat ein Etikett von Werner Scherer in München, produziert wurde es von Frays Tochterfirma Pegaso. Das weiß ich, weil ich alle Details von Pegaso Hemden kenne und auch mehrere Werner Scherer Hemden besitze. Natürlich zu den Preisen der Secondhand Händler, dies hier hat mich bei ebay zwanzig Euro gekostet. Es ist ein sehr gutes Hemd, wenn eben auch ein bisschen exzentrisch. Aber das darf ich sein.

Viele Firmen in Italien sind untergegangen, wie zum Beispiel Lorenzini; Fray und Pegaso sind immer noch da. Sie gehören nicht zu den Großen, man schätzt, dass Signora Lucia in den letzten fünfzig Jahren vier Millionen Hemden gestreichelt hat. Ihr Ehemann ist vor sechs Jahren gestorben, inzwischen sind die Enkel auch im Geschäft. Man hat seit einigen Jahren einen Showroom auf der Via Montenapoleone, wo die ganze italienische Mode sitzt. Sie waren auch letzte Woche auf dem Pitti Immagine Uomo vertreten. 

Man kann Fray Hemden in Italien und Japan kaufen. Und in den USA bei Neiman Marcus, Bergdorf Goodman und ähnlichen Läden. Und in den Benelux Staaten, wie zum Beispiel bei Degand in Brüssel. Ob es wirklich in Kiew ein Geschäft gibt, das Fray Hemden verkauft, wie auf dieser Liste steht, das bezweifle ich. In Deutschland wird es schwierig, ein Fray Hemd zu finden. Braun in Hamburg führte mal die Marke, tut das aber nicht mehr. Kennt niemand, zu teuer. Braun hat jetzt Bagutta im Programm, was früher eher eine Billigmarke war, jetzt aber zum Premiumhemd deklariert wird. Offenbar hat die Firma Fray auch mal ein Rasierwasser auf den Markt gebracht, ich weiß nicht, ob man das braucht. Auf der Internetseite von Fray steht: We want every man who wears our shirts to know he is visibly elegant. Das reicht doch.

Dienstag, 17. Januar 2023

Sir Compton Mackenzie


Heute vor einhundertvierzig Jahren wurde der schottische Schriftsteller Compton Mackenzie geboren. Er hat unglaublich viele Bücher geschrieben, von denen Whisky Galore und The Monarch of the Glen vielleicht seine bekanntesten sind. Und er war einer der Gründer der Scottish Nationalist Party. Musikfreunde schätzten ihn als Gründer der Zeitschrift Gramophone, der er auch jahrzehntelang vorstand. Im Ersten Weltkrieg war Mackenzie Captain der Royal Marines und wurde Geheimdienstchef in der Ägäis. Seine Tätigkeit als Geheimagent wurde durchaus gewürdigt. Er bekam von Griechenland den Erlöser Orden, von den Franzosen die Ehrenlegion, von den Serben den Weißen Adlerorden und von England ein OBE. Mackenzie hat auch Spionageromane geschrieben, das haben ja viele Engländer getan, die im Geheimdienst tätig waren: John Buchan, Graham Greene, Ian Fleming und John le Carré, um nur einige zu nennen. Seine beiden zusammenhängenden Spionageromane Extremes Meet und The Three Couriers gehören zu den realistischen Spionageromanen.

Da ähnelt Mackenzie Somerset Maugham, der über seine Erfahrungen als Geheimdienstoffizier den Roman Ashenden, or, The British Agent schrieb. Ein Buch, das die Tätigkeit eines Agenten minutiös wiedergibt. Die häufig nur aus Langeweile besteht: Being no more than a tiny rivet in a vast and complicated machine, he never had the advantage of seeing a completed action. He was concerned with the beginning or the end of it, perhaps, or with some incident in the middle, but what his own doings led to he had seldom a chance of discovering. It was as unsatisfactory as those modern novels that give you a number of unrelated episodes and expect you by piecing them together to construct in your mind a connected narrative. Maugham gibt viel aus der Arbeit des Geheimdienstes preis, aber er wird nicht mit dem Official Secrets Act verfolgt, dafür sorgt sein Freund Winston Churchill, mit dem er Golf spielt. Mit dem Official Secrets Act wird es aber Compton Mackenzie zu tun bekommen.

Dies hier ist Captain Sir Mansfield Cumming, der erste englische Geheimdienstchef. Er pflegte alle Akten mit grüner Tinte mit dem Kürzel C abzuzeichnen, was seine Nachfolger übernahmen. Nur in den Romanen von Ian Fleming nicht, da heißt der Vorgesetzte von James Bond Sir Miles Messervy schlicht M. Und kann natürlich nur durch Bernard Lee dargestellt werden. Aber wenn die Geheimdienstchefs auch die Aura eines Gentlemans haben, sollen wir uns nicht täuschen lassen. Spionage ist ein schmutziges Geschäft, sagt man gemeinhin. Sie streitet sich mit der Prostitution um den Titel, das älteste Gewerbe der Welt zu sein. 

But there will always be espionage and there will always be counter espionage. Though conditions may have altered, though difficulties may be greater, when war is raging, there will always be secrets which one side jealously guards and which the other will use every means to discover; there will always be men who from malice or for money will betray their kith and kin and there will always be men, who, from love of adventure or a sense of duty, will risk a shameful death to secure information valuable to their country, hat Somerset Maugham geschrieben.

Dass der englische Geheimdienstchef nur einen Buchstaben trägt, wissen wir, seit Compton Mackenzie das in seinen Greek Memories enthüllt hat. Und auch den Namen von Cumming preisgegeben hat. Hat ihn in Old Bailey 1933 eine Menge Geld gekostet, dass er gegen den Official Secrets Act verstoßen hat. Der Verlag nahm das Buch vom Markt und ersetzte es durch eine zensierte Version. Erst 2011 veröffentlichte Biteback Books die originale Version des Textes. Mackenzie hatte nicht nur enthüllt, dass der Geheimdienstchef alles mit einem C unterschrieb, er enthüllte auch, dass es einen Secret Intelligence Service gab (den man heute als MI6 kennt). Alle Praktiken des Geheimdienstes und die Namen vieler Geheimdienstoffiziere fanden sich in diesem Buch. Der Prozeß gegen Mackenzie, der in camera und ohne Jury geführt wurde, hatte auch komische Seiten. Der Attorney General, Sir Thomas Inskip, der die Geheimhaltung von Captain Cumming verteidigen wollte, wußte nicht, dass Cumming schon lange nicht mehr Geheimdienstchef war. Und dass er seit zehn Jahren tot war.

Colonel Valentine Vivian, der Vizechef des SIS, warnte die Regierung: The keynote of this book is authenticity... It is hardly surprising, therefore, that the book should in effect consist of a tissue of secret documents, few in themselves having any literary or public interest, but being plainly inserted to prove that the writer had access to authentic secret information ... But the main effect of these documents is to lend to the non-documentary portion of the book, much of which is dangerous to the interests of the Secret Service in the present day, a well merited appearance of reliability, which must assure the whole book the earnest attention of foreign, and potentially hostile governments. Zusammenfassend sagt er: There is scarcely a page of Greek Memories which does not damage the foundation of secrecy upon which the Secret Service is built up. Vivian hat als Geheimdienstoffizier viele Verdienste, er hat allerdings auch George Orwell in Paris bespitzelt. Und Kim Philby angeworben, was sicher nicht so verdienstvoll war. In den vorangegangenen Bänden seiner Memoiren, Gallipoli Memories (1929) und First Athenian Memories (1931), hatte Mackenzie keine Geheimnisse preisgegeben, das hatte er sich für den Band Greek Memories aufgespart.

In seinem Roman Water on the Brain (1933) hat sich Mackenzie (hier ein Photo aus dem Ersten Weltkrieg), dafür gerächt, dass die Geheimdienste seine Memoiren verboten hatten. Zu denen ihm im übrigen Kollegen aus der Geheimdienstzeit geraten hatten. Jetzt greift er zur Farce, zur Satire und beschreibt ein Directorate of Extraordinary Intelligence, MQ 99(E), das nur ein Ziel hat: it stands to reason that if the Secret Service was no longer secret it would cease to be the secret serviceAfter all, we're not cabinet ministers. We can't afford to talk. In diesem Roman empfiehlt der Geheimdienstchef seinen Mitarbeitern, das Wort spy nicht zu verwenden: I say, don't use that word, if you don't mind, when you're talking about our own people. We only use it for foreign agents. It may not seem to you important, but it's just these little things that make the wheels of the show go round smoothly. There's always a slight stigma attached to that word.

Der Geheimdienst muss in dem Roman seinen Sitz Pomona Lodge im Norden Londons aufgeben, ein ehemaliger Agent wrote a novel called 'The Foreign Agent' which might have smashed up the whole of the Secret Service. Und über diesen ehemaligen Agenten, der jetzt Romane schreibt, wird noch gesagt: He did what was almost as bad. . . He wrote what he honestly thought was a completely misleading picture of the Secret Service as it really is. The consequence is that any foreign agent who reads Chancellor’s novel knows perfectly well now what the British Secret Service is not, and to know what it is not is half-way to knowing what it is. Und Mackenzie setzt noch eins drauf: Pomona Lodge is now an asylum for the servants of bureaucracy who have been driven mad in the service of their country. Viele Leser mochten diesen Roman, der Herzog von Westminster wird sagen, Water on the Brain sei the only realistic book about secret service he had read.

Dass die Spione in Compton Mackenzies Roman in der Irrenanstalt landen, ist ein schöner Gedanke. Vielleicht ist die amerikanische NSA Zentrale Fort Meade, die man Crypto City nennt, ja nichts anderes als Mackenzies Pomona Lodge. Eine Heimat für paranoide Computer Nerds. Was wird aus all den Spionen? Also außer denen, die Spionageromane schreiben oder whistleblower werden? Oder wie Kim Philby und Guy Burgess den Rest ihres Lebens in Moskau verbringen. Oder denen der Adelstitel von der Königin entzogen wird, wie dem Herrn rechts auf dem Photo. Die Amerikaner haben zwei Dutzend Geheimdienste, man fragt sich, womit die sich beschäftigen. Wissen die, dass ihr Präsident geheime Unterlagen in der Garage aufbewahrt?

Graham Greene läßt in seinem Roman The Ministry of Fear eine Romanfigur sagen: It sounds like a thriller, doesn't it, but the thrillers are like life – more like life than you are, this lawn, your sandwiches, that pine. You used to laugh at the books Miss Savage read — about spies, and murders, and violence, and wild motor-car chases, but, dear, that's real life ... The world has been remade by William Le Queux. Der Name Le Queux ist heute nicht mehr so geläufig, er war einer der ersten, der uns Spionageromane und Thriller servierte. Also das, was uns jeden Abend im Fernsehen serviert wird, wenn wir nicht die stinklangweiligen Nordic Noir Serien sehen wollen. 

Wir können Compton Mackenzie (hier als Rektor der Universität von Glasgow) dankbar sein, dass er noch andere Dinge im Kopf hatte als William Le Queux, dass er uns die Zeitschrift Gramophone und Whisky Galore und The Monarch of the Glen geschenkt hat. Sein Biograph Gavin Wallace hat über ihn gesagt: Although Mackenzie's output of novels (including delightful books for children), essays, criticism, history, biography, autobiography, and travel writing was prolific - a total of 113 published titles - it can truly be said that if he had never written a word he would still have been a celebrity. He had a personality as exhibitory and colourful as his writing, and remained throughout his life a gregarious man with a brilliant sense of comedy. Flamboyant, a raconteur and mimic, he was no less memorable as the formidable scourge of politicians, bureaucrats, and governments, and the passionate defender of the ostracized, the shunned, and the wronged.

Ich habe natürlich alles gelesen, was mit Mackenzie und der Welt des Geheimdienstes zusmmenhängt. Ich habe sogar die erste deutsche Dissertation über Mackenzie, Die Bedeutung des Abenteuers bei Compton Mackenzie von Agnes Habermann, aus dem Jahre 1932 gelesen. Das habe ich getan, weil ich vor einem halben Jahrhundert ein Buch über den englischen Spionageroman geschrieben habe. Wenn Sie davon eine kurze Kurzfassung lesen wollen, dann lesen Sie den Post Secret Agents. Über die Welt der Geheimdienste steht auch einiges in diesem Blog, zum Beispiel in dem Post Aufklärung. Dort findet sich auch die Geschichte, dass mich der BND anwerben wollte und welche Erfahrungen ich mit dem Miltärischen Abschirmdienst machte. Die waren genau so komisch wie Mackenzies Roman Water on the Brain.

Sonntag, 15. Januar 2023

Ingahild Grathmer


Die elegante Dame hier in der Kunstausstellung scheint nicht so sehr an den Landschaftsgemälden interessiert zu sein, die da an der Wand hängen. Sie geht an ihnen vorbei. Sie kennt die Bilder schon. Sie hat sie selbst gemalt. Jetzt malt sie Landschaften in Öl, in den siebziger Jahren hatte sie als Zeichnerin angefangen und hat Illustrationen zu Tolkiens Herr der Ringe gezeichnet. 

Die ersten Zeichnungen hat sie an Tolkien geschickt. Der war sehr davon angetan, was ihm die junge Dänin Ingahild Grathmer da schickte. Die erste dänische Ausgabe von Ringenes herre mit ihren Illustrationen im Jahre 1977 hat er nicht mehr erlebtIngahild Grathmer hat noch einen anderen Namen, sie heißt auch Margrethe Alexandrine Þórhildur Ingrid und ist die Köngin von Dänemark. Das ist sie heute vor einundfünfzig Jahren geworden, sie war seit 560 Jahren die erste Frau auf dem dänischen Thron. Sie ist jetzt das weltweit dienstälteste amtierende weibliche Staatsoberhaupt. Der NDR hatte gestern passend zu dem Jubiläum mit Das dänische Königshaus: beliebt, modern, glamourös eine nette Sendung über das dänische Königshaus.

Ich habe Margrethe einmal gesehen, da war sie einundzwanzig, es war schönstes Sommerwetter, solrigt vejr, da oben am Limfjord. Margrethe trug ein wunderbares royalblaues Abendkleid. Sie hatte sich mit ihren Schwestern offenbar beim Ankleiden verspätet, das kriegen Frauen ja immer leicht hin. Der König, der neben seinem riesigen Jaguar Mark VII (auch royalblau) wartete, war verärgert und fuhr ohne seine Töchter weg. Hat aber vorher allen Umstehenden, die seinen Wagen bewunderten, die Hand geschüttelt. Mir auch. Die Prinzessinnen wurden dann mit einem royalblauen amerikanischen Straßenkreuzer zum Abendessen bei dem Direktor der Austernfischerei kutschiert. Die Geschichte steht schon in dem Post des Königs Jaguar, ein Post, der viele Leser gefunden hat.

Das blaue Abendkleid, das sie an dem Sommerabend in Nykøbing trug, würde sie heute nicht mehr tragen, sie liebt es gern bunt. Sie könnte ihre Kleider ja bei Baum und Pferdgarten kaufen, aber vieles ist ihr eigenes Design, das ihr ihre Lieblingsschneiderin Birgitte Thaulow näht. Die  Königin ist auch Kostümdesignerin für Film, Theater und die Kopenhagener Oper. Im letzten Jahr hat sie für einen Netflix Film von Bille August die Kostüme und Dekorationen entworfen. Und deshalb hat sie in dem Post skandinavische Mode auch ihren Platz.

Sie raucht jetzt weniger, in der Öffentlichkeit gar nicht mehr. Ihr Vater war auch Kettenraucher bis ihm seine Ärzte die Pfeife empfahlen. Sie bleibt bei ihren Ziggis. Ohne Filter. Als sie Königin wurde, hat sie auf den Titel einer Gräfin von Delmenhorst verzichtet. So etwas tun Könige ja manchmal, George III hat darauf verzichtet, König von Frankreich sein zu wollen. Köningin der Färöer ist sie aber noch. Sie hat noch nie eine E-Mail geschrieben, weil sie mit Computer und Handy nicht umgehen kann. Und nicht umgehen will. 

Mit der Fernbedienung des Fernsehgeräts kommt sie zurecht. Sie sieht am liebsten die Olsenbande. Und erscheint auch mal bei Ulf Pilgaard, der sie auf der Bühne seit vierzig Jahren parodiert. Die Dänen können glücklich sein, eine solche Königin zu haben. Ich nehme an, dass sie heute zur Feier des Tages einen Akvavit trinken wird. Das werde ich auch tun, ich habe den schon kaltgestellt. Und dann werde ich Snaps Drinking Woman von Champion Jack Dupree auflegen, das hat er ja in Kopenhagen geschrieben. Das habe ich in dem Sommer, in dem ich die Prinzessin sah, nachts auf einem Segelboot im Hafen von Kopenhagen mit einem schäbigen kleinen Transistorradio gehört. Manches bleibt immer im Ohr. Champion Jack Dupree ebenso wie Galila Rübners Bach.

Freitag, 13. Januar 2023

Oskar Zwintscher


Ich habe endlich Ihr Selbstporträt gesehen. Das muß ich Ihnen auf alle Fälle sagen, daß es mir einen großen, großen Eindruck gemacht hat. Das ist ein wundervolles Bild. So fein in den Kontrasten, so intim und doch fast dekorativ. Es ist mir das Liebste, was ich bisher von Ihnen gesehen habe. (Wie freue ich mich einmal, bis ich viel mehr kenne, über Ihr Werk zu schreiben!), schreibt Rainer Maria Rilke am 18. Mai 1902 an den Maler Oskar Zwintscher. Er hatte das Bild in der 13. Großen Kunstausstellung des Bremer Kunstvereins in der Bremer Kunsthalle gesehen. Aus dieser Ausstellung heraus hat die Kunsthalle bei Ausstellungsende das Bild auch gekauft. 1902 war Zwintscher ein berühmter Mann. Aber der Ruhm des Mannes, der es versteht, uns die koloristischen und zeichnerischen Experimente der alten Meister, natürlich ins Moderne übersetzt, wieder nahe zu rücken, hat nicht lange gehalten.

Zwintscher ist, Rilkes Einladung folgend, einmal in Worpswede gewesen. Hat dort Heinrich Vogeler, Rainer Maria Rilke und seine Ehefrau Clara Rilke-Westhoff gemalt. Das wusste ich, sonst wusste ich wenig über den Künstler. Jetzt weiß ich mehr, weil mir die Astrid zu Weihnachten den großen Dresdner Zwintscher Katalog Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 geschenkt hat. Die haben in Dresden vierzig Jahre nach der ersten Nachkriegsausstellung von Zwitscher jetzt wieder eine Ausstellung. Im letzten Jahr war schon das kleine Buch Oskar Zwintscher im Albertinum (Leseprobe) erschienen. Über die neue Ausstellung hat die Direktorin des Albertinums Hilke Wagner gesagt: Es ist für mich eine Aufgabe, dass wir die Kunstgeschichte korrigieren und diesen wunderbaren Maler, der eben lange übersehen wurde, im rechten Licht und im rechten Kontext zeigen

Das sind große Worte, denn nicht alles im Werk von Zwintscher, den man einmal den sächsischen Klimt nannte, ist wunderbar. Das Dresdner Online Stadtmagazin Cyber Sax hat das etwas genauer formuliert: Der Maler Oskar Zwintscher (1870–1916) gehörte lange zu den Verlierern der alten Fortschrittserzählung der Moderne, wurde seine Kunst doch bis vor einigen Jahren nicht selten als schwüler Jahrhundertwende-Kitsch abgetan. Wenn wir ein Beispiel für den Kitsch brauchen, dann reicht ein Blick auf dieses Bild, das den Titel Gram hat. Das ziert natürlich nicht die Vorderseite des neuen Katalogs, dafür hat man ein wirklich gutes Bild des Malers genommen, der auch ein hervorragender Portraitist ist.

Vorne auf dem Katalog ist dieses Portrait einer Dame mit Zigarette aus dem Jahre 1904. Man weiß leider nicht, wer sie ist. Der Dresdner Online Katalog sagt über das Bild: Von dieser jungen Frau mit offenem Haar, dichten Augenbrauen, vollen Lippen und schlichter, schmuckloser Kleidung geht eine rätselhafte Anziehungskraft aus. Ihr direkter Blick und die laszive Haltung mit übereinandergeschlagenen Beinen lassen auf eine moderne, selbstbestimmte Persönlichkeit schließen, möglicherweise eine Malerin, Sängerin oder Schauspielerin. Diese Annahme wird unterstrichen durch die angezündete Zigarette, die bislang ausschließlich als Symbol für Weltläufigkeit und Männlichkeit galt. 

Die dunklen Augen der jungen Frau sind erfüllt von einer unbestimmten Sehnsucht und Melancholie.Immer wieder verwies der Maler in seinen Frauenbildnissen auf dunkle, gedankenschwere Seelenzustände. Die Eindringlichkeit des Bildnisses wird gesteigert, indem Zwintscher das helle, samtige Inkarnat von Gesicht, Hals und Händen sowie das Aschblond der Haare in hellen Tönen im Kontrast zur schwarzen Kleidung und zum schwarzgrauen Hintergrund erstrahlen lässt. Allein die glutrote Zigarettenspitze und das Rot der sinnlichen Lippen setzen Farbakzente.

Das zweite Bild im oberen Absatz ist nicht von Zwintscher, es entstammt einem Projekt namens tussenkunstenquarantaine, wo jedermann bei Instagram Gemälde nachstellen kann. Aber ein Original nachzustellen gelingt selten. Wer hat schon solch ein Handgelenk wie die Dame aus dem Jahre 1904? Die Idee, Kunstwerke nachzustellen, kam in der Corona Zeit vom Getty Museum: We challenge you to recreate a work of art with objects (and people) in your home: 

Choose your favorite artwork 
Find three things lying around your house 
Recreate the artwork with those items

Und dann schicken Sie das Ganze ans GettyMuseum. Oder an tussenkunstenquarantaine. Oder wohin Sie wollen, das Internet nimmt alles. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: suchen Sie sich etwas Einfaches aus. Versuchen Sie nicht Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht nachzustellen.

Die Ausstellung Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 geht noch bis zum 15. Januar (also bis übermorgen), ab März ist sie in Wiesbaden zu sehen.

Mittwoch, 11. Januar 2023

Kriminalpolizei

Kriminalpolizei, sagte die Stimme am Telephon. Ich wusste, dass es nicht die Kripo war, die Telephonnummer war unterdrückt. Das hat seinen Grund, sagte der Mann, der sich als Kommissar Weber vorstellte, das machen wir aus ermittlungstaktischen Gründen. Sie können aber auch bei der Polizeidirektion anrufen. Das war nun ein geschickter Schachzug, um verunsicherte Leute zu beruhigen. Und dann erzählte er mir diese Geschichte, die ich glauben sollte. Dass man in meiner Nachbarschaft zwei Leute festgenommen hätte. Rumänen. Dies Detail ist immer gut, wir glauben ja gerne, dass die Rumänen immer kriminell sind. Zigeuner eben. Die beiden Rumänen würden jetzt von seinem Kollegen, dem Hauptkommissar Knauer, im Präsidium vernommen. Sie hätten einen Zettel dabei gehabt, auf dem stände, dass ich viele Wertsachen und Bargeld in der Wohnung hätte. In meinem Safe. Das müsse er jetzt alles genau wissen.

Das konnte ich mir vorstellen, dass er das gerne wissen wollte. Es war mir die ganze Zeit klar, dass dies kein echter Kommissar, sondern ein Kleinkrimineller war, ein Trickbetrüger. Man liest ja immer davon, man hat sie aber selten wirklich am Telephon. Er hatte seinen Text vorbereitet, so wie ein Schauspieler seinen Text vorbereitet, er wusste auf alles eine Antwort. Er hatte ein Drehbuch für das Ganze. Ich ließ ihn reden. Irgendwann wurde es mir zuviel, ich sagte ihm, dass er kein Kriminalkommissar, sondern ein Krimineller sei. Jetzt war er beleidigt. Wie können Sie es wagen, einen deutschen Kriminalkommissar zu beleidigen. Ich schicke Ihnen gleich mal eine Funkstreife vorbei. Ich sagte: Darauf warte ich gerne und legte auf.

Dann rief ich die richtige Polizei an und erzählte einer netten Beamtin die ganze Geschichte. Sie nahm das alles sorgfältig auf. Sie fragte mich, ob ich im Telephonbuch stände und riet mir, meinen Eintrag dort löschen zu lassen. Ich stehe seit fünfzig Jahren im Telephonbuch, das war früher etwas Seriöses. Heute offenbar nicht mehr. 

Aber der Abend war noch nicht zu Ende. Eine Stunde nach dem Telephonat mit der Polizei rief mich erneut ein Kriminalkommissar an. Diesmal nicht mit unterdrückter Nummer, sondern mit der Nummer 110. Die Polizei ruft niemals mit dieser Nummer an. Er hatte eine sonore Stimme und konnte sich wie ein gebildeter Mensch ausdrücken. Und er begann wieder mit der Geschichte mit der Nachbarschaft. Ich unterbrach ihn und fragte: Sind das die Rumänen, von denen mir ihr Kollege Weber von einer Stunde erzählt hat? Jetzt war er für einen Augenblick unsicher. Und dann sagte ich: Ihr Kleinkriminellen, ihr müsst mal eure Anrufe abstimmen. Er sagt Ja und legte auf.

Eine Woche später konnte ich in der Zeitung lesen, dass die Anrufe der Kriminellen, die sich als Polizisten ausgäben, stark zugenommen hätten. Zwei Wochen später kam ein Brief von der Staatsanwaltschaft, die mir mitteilte, dass man die Untersuchungen eingestellt hätte. Es erschien aussichtlos, da jemanden zu greifen, selten wird mal jemand von der Bande festgenommen.

Aber die Betrüger geben nie auf. Am letzten Sonntagabend war eine Frau am Apparat. Sie sagte, dass sie die Einsatzleiterin des 3. Polizeireviers sei. Sie war sehr energisch. Und sie erzählte auch wieder eine Geschichte, die sich gerade in der Nachbarschaft abgespielt hatte. Bei mir um die Ecke hätte man eine 86-jährige Dame überfallen. Aber bevor die angebliche Polizeibeamtin ihr Programm abspulen konnte, fragte ich sie, warum sie mit unterdrückter Nummer anriefe. Das liegt an unserer abhörsicheren Kryptoleitung, sagte sie. Ich hörte der energischen Einsatzleiterin noch ein wenig zu. Die Etablierung der Glaubwürdigkeit ist ja erst der Anfang der Geschichte, irgendwann wollen sie mit neuen Erzählungen an das Geld des Angerufenen. Ich beendete das Gespräch, indem ich sagte, dass zwischen ihr und den Randalierern von Silvester kein großer Unterschied sei. Ins Gefängnis gehörten sie alle. Jetzt war sie richtig beleidigt. Ich legte auf. Dann rief ich das 3. Polizeirevier an. Sie hatten keine Einsatzleiterin. Und keine abhörsichere Kryptoleitung. Mein Gott, hört das nie auf? sagte der Beamte am Telephon. Es hört offenbar nie auf. Die  Band Erste allgemeine Verunsicherung hatte schon recht, als sie Das Böse ist immer und überall sangen.

Sonntag, 8. Januar 2023

C'est à Hambourg


Ich wäre beinahe mal Rowohlt Autor geworden. Dem Lektor gefiel mein Manuskript, er wusste nur nicht, in welcher Reihe des Verlags er es unterbringen sollte. Während wir Briefe wechselten, erhielt ich plötzlich von einem ganz anderen Verlag ein Angebot. Sie offerierten mir, mein Manuskript noch im selben Jahr in ihrer neuen wissenschaftlichen Reihe als Buch herauszubringen. Ich nahm das Angebot an, so etwas bekommt man nicht jeden Tag. Verabschiedete mich aber noch brieflich von dem netten Rowohlt Lektor. Nicht so nette Erinnerungen an den Rowohlt Verlag hatte ein junger Schriftsteller namens Karl Mickinn, der nach einer Woche sein Romanmanuskript vom Cheflektor Fritz J. Raddatz zurückbekommen hatte. Ja, das ist Raddatz hier, noch ohne seinen Bart. Raddatz ist schon mehrfach in diesem Blog erwähnt worden (zum Beispiel in den Posts Goethe und Albert Vigoleis Thelen), aber noch nie ist etwas Nettes über ihn gesagt worden. Ich muss da noch eben etwas zitieren, was hier schon vor zwölf Jahren stand:

Aber wundert es einen bei jemandem, der wegen eines gefälschten Goethe Zitats bei der Zeit rausgeflogen ist? Und wie schrieb damals noch Karasek so schön über Raddatz? Da Raddatz ein eitler, lauter, in Beleidigungen schnatternder Gesellschaftsmensch war, der sich so anhörte, wie Willi, der Freund der Biene Maja, freute sich das halbe Feuilleton-Deutschland über seinen Sturz in die Lächerlichkeit. Er, der jedem besserwisserisch dessen Unbildung vorwarf, war also selbst hereingefallen. Er war dabei aber nur ein notorischer Wiederholungstäter, der mit seinen fatalen Falschzitaten offenbar einem geheimen Selbstzerstörungstrieb gehorchte.
     Der Engländer würde sagen: The pot calling the kettle black. Ja, da haben sich zwei gefunden. Beides Dünnbrettbohrer, aber beide mit riesigem Ego.

Raddatz teilte Karl Mickinn mit, er könne nur davon abraten, das Werk in Deutschland zu veröffentlichen. Mickinn nahm das als einen guten Ratschlag, er ging nach Paris, wo er mal kurz studiert hatte, und offerierte das inzwischen durch die renommierte Übersetzerin Gisèle Bernier (die Isaac Bashevis Singer ins Französische gebracht hatte) übersetzte Manuskript dem berühmten Maurice Nadeau. Der das Buch sofort in seiner Reihe Les Lettres Nouvelles seines Verlags Denoël in einer Auflage von dreitausend Exemplaren druckte. Der Titel des Buches war C'est à Hambourg, Titel eines Chansons von Edith Piaf. Der Titel war richtig gewählt, denn von Hamburg handelt der Roman: 24 heures dans les quartiers chauds de Hambourg en 1958 sur fond de 'miracle économique'. Der Roman versetzt uns vierundzwanzig Stunden lang (Joyces Ulysses war da wohl ein Vorbild für den Autor) in ein quirliges Spätsommer-Hamburg. Nicht an die Elbchaussee, eher in die Rotlichtviertel. Das war es, was Raddatz nicht gefallen hatte, ein Buch pickepackevoll mit dem Schmutz der Hansestadt im Jahre 1958. Marvelous dirty stuff wird es in einem englischen Journal heißen. Dagegen sind die St Pauli Romane von Simone Buchholz harmlos. Die Kritiker der führenden Pariser Zeitungen waren von C'est à Hambourg begeistert. Für sie war Karl Mickinn ein Name, der den Namen von Johnson, Grass und Enzensberger hinzugefügt werden müsse.

So etwas ähnliches musste Walther H. Schünemann im Bremen auch wohl gedacht haben. Er bot Mickinn sofort einen Vertrag an, weil er doch diese etwas exzentrische Reihe City Buch hatte. Da war gerade zum erstenmal in deutscher Sprache Jean-Pierre Rochés Jules und Jim erschienen (das als Lizenzausgabe auch zu Rowohlt wanderte), und dann gab es Jean-Louis Rieupeyrouts Le Western, Ou le cinéma américain par excellence und Co­mics wie Jean-Claude Fo­rests Bar­ba­rella und Guy Peellaerts Jodelle. Oder Octave Mirbeaus Le Jardin des supplices mit zwanzig Zeichnungen von Rodin. Auch Rock Dreams: Die Geschichte der Popmusik von Guy Peellaert und Nik Cohn ist in deutscher Übersetzung bei Schünemann erschienen. Wo sonst? Kein deutscher Verleger würde es heute wagen, ein solches Verlagsprogramm zu haben. Ein Jahr nach C'est à Hambourg erschien Altweibersommer in Bremen. Als Buch sehr gut ausgestattet: blauer Original-Leinenband mit weißgeprägtem Rückentitel und mehrfarbig illustriertem Original-Schutzumschlag, Kopffarbschnitt. Und dann eben diesem erotischen Schutzumschlag von Paul Wunderlich.

Es gab eine Vorzugsausgabe des Buches, da war der Schutzumschlag eine von Wunderlich signierte Lithographie. Im Spiegel konnte man lesen: Karl Mickinn: »Altweibersommer«. Ein Jahr nach der französischen Übersetzung (SPIEGEL 10/1967) bringt der Autor aus Ostpreußen, 41, seinen zynischen, kunterbunten und bisweilen unbekümmert aberwitzigen Erstroman aus Hamburger Gossen und Striptease-Pinten, von Schiebern, Huren, Säufern, Bankräubern und Reeperbahn-Wärtern deutsch auf den Markt. Das Lokal-Kolorit von St. Pauli stimmt, die Slang-Tiraden wirken auf Langstrecken ermüdend. 400 Exemplare der Auflage sind mit numerierter und signierter Original-Lithographie des Hamburger Graphikers Paul Wunderlich umwickelt und für 120 Mark zu haben. (Schünemann; 304 Seiten; 22 Mark.)

Im Kultursommer 2021 wurde in St Pauli auch aus dem Werk von Mickinn vorgelesen. Dort findet sich im Programm auch eine kurze Biographie: Karl Mickinn, geboren 1927, ostpreußischer Bauernsohn, Luftwaffenhelfer und Panzergrenadier, studierte in Hamburg, Köln und Paris 'ein bisschen Philosophie und Volkswirtschaft' und bemühte sich mit Erfolg, möglichst arbeitslos über die Jahre zu kommen. Am Kellersee bei Malente, im Gutshaus des Ex-Diplomaten Werner von Levetzow, hatte er sein festes Domizil – als 'Vermögensverwalter, Gesellschafter, Saufkumpan', als 'Butler mit Familienanschluss'. Dort begann er seinen Roman 'Altweibersommer', der in Frankreich Premiere hatte und erst dann auf Deutsch mit einer Umschlaglithographie  von Paul Wunderlich im Bremer Schünemann Verlag erschien. Er zog nach Irland und betrieb dort eine Pension. Weiteres ist nicht bekannt.

Man weiß nicht sehr viel über den Autor, man könnte noch hinzufügen, dass er 2010 gestorben ist. Und 1967 verlauten ließ, er arbeite an einem zweiten Roman. Das sei die Geschichte eines pensionierten Zuhälters, Arbeitstitel: Die Pornozyniker. Ein Roman, der nie erschienen ist. Der Artikel im Spiegel No 10 (1967) mit dem Titel Mädchen, Frauen, Weiber bleibt eine der wichtigsten Quellen zu Mickinns Leben und Werk. Der taucht manchmal an seltsamen Stellen auf. So können wir in Stefan Blessins Biographie von Horst Janssen lesen, dass Mickinn die Frauen entsorgt, die sein Schulfreund Paul Wunderlich nicht mehr sehen will: Wunderlich mußte sich bei den Frauen nicht bedingungslos engagieren. Es gab Zeiten, da er sie wie Nummern ablegte. Solche Mädchen, die einfach wegsollten, übernahm morgens Karl Mickinn, der übrigens mit Wunderlich wie mit Janssen befreundet war. Karl Mickinn brachte ihnen das Frühstück ans Bett und beruhigte die Wartende: 'Paul kommt gleich'. Er dehnte den Morgen künstlich und kam nach zwei Stunden, den Blick immer noch unverwandt aus dem Fenster auf den Ersehnten gerichtet, mit dem Satz hervor: 'Eigentlich ist der Mensch allein.' So gab er das Zeichen zum Kofferpacken. 

Die Zeit ließ sich ein Jahr Zeit, um diesen neuen deutschen Roman zu besprechen, dann tat das im Januar 1968 Martin Gregor-Dellin. Der stösst sich an der Sprache des Textes, zum Beispiel an der Formulierung sie taxigirlte. Ich finde diese Eindeutschung des amerikanischen taxi girls ziemlich genial. Aber so genial manche Sätze von Mickinn, mit vierzig ein Debütant, auch hingefetzt werden, Gregor-Dellin konnte sich nicht dazu verstehen, dass Mickinn, zuweilen auch präziser Berichterstatter von Lebensläufen und ein kühler Beobachter einen guten Roman geschrieben hatte. Seine französischen Kollegen, deren Rezensionen auf der Innenseite des Buchumschlags der deutschen Ausgabe abgedruckt sind, waren da ganz anderer Meinung. Sechs Jahre hatte Mickinn an seinem Roman geschrieben, Gregor-Dellin wird in seiner Kritik den 24 heures dans les quartiers chauds de Hambourg en 1958 sur fond de 'miracle économique' nicht gerecht. Denn Kraftausdrücke, Schludrigkeiten und schmutzige Witze hin und her: dies Buch ist auch ein Stück großer Literatur. Man kannn es antiquarisch immer noch finden. Die französische Erstausgabe wurde 1982 neu aufgelegt.