Ich bin dabei, über Stendhal zu schreiben, das habe ich schon am 3. Oktober gesagt. Ich will über die Übersetzungen von Elisabeth Edl von Rot und Schwarz und Die Kartause von Parma schreiben, ich habe auch schon eine Menge als Entwurf stehen. Als ich beim Schreiben war, dachte ich mir, es wäre vielleicht nützlich, erst einmal über die Stendhal Biographen zu schreiben und kaufte mir bei ebay und booklooker einige ältere Biographien, die ich nicht besaß. Eigentlich brauchte ich keine mehr, denn ich besitze die exzellente Biographie von Robert Alter, die ich schon in dem Post Stendhal vorgestellt habe. Und ich habe neben der Biographie von Johannes Willms auch den Band von Michael Nerlich aus der Reihe von Rowohlts Monographien. Damit kann man leben.
Aber das Buch Stendhal: wie er lebte, schrieb und liebte von Paul Hazard, 1950 bei Hoffmann & Campe in Hamburg erschienen, das kannte ich nicht. Es war ein wirklich schöner Fund. Der Untertitel des Buches, das versichert uns die Übersetzerin, ist eine Übersetzung der italienischen Zeilen, die auf Stendhals Grabstein stehen. Professor Hazard war ein berühmter Mann in Frankreich. Officier de la Légion d’honneur, Professor an der Sorbonne, ein Lehrstuhl am Collège de France, Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. In die Académie française wurde er 1940 berufen, es war die einzige Wahl während der deutschen Besatzung: Paul Hazard fut élu à l’Académie française le 11 janvier 1940, au troisième tour par 16 voix au fauteuil de Georges Goyau. Après l’année 1939 qui n’avait vu aucun vote, cette élection devait être la seule des années de tourmente de l’Occupation, et Paul Hazard allait mourir en possession de son habit vert, mais sans avoir pu être reçu. Da hat er nun den schönen grünen Frack, aber er kann ihn niemals tragen (wie wir auf der Seite der Académie française lesen), er stirbt 1944, und die Académie nimmt während der Okkupation keine neuen Mitglieder auf. Von 1932 bis 1940 war er alle zwei Jahre Gastprofessor an der Columbia Universität gewesen. Einer seiner Vorgänger auf dem amerkanischen Lehrstuhl war der berühmte Henri Bergson. Die Sorbonne ernannte Hazard 1940 zum Rektor, aber das Amt konnte er nicht wahrnehmen, die Nazis waren dagegen.
Im Ersten Weltkrieg war der Capitaine Hazard Übersetzer in Italien gewesen, er hat damals drei Jahre in Rom gelebt. Er hat auch deutsche Kriegsgefangene verhört und versucht herauszufinden, was die Deutschen bewegte. Das Ergebnis (hier im Volltext) hat er 1915 veröffentlicht. Ich zitiere mal etwas vom Anfang: Voici venir l’habituelle moisson de la journée; triste moisson. On apporte les papiers des prisonniers de guerre: il faut les examiner. Pauvres papiers, salis, tachés de boue, et quelquefois tachés de sang! Humbles écritures laborieuses, venues des Poméranies lointaines; lettres élégantes et parfumées; cartes postales grossières, dont les rodomontades antifrançaises paraissent si lamentables maintenant; billets hâtifs, écrits au crayon dans la tranchée, avant de partir à l’assaut: tout se mêle, les lettres jalousement gardées depuis le début de la campagne, et les réponses prêtes à partir. On a fait faire la photographie de la maisonnée pour l’envoyer à l’absent; l’homme de la Landwehr a voulu s’admirer dans sa tenue de guerre, et, fier de son image, il l’a serrée dans son portefeuille, belliqueuse et ahurie; elle est là. Ou bien il a fait collection des vues de nos villages, hélas! et voici nos clochers. Quelques cahiers de chansons, mais officiels, et où la verve personnelle n’a point cours; beaucoup de livres de prières, marqués au numéro du régiment, qui font partie de l’équipement réglementaire; quelques brochures belliqueuses; d’étranges vocabulaires franco-allemands, où la prononciation figurée donne à notre langue des airs barbares, qui font rire et qui font souffrir ; des carnets de route surtout.
Der Stil ist interessant. Hier schreibt kein bürokratischer Schreibstubenoffizier, hier schreibt ein Dichter. Als der Krieg zuende war, trug Hazard das Croix de Guerre und hatte einen autobiographischen Roman mit dem Titel Maman fertig, den er unter dem Pseudonym Paul Darmentières veröffentlicht (er schreibt auch Essays als Paul de Saint-Maurice). Über das, was der Krieg der Seele Frankreichs angetan hat, wird er 1920 einen Aufsatz schreiben. Die großen Werke, für die er berühmt werden wird, La Crise de la conscience européenne. 1680–1715 und La Pensée européenne au XVIIIe siècle, de Montesquieu à Lessing, sind noch nicht geschrieben. Man wird den Professor Hazard im Zweiten Weltkrieg wieder einziehen, diesmal nominell als Oberstleunant im Commissariat général à l’information. Der richtige Krieg bleibt ihm in diesem drôle de guerre erspart.
In den zwanziger Jahren hatte er La vie de Stendhal veröffentlicht (hier das Original im Volltext), ein Buch, das immer wieder aufgelegt wurde und das 1950 in deutscher Sprache erschien. Der Hoffmann & Campe Verlag zählte den kurz vor der Befreiung von Paris gestorbenen Hazard schon damals zu seinen Autoren. Denn bereits 1939 hatte man Die Krise des europäischen Geistes, 1680–1715 herausgebracht. Mit einem Vorwort von Carlo Schmid. Jenem Carlo Schmid, der wenige Jahre später als stellvertretender Regierungschef des Landes Württemberg-Hohenzollern die Landtagssitzung mit einem Baudelaire Zitat eröffnete: Nur weil der Tod ist, gibt es Trost zum Leben. Er ist sein Ziel. Nur er kann Hoffnung geben, die wie ein Elixier uns trunken macht und Mut gibt, auszudauern bis zur Nacht. Mit Baudelaire kannte sich Carlo Schmid aus, den hatte der Sohn einer Französin in Deutsche übersetzt.
Das Buch Les Livres, les enfants et les hommes war 1944 in englischer Übersetzung erschienen und wurde dank der hervorragenden Rezensionen schnell zu einem Klassiker. Erich Kästner war von dem Buch begeistert. Er schreibt in seinem Vorwort: Überreife und wurmstichige Vorurteile hängen noch dutzendweise im Baum der Erkenntnis und Hazard könnte uns helfen, sie zu beseitigen. Es käme einer stillen Revolution in den pädagogischen und musischen Provinzen gleich. Allein seine angriffslustige Anschauung, daß die Jugend nicht zur Vorstufe fürs Erwachsensein degradiert werden dürfe, sondern als absoluter Wert erkannt und anerkannt werden müsse, birgt Konsequenzen von größter Trag- und Reichweite.
Es gibt von Harriet Wegener erstaunlicherweise nur ein einziges Photo im Netz (von Paul Hazard gibt es auch nur zwei Photos). Hier ist sie links neben Lena Ohnesorge und Betty Heimann auf einer Seite der Universität Kiel. Dort hat sie studiert, im Ersten Weltkrieg hatte die Hamburgerin ihr Studium unterbrochen, um als Rotkreuzhelferin zu arbeiten. 1922 promovierte sie an der Christian Albrechts Universität im Fach Sozialpolitik mit dem Titel Die Entwicklung der gewerblichen Frauenarbeit in Schleswig-Holstein im Kriege.
Es ist eine erstaunliche Biographie, ein Buch, das jeder lesen kann. Es ist essayistisch, emphatisch, ähnelt manchmal eher einem Kolportageroman als dem Werk eines Professors der Kulturgeschichte. Aber es ist der Stil des Autors, der alles zusammenhält, einen Brief von Stendhal in den Text einfügt und keine Anekdote ausläßt: Der Rückzug aus Rußland. - Beschwören wir alle Bilder, die schon dieses wort allein uns ins Gedächtnis ruft, und verfolgen wir unseren Helden über vereiste Straßen und Schneefelder, inmitten der Trümmer einer in Auflösung begriffenen Armee. Nie im Leben hat Beyle mehr Aktivität, Kaltblütigkeit, Mut und Seelenstärke bewiesen. Während des Rückzugs hat Pierre Daru zum rsten Mal begriffen, daß, wenn sein Vetter auch kein musterhafter Kriegskommissar war, in ihm doch so seltsame Kräfte und soviel Stolz steckten, daß es einem fast Bewunderung abnötigen konnte. Es war unweit der Beresina; die Soldaten der 'Großen Armee' waren nur nich ein Haufen von Landsstreichern. Da erschien plötzlich Beyle vor ihm, nicht etwas dreckig und mit wirrem Bart, wie alle seine Kameraden. sondern korrekt gekleidet und frisch rasiert. Monsieur Daru sah ihn an und war erschüttert. 'Du hast Dich rasiert!' sagte er; 'Du bist wirklich ein tapferer Mann.'
Hazard ist nicht der einzige, der diese Geschichte erzählt, wir finden sie auch bei Stefan Zweig: An der Beresina hat der Auditor Beyle noch Zeit (als der einzige Offizier in der Armee, der an derlei Dinge denkt), sich tadellos zu rasieren, dann aber eiligst über die einkrachende Brücke, sonst geht es an den Kragen. Stefan Zweig schreibt einen ähnlichen Stil wie Hazard (Sie können hier Zweigs Stendhal im Volltext lesen), so würde heute kein Autor mehr schreiben. So kann auch heute kein Autor mehr schreiben. Francesco Manzini sagt in seinem Buch Stendhal's Parallel Lives: Stendhal might well, however, have looked with greater favour on Gallimard's series of modern 'Vies des hommes illustres' , and in particular on volume XI , Paul Hazard's 'La Vie de Stendhal' of 1927. Man kann das Buch nach beinahe hundert Jahren immer noch gut lesen, das können nicht viele Bücher von sich sagen. Hazards Hauptwerk La Crise de la conscience européenne. 1680–1715 ist heute immer noch erhältlich, eine englische Übersetzung mit einem Vorwort von Anthony Grafton ist bei Penguin lieferbar. Man nennt die Mitglieder der Académie française in Frankreich auch les immortelles, dieses Wort trifft bestimmt auf Paul Hazard zu. Und der Hamburger Hoffmann & Campe Verlag sollte sich einmal überlegen, ob sie nicht einen Artikel über Harriet Wegener auf ihre Internetseite tun sollten. Dafür brauchten sie nur etwas von Michael Jungbluts Verlagsgeschichte querzuschaufeln.
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