Mittwoch, 6. Dezember 2023

Nikolaustag


Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn
.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Damals wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder mal aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Damals noch ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Cuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Cuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne diese Oper nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die hübsche Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das hat aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St. Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.


Montag, 4. Dezember 2023

wieder was Neues

Ja, es gibt etwas Neues. Nämlich einen neuen Blog. Mein Freund Georg hatte die Idee. Ich schriebe soviel über Frauen, da könnte ich doch mal einen Themenblog machen, so wie Tickendes Teufelsherz zum Beispiel. Mein Freund Georg ist immer wieder in diesem Blog erwähnt worden. Sie können ihn in dem Post Cricket sehen. Und in dem Post Morning Coat auch, weil er da bei der Hochzeit bei den englischen Verwandten einen Morning Coat trägt. Und in dem Post Danke wird ihm gedankt, weil er nämlich mein Korrektursystem ist und bei jedem neuen Post meine Tippfehler ausmerzt.

Also ein neuer Blog, in dem nur Posts über Frauen sind. Ich machte mich ans Werk. Ich brauchte einen Namen und eine Adresse. Der Name war einfach, ich nannte den Blog femmes. Für die Adresse nahm ich eine Zeile aus Jacques Préverts Les feuilles mortes. Für das Layout wählte ich das Design "Einfach", da musste ich nur die scheußliche Farbe in die Frauenfarbe Lila ändern. Und dann schaufelte ich einen Post nach dem anderen aus SILVAE in den neuen Blog. Posts über Malerinnen, Filmschauspielerinnen, Schriftstellerinnen, historische Persönlichkeiten, es ist kein System in der Anordnung. Da ist jetzt Maj Sjöwall neben der Günderrode und Jil Sander neben Anne Boleyn. Aber das Ganze war irgendwie witzig. Als ich den Computer nachts in den Ruhezustand versetzte, hatte ich zwanzig Posts da stehen. Und erstaunlicherweise hatten 101 Leute das schon angeklickt, ich weiß nicht, wie die das gefunden haben. Sie finden den Blog, der jeden Tag größer werden wird, unter ➔femmes. Gucken Sie mal hinein.

Das stand hier vor drei Jahren. Der Blog gefällt mir noch immer, hat aber nicht soviele Leser, wie ich sie gerne hätte. Mein Freund Georg hatte mit seiner Bemerkung aber gar nicht diesen Blog femmes gemeint. Die Bemerkung bezog sich auf diese Frau, die immer wieder in meinem Blog auftauchte. Die hat inzwischen eine eigene Seite bekommen, einen kleinen Internetroman, der Que reste-t-il de nos amours heißt. Hat auch nicht so viele Leser.

Mein Freund Konny, der auch schon häufig in diesem Blog war, hat mir letztens gesagt, ich könnte doch aus all den Posts über unseren Heimatort Vegesack ein Manuskript für ein kleines Buch machen. Damit hatte ich begonnen, aber ich merkte, dass ich dann auf all meine Links und all meine schönen Bilder verzichten müsste. Die Sache blieb nach fünfzig Seiten erstmal liegen. Doch dann hatte ich die Idee, aus all den Posts über Vegesack einen kleinen Blog zu machen. Das hat mich das ganze Wochenende beschäftigt, und deshalb gibt es jetzt auf dieser Seite unter der Überschrift Themenblogs von Jay einen neuen Link, der zu Vegesack führt. Ist noch lange nicht fertig, sieht aber schon interessant aus.

Samstag, 2. Dezember 2023

Glasfenster

Was wäre aus dieser Malerin geworden, wenn die Nazis nicht gekommen wären? Elisabeth Steinecke hatte ihren ersten Malunterricht nach dem Abitur bei Gustav Adolf Schreiber gehabt, der ein Schüler von Gotthardt Kuehl gewesen war. 1935 gab sie ihr Malstudium in Berlin ohne Abschluss auf und kehrte in ihre Heimatstadt Bremen zurück. Die Nazis hatten ihren Lehrer Curt Lahs von der Berliner Hochschule für Kunsterziehung verjagt. Dass Hitler eine Gefahr war, das wusste die junge Frau schon länger. Als Schülerin am Kippenberg Lyceum hatte sie ihre Lehrerin gefragt, ob sie es für möglich halte, dass Gott Hitler gewollt hätte. Ihre Lehrerin hatte ihr geantwortet: Hitler kann auch das absolut Böse sein. Die Lehrerin hieß Magdalene Thimme, sie war wahrscheinlich Bremens bedeutendste Pazifistin. Elisabeth Steinecke blieb ihrer Lehrerin ihr Leben lang verbunden und stand ihr auch im Alter bei.

Elisabeth Steinecke wird heiraten und Kinder haben, die künstlerische Betätigung bleibt jetzt liegen. Da geht es ihr nicht viel anders als der Impressionistin Mathilde Vollmoeller nach ihrer Heirat. Aber nach dem Weltkrieg, aus dem ihr Mann nicht zurückkehrt, da hat sie eine zweite künstlerische Karriere. Und dafür brauchen wir mal eben den Heiligen Martin. Hier gemalt von El Greco. In hunderten von Darstellungen sehen Bettler und Ritter immer anders aus, die Farbe des zerteilten Mantels variiert. Die Teilung des Mantels geschieht in der Stadt Amiens, das hat mir 1959 in der Kathedrale ein Geistlicher erzählt. Und Notre Dame d'Amiens, wo Martin getauft wurde, hat hier schon einen Post. Ich brauche den Heiligen Martin wegen der Bremer St Martini Kirche. Diese Kirche an der Weser ist es natürlich wert, dass man hineinschaut, allein wegen der Orgel von Bockelmann. Sie ist vielleicht die schönste Bremer Kirche, wenn Sie diesen Post anklicken, kommen sie zu einem ganz, ganz langen kulturhistorischen Post über Kirchen. Es ist um die Martini Kirche immer still, sie liegt abseits vom Touristenstrom. Die Touris schaffen es doch bestenfalls noch bis zum Ende der Böttcherstraße. Hier ist Joachim Neander Pastor gewesen, der Neander, der Lobet den Herren geschrieben hat. Der Neander, nach dem man in Düsseldorf, wo er vorher war, ein kleines Tal benannt hat. Wo man eines Tages den Neandertaler findet. Das wusste früher in Bremen jedes Kind. Heute vielleicht nicht mehr, es steht schlecht um die Bildung in Bremen. 

Von der Martinikirche war nach dem 137. Luftangriff vom 6. Oktober 1944 nicht viel übriggeblieben. Es ist nicht das letzte Bombardement Bremens, noch 35 Luftangriffe werden bis zum Mai 1945 folgen. Aber man hat die Kirche wieder aufgebaut. Die Orgel war nicht mehr zu retten, doch der kostbare Orgelprospekt ist erhalten, da man ihn vorher ausgelagert hatte. Man baut 1948 zuerst das Pastorenhaus neben der Kirche, das sogenannte Neanderhaus, wieder auf. Ab 1951 beginnt man unter dem Architekten Walter Siber mit dem Neubau der Kirche, die Arbeiten werden bis 1960 dauern. Man brauchte natürlich neue Glasfenster, Fenster gehen bei einem Bombenangriff als erstes zu Bruch.

Und das ist die Stunde von Elisabeth Steinecke, die 1955 mit der Glasmalerei begonnen hatte. Sie wird das sogenannte Hohe Fenster (Neanderfenster) in der Südwand (Bild), das Martinsfenster im Nordschiff und die acht Fenster im Chor schaffen. Handbemaltes Glas, im modernen Stil. 1959 hatte sie den Auftrag erhalten, da hatte sie schon für mehrere Kirchen die Glasfenster gestaltet. Die Prunkstücke sind natürlich das Neanderfenster und das Martinsfenster. Aber auch die kleinen Fenster haben ihren Reiz: Die Fenster im Chor erhielten eine kleinfigürliche Buntverglasung von herrlich satten Farben - nach Entwürfen von Elisabeth Steineke. Wenn die Morgensonne hindurchscheint, sieht es aus, als ob funkelnde Wandteppiche den Chorraum umgeben. Auf der Homepage der St. Martini Gemeinde wird zwar das Neanderfenster abgebildet, aber Elisabeth Steinecke wird mit keinem Wort erwähnt. Irgendwie ist das ein bisschen armselig.

Doch das wundert vielleicht nicht, denn die Gemeinde ist heute etwas seltsam. Dass hier 1904 zum erstenmal in Deutschland eine Frau auf der Kanzel stand, das würde sich heute unter Pastor Olaf Latzel nicht wiederholen. Der ist ein wenig rechtsradikal und stand schon wegen Volksverhetzung vor Gericht. Das ist jetzt weit weg von Emil Felden, der gegen den Antisemitismus kämpfte und von den Nazis entlassen wurde. Die bremische Landeskirche lässt den einzelnen Gemeinden alle Freiheiten, und das führt manchmal zu seltsamen Dingen. Ich zitiere mal eben aus dem Post Bremer KlauselDas mit den theologischen Spinnern in Bremen hat übrigens mit der Reformation nicht aufgehört. Der Bischof von Hitlers Gnaden Heinz Weidemann, der damals den Dom so hübsch mit Naziemblemen dekorieren ließ und eine Bremer Kirche in Horst Wessel Kirche umtaufen wollte, war zweifellos ein Fall für die Psychiatrie. Und auch der Pastor Georg Huntemann, der sich nach dem Gottesdienst an der Kirchentür den Ring an der Hand küssen ließ, war nicht so ganz schussecht. Und der ehemalige Domprediger Günter Abramzik, der in der kleinen Bremer Revolution so vernünftig war, hat nach dem Aufkommen der Beweise für seine sexuellen Verfehlungen auch jede Autorität verloren.

Vor Jahren sind zweihundert Pastoren und Kirchenbeschäftigte auf die Straße gegangen, um gegen ihren Kollegen Olaf Latzel zu protestieren: Wir distanzieren uns entschieden von Fundamentalismus jedweder Art – und von allen Versuchen, Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie, Antisemitismus oder rassistisches Gedankengut mit vorgeblich biblischem Glauben zu bemänteln.

Irgendwie passt das alles nicht zusammen, die mit viel persönlichem Engagement und großen privaten Spenden wieder aufgebaute Martinikirche, die kunstvollen Glasfenster, die die Bibel nacherzählen, und dann dieser Pastor. Irgendwann wird dieser Olaf Latzel, der einen Kanal bei YouTube hat, nicht mehr da sein, aber die Glasfenster von Elisabeth Steinecke, die werden bleiben und leuchten wie funkelnde Wandteppiche. Ich wünsche all meinen Lesern einen schönen ersten Advent.

Dienstag, 28. November 2023

tüddelig im Kopf


Die Südsee, das bedeutete Walfang. Das wusste ich schon, als ich noch klein war. Immer wenn Opa am Sonntag das Heimatmuseum für die Besucher aufschloss, hatte ich schon eine Stunde mit dem Walfang verbracht. Jede Harpune im Saal angefasst. Alle Shrimshaw Objekte auch. Im Erdgeschoss war in einem kleinen Zimmer alles über den Afrikaforscher Gerhard Rohlfs, im Obergeschoss war alles über die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, weil die von Adolph Bermpohl aus unserem Ort gegründet worden war. Aber der große Saal des Erdgeschosses und das Treppenhaus waren ganz dem Walfang gewidmet. Schließlich hatten sich viele Kapitäne, die im 19. Jahrhundert ihr Vermögen mit dem Robbenschlag und dem Töten von Walen gemacht hatten, hier im Ort niedergelassen. Dies Bild von Carl Justus Fedeler zeigt Bremer Segelschiffe beim Walfang in der Südsee. Das Schiff in der Mitte ist die Europa der Reederei D.H. Wätjen. Das war einmal die größte deutsche Segelschiffsreederei. Wätjen verdiente mit seinen Schiffen so gut, dass er sich in Blumenthal ein Schloss bauen ließ. Als ich 1976 mit Dr Joachim Kruse die Melville Ausstellung in Schleswig machte, wunderte sich Kruse immer wieder, was ich alles über den Walfang wusste.

Es gab im Heimatmuseum auch Photos vom modernen Walfang. Modern heißt in diesem Fall: aus den dreißiger Jahren. Damals als Walter Rau aus Hilter und sein Konkurrent Fritz Hohmann aus Dissen (FriHoDi) ihre Fabrikschiffe zum Abschlachten von Walen auf die Weltmeere schickten. Auf Rau und Hohmann war Opa nicht so gut zu sprechen, aber das hatte damit etwas zu tun, dass er aus dieser Gegend kam und die Familien kannte. Dieses Bild vom Walfangschiff Walter Rau findet sich in dem Artikel Schlachthof auf hoher See des Bremer Weser Kurier.

Als Symbol für den historischen Walfang hatten wir am Utkiek an der Weser die Kiefer eines Blauwals stehen. Als die bröckelig und brüchig wurden, hat mein Freund Peter als Landeskonservator sie 1987 durch einen Bronzeabguss von der Bildhauerin Christa Baumgärtel ersetzen lassen. Manche Kapitäne hatten sich von ihren Reisen auch Walkiefer als Gartentor mitgebracht, aber die sind mit der Zeit alle verschwunden. Als der Afrikaforscher Gerhard Rohlfs nach Weimar gezogen war, schickten ihm die Vegesacker ein Paar Walkiefer nach, die er vor seiner Villa aufstellte. Es war klar, dass ich mit meinem Erfahrungen irgendwann Melvilles Moby-Dick lesen musste. Las ich zum erstenmal 1959 in dem Manesse Band mit der Übersetzung von Fritz Güttinger, der Jahre später mein Brieffreund wurde. 1962 war ich schon weiter, da las ich Billy Budd und White-Jacket, das weiß ich noch genau.

Als ich an der Uni war, habe ich natürlich Seminare über Herman Melville gemacht, über Moby-Dick und Benito Cereno. Und dann hatte ich die Idee, ausgehend von den Südseeerfahrungen von Herman Melville, ein Seminar über die Südsee in der amerikanischen Literatur zu machen. Ich las nicht nur Melvilles Typee und Omoo und alles, was er über die Südsee geschrieben hatte; ich las alles, was ich in die Hände bekam. Auf Richard Francis Burtons Buch Goa, and the Blue Mountains; or, six months of sick leave war ich durch einen Zufall gestoßen, weil das Buch gleichzeitig mit Melvilles Moby-Dick bei Melvilles Verleger Richard Bentley in London erschienen war.

Auch zufällig fand ich das Buch des Matrosen Heinrich Zimmermann, das Reise um die Welt mit Capitain Cook heißt. Ein Buch, das er eigentlich gar nicht hätte schreiben dürfen. Berichte über die Reise waren Captain Cook und den Wissenschaftlern wie Georg Forster und seinem Vater vorbehalten. Heinrich Zimmermanns Buch habe ich in der von Hans Bender herausgegeben Ausgabe des Insel Verlags gelesen. Der Link da oben führt zum Originaltext von 1781, wenn er funktioniert. Irgendwie kriegt die Staatsbibliothek Bamberg das mit dem Internet noch nicht so richtig hin. Forsters Reise um die Welt ist auch bei Insel erschienen, ist aber mit über tausend Seiten etwas dicker als Zimmermanns 161-seitiges Buch. Aber da ich gerade einmal dabei war, las ich auch noch Louis-Antoine de Bougainvilles Reise um die Welt: Durch die Inselwelt des Pazifik 1766-1769. Wir müssen immer bedenken, dass die Südsee nicht nur Walfängern aus Nantucket und Bremen, nicht nur Captain Cook und Captain Bligh gehörte, sondern auch den Franzosen. Den schönen Ausstellungskatalog  James Cook und die Entdeckung der Südsee gab es damals leider noch nicht. Das hätte mir viel Arbeit erspart.

Das ungewöhnlichste Buch, das ich in jenem Vierteljahr las, hieß Tyrannei und Herrschaft: Die Wurzeln von Individualismus, Despotismus und modernem Staat. Hawaii - Tahiti - Buganda, das bei Rowohlt erschienen war. Der Autor Eli Sagan hatte in Harvard studiert, aber er war kein Anthropologe oder Kultursoziologe wie Clifford Geertz oder mein Freund Peter Gutkind. Auf dem Gebiet der Kultursoziologie war Sagan Aitodidakt, Amateur. Sein eigentlicher Beruf war etwas ganz anderes, er war Chef der Konfektionsfirma The New York Girl Coat Company, die eine der größten Kleiderfirmen der USA war.

Es passte gut, dass ich in meiner Südsee Lesephase von meinem Freund Peter die Briefe von Robert James Fletcher (Isles of Illusion: Letters from the South Seas) geschenkt bekam. Und  durch Zufall fand ich den kuriosen kleinen Roman von Friedrich Wilhelm IV, Die Königin von Borneo. Ich war die ganzen Semesterferien mit dem Lesen beschäftigt, aber für die Uni konnte ich das alles leider nicht gebrauchen. Ich musste die Veranstaltungen eines erkrankten Kollegen übernehmen, mein Seminar fiel aus. Ich betrachtete das nicht als Verlust, ich hatte viel gelernt. Und Lesen ist nie ein Verlust. Und meine Bibliothek hatte sich um einen knappen Meter vergrössert.

An all das fühlte ich mich erinnert, als mir letztens ein polynesisches Wort begegnete, das ich nicht aus meiner Südseelektüre kannte, das auch nicht in Melvilles Omoo vorkommt. Es heißt Taravana, es hat offenbar mehrere Bedeutungen. Es kann ein Song des auf Tahiti lebenden Sängerns Ken Carlter sein; es kann ein Computerspiel sein, in dem es um Seeungeheuer geht. Aber eigentlich ist Taravana eine Taucherkrankheit, die die Einwohner der Tuamotu Inseln befällt, wenn sie dreißig Mal am Tag ohne Druckluft nach Perlen tauchen. Sie können hier auf einer Seite für medizinische Fachjournale alles über das Taravana Syndrom lesen, das in der Übersetzung verrückt hinfallen bedeutet. Diese Dekompensationskrankheit bei Apnoetauchern, bei der man die Kontrolle über den Körper verliert, ist vor sechzig Jahren zum erstenmal wissenschaftlich beobachtet worden. Bestenfalls ist man da etwas tüddelig im Kopf, aber es kann auch zum Tod führen.

Kaum war diese Taucherkrankheit in der Fachliteratur beschrieben, da tauchte sie als Modellname für eine Taucheruhr der Firma Nivada auf. Und dort hatte ich das Wort gefunden. Die Grenchener Uhrenfirma, die damals auch die ZentRa Savoy Uhren herstellte, war sehr erfindungsreich mit ihren Modellnamen. Da gab es die berühmte Antarctic, es gab eine Aquamatic, eine Depthmaster, eine Sea Diver, eine Aviator und eine Chronomaster. Eine Leonardo da Vinci hatten sie auch mal im Angebot (das Modell gab es auch als ZentRa). Eigentlich waren es immer die gleichen Uhren, die Uhrwerke von der ETA oder der ASSA hatten, sie hatten nur andere Namen. Die meisten dieser Namen wie Aviator oder Sea Diver findet man auch bei anderen Firmen, aber dieses Taravana Modell, das gab es nur bei Nivada. Die Firma Nivada baut heute, wie so viele in der Quarzkrise angeschlagenen Firmen, ihre Klassiker nach. Relaunch ist das Wort. Ich glaube aber nicht, dass die Taravana Taucheruhr bei den neuen Retro-Klassikern dabei ist, die ist einfach zu exzentrisch.

Mit Uhren hat die Südsee einiges zu tun. Die Eroberung und Kartographierung der Südsee geht einher mit der Entwicklung immer besserer und genauerer Marinechronometer. Bougainville hatte Uhren von Ferdinand Berthoud an Bord (Alexander von Humboldt wird einen Chronometer von dessen Neffen Louis Berthoud benutzen). Der Engländer John Harrison, der mit seiner H1 zum erstenmal in der Weltgeschichte eine genau gehende Uhr baute, entwickelte seine Uhren weiter, bis sie transportabel waren. Dies hier ist die Harrison H4. Sieht aus wie eine Taschenuhr, ist aber dreizehn Zentimeter groß und wiegt anderthalb Kilo. Der Uhrmacher Larcum Kendall stellte im Auftrag der Admiralität eine Kopie her, die Larcum Kendall K1, die Captain Cook benutzte. Er hat die Uhr als our trusty friend the Watch und our never-failing guide the Watch bezeichnet. Obgleich er zuerst Vorbehalte gegen die Uhr hatte, musste er doch anerkennen, dass sie so genau ging, dass er damit sozusagen auf den Millimeter genau navigieren konnte. Das Rule Britannia, Britannia rule the waves wird jetzt von den englischen Uhrmachern garantiert, die die Royal Navy an jeden Ort navigieren lassen, an den sie will. Larcum Kendall hat hier schon einen Post, und für Marinechronometer gibt es natürlich auch einen. Und in dem Post über Thor Heyerdahls KonTiki kommt auch eine Menge Südsee vor. Zu dem Longitude Problem, das die britische Admiralität und die britischen Uhrmacher energisch angehen, habe ich hier noch ein Video.  Und natürlich gibt es hier auch noch den Film Longitude aus dem Jahr 2000 für Sie.

Diese Taucheruhr der Firma Nivada fand ich beim Uhren-Surfen auf ebay. Ich war fasziniert von dieser potthässlichen Uhr. Auf der Rückseite der 39 x 42 mm großen Uhr sind Wellen zu sehen, eine kleine Insel mit drei Palmen und eine übergroße Sonne. Dies grüne Scheusal mit dem Modellnamen Taravana war einmal eine richtige Taucheruhr, 200 Meter wasserdicht (dafür sorgte der Conpensamatic Boden), mit verschraubter Krone und Taucherlünette. Als ich sie sah, musste ich sie unbedingt haben. So als Krönung meiner 70er Jahre Monster Sammlung. Ich habe die Uhr am letzten Wochenende bei ebay ersteigert, sie war gar nicht so teuer, wie ich befürchtet hatte. Jetzt hoffe ich nur, dass ich nicht diese Taravana Krankheit kriege und tüddelig im Kopf werde, wenn ich die Uhr am Arm habe.

Samstag, 25. November 2023

Evacuation Day


Heute vor zweihundertvierzig Jahren haben die letzten britischen Truppen New York verlassen. Der 1775 begonnene Unabhängigkeitskrieg war endgültig zuende. George Washington reitet im Triumph mit achthundert Soldaten in New York ein. Sie sahen wohl nicht so elegant aus wie auf diesem Gemälde. Eine Augenzeugin hat sich Jahre später erinnert: We had been accustomed for a long time to military display in all the finish and finery of garrison life; the troops just leaving us were as if equipped for show, and with their scarlet uniforms and burnished arms, made a brilliant display; the troops that marched in, on the contrary, were ill-clad and weather beaten, and made a forlorn appearance; but then they were our troops, and as I looked at them, and thought upon all they had done and suffered for us, my heart and my eyes were full, and I admired and gloried in them the more.

Der Evacuation Day hat hier bei Wikipedia einen sehr guten Artikel. Man hat den Tag lange gefeiert, aber heute ist es kein offizieller Festtag mehr. Doch in New York gibt es noch einige, die jedes Jahr an diesen Tag denken. Seit sechs Jahren gibt es sogar einen Straßennamen für das Ereignis. Es hat 1783 noch einige Tage gedauert, bis alle englischen Truppen von Manhattan aus an Bord der englischen Schiffe waren. Es gibt Schwierigkeiten, der Wind ist ungünstig, wie der englische Oberkommandierende Sir Guy Carleton in einem Brief an George Washington schreibt. Es sind nicht nur englische Truppen, die jetzt das Land verlassen, auch viele Loyalisten, die zu ihrem König halten, verlassen Amerika. 

Wenige Monate zuvor, am 3. September 1783, war der Frieden von Paris unterzeichnet worden, damit war der Krieg formal zuende. Der Maler Benjamin West hat die amerikanischen Diplomaten gemalt. Es sind von links nach rechts John Jay, John Adams, Benjamin Franklin, Henry Laurens und William Temple Franklin. Das ist der junge Mann ganz rechts. Er gehört nicht zu den Gründervätern, er begleitet nur seinen Opa Benjamin Franklin. Die Herren John Adams (der der zweite Präsident Amerikas wird) und Benjamin Franklin haben hier schon einen Post. Der vielleicht nicht so bekannte Henry Laurens, der einmal Präsident des Kontinentalkongresses war, hat hier auch schon einen Post. Das Bild ist von Benjamin West nicht zuende gemalt worden, rechts ist eine freie Fläche. Dort solten die englischen Diplomaten sitzen, aber David Hartley und Richard Oswald hatten sich geweigert, für Benjamin West Modell zu sitzen. Die Engländer sind schlechte Verlierer bis zum Schluss.

Die amerikanische Post hat zur 200-Jahrfeier des Vertrags von Paris diese Briefmarke herausgegeben, die das Gemälde von Benjamin West, das The Peacemakers heißen sollte, ein klein wenig verändert. Es zeigt John Jay, Benjamin Franklin, John Adams und den englischen Delegierten David Hartley. Das ist historisch korrekt, Laurens und der junge Franklin waren bei der Unterzeichnung nicht dabei. Die sind nur in der Phantasie von West dabei. Aber dennoch ist die Veränderung des Kunstwerks von West ein klein wenig lächerlich. Der Historiker Stanley Weintraub hat die Briefmarke a travesty of history and a mischievous misuse of West's canvas genannt.

Der Freiheitskrieg der Kolonien ist in diesem Blog immer wieder ein Thema gewesen. Das beginnt mit dem Post über die Schlacht von Saratoga, wo Sir John Burgoyne eine ganze Armee verliert. Und das endet mit den Posts der Anfang vom Ende und Chesapeake Bay. Daziwischen liegen die Posts die Berufsreise, Trenton, Weihnachten 1776Verratmiles gloriosusBattle of MonmouthCowpensNathanael Greene und Banastre Tarleton. Das ist Amerikas Geschichte in Kurzfassung.

Sonntag, 19. November 2023

Christian Friedrich Gille

Ich hätte das Buch etwas genauer lesen soll, dann wäre mir der Maler Christian Friedrich Gille nicht entgangen. Denn das Buch Die Malerei der Romantik in Dresden vom Dresdner Kustos der Gemäldesammlung des 19. Jahrhunderts Hans Joachim Neidhardt steht bei mir im Regal. Ich habe das Buch und den Autor schon in dem Post über den Maler Carl Julius von Leypold erwähnt. Auf Seite 191 kann man lesen: Von allen Schülern Dahls ist Christian Friedrich Gille der bedeutendste. Das hat der Maler zu seinen Lebzeiten nicht gewusst, das haben diejenigen, die seine Bilder kritisierten, nicht gewusst. Es hat lange gedauert, bis man diesen Satz hinschreiben konnte. Bis man lesen konnte, dass er von allen Dresdner Landschaftsmalern einer der wichtigsten ist. Dieses Bild von der Brühlschen Terrasse mit den Ausflugdampfern auf der Elbe ist aus seinem Spätwerk. Es gehört heute dem Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. Wahrscheinlich hätte man es in Dresden gerne.

Beinahe dreißig Jahre vorher, im September 1833, hat Gille dieses kleine Bild gemalt. Der kleine rote Fleck links unten ist eine Frau, die ihre Wäsche in der Weißeritz bei Plauen wäscht. Gerd Spitzer hat in seinem Buch Christian Friedrich Gille 1805-1899: Malerische Entdeckung der Natur dazu gesagt: In Dresden und seiner ländlichen Umgebung hat Gille fast siebeneinhalb Jahrzehnte gelebt und gearbeitet. Zumeist waren es die eher versteckten Winkel, die Vorstädte, die Dörfer nahe der Stadt, in denen der Künstler die Motive für sein malerisches Studium der Natur fand. An einem Frühherbstnachmittag im September 1833 beobachtete er in dem stillen Dorfe Plauen bei Dresden eine Wäscherin am baumbestandenen Ufer der Weißeritz und notierte dazu am Rande der Studie für sich exakt Ort und Stunde dieses optischen Erlebnisses – als sollte die Authentizität einer unmittelbaren Naturaufnahme dadurch Bekräftigung finden

Auch auf diesem Bild findet sich eine Datierung, den Tag (6. August 1831) hat der Maler unten in das Grün mit dem Pinselstiel in die noch frische Farbe geschrieben. Das genaue Festhalten des Augenblicks mit raschem Pinselstrich, Datierung und Ortsangabe, das finden wir schon bei John Constable. Und dann ist da noch der Franzose Pierre-Henri de Valenciennes, den Simone Schultze in ihrer Doktorarbeit den wahren Entdecker des auf der Leinwand festgehaltenen unmittelbaren Eindrucks der Natur genannt hat. Valenciennes hatte schon um 1780 erste Wolkenstudien gemalt. Flüchtige Skizzen, worin die Natur auf frischer That erhascht wird. Im Original heißt es in seinem Traktat über die Malerei saisir la Nature sur le fait, und das ist das ganze Geheimnis dieser Malerei. 

Gille wird Valenciennes und  Constable nicht gekannt haben, aber er macht dasselbe wie sie. Man kann diese kleinen Ölskizzen auf Papier ein Subgenre der Landschaftsmalerei nennen, aber es ist eine plein-air Malerei, die in vielem den Impressionismus vorwegnimmt. Das ist jetzt keine revolutionäre Aussage. Schon 1934 sagt Gustav Pauli (gerade von den Nazis aus dem Amt als Hamburger Kunsthallendirektor geworfen) über den Dresdner Maler: Gille, dessen Ölstudien zu den feinsten und frischesten ihrer Zeit gehören, in denen die Errungenschaften des Impressionismus vorweg genommen sind.

Das kleine bisschen Rot auf dem Weißeritz Bild muss sein, sonst würde das Bild nicht leben. Wilhelm Busch hat das gewusst, er hat häufig in seinen Bildern diesen roten Fleck. Gille hat den auf diesem wunderbaren Bild der Elbbrücke auch. Auf der Seite Kunstbeziehung kann man das Bild von der Wäscherin an der Weißeritz mit dem Originalrahmen sehen. Und es findet sich dort die Einordnung Frühimpressionismus. Das ist wichtig, es ist diese unsentimentale Darstellung der Landschaft, die nicht mehr symbolisch überhöht ist wie bei Caspar David Friedrich. Es ist diese neue Sicht, die wir auch in Carl Blechens Bild mit dem Blick aus seinem Fenster finden. Über das Theodor Fontane gesagt hat, dass er das Bild gern in seinem privatesten Raum gehabt hätte.

Diese Elblandschaft mit den Lößnitzbergen im Hintergrund aus dem Jahre 1870 bezeichnet das Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 1961 als den Höhpunkt des Schaffens von Gille. Es ist wie beinahe alle Bilder von Gille ein sehr kleines Bild, 29 x 39 Zentimeter, Öl auf Papier. Wir können das Realismus nennen. Oder auch Impressionismus. Das ist eine große Entwicklung von dem Weißeritz Bild. Das übrigens bei einer Dresdner Ausstellung im Jahre 1833 in die Nähe eines Bildes von Corot gehängt worden war. Wahrscheinlich kommt daher die Bezeichnung der deutsche Corot, die man in manchen Lexikonartikeln findet.

Wir müssen noch einmal auf diesen Herrn zurückkommen, den Sammler Johann Friedrich Lahmann, der 1906 von Bremen nach Dresden gezogen war. Er lebte bei der Familie seines gerade gestorbenen Bruders, kost- und logisfrei. Er war ein stiller zurückhaltener Mann, ein Gentleman. Immer freundlich. Irgendwann hatte er begonnen, Kunst zu sammeln. Und irgendwann entdeckt er das Werk von Christian Friedrich Gille, den die Kunstwelt schon längst vergessen hatte. Und kauft und kauft. Bei seinem Tod 1937 konnte man in einer Dresdner Zeitung lesen: In seltener Großzügigkeit und vorbildlichem Gemeinsinn hat der bekannte Dresdner Kunstsammler Johann Friedrich Lahmann, ein Bruder des berühmten Arztes und Begründers des Sanatoriums Dr. Lahmann auf dem Weißen Hirsch, testamentarisch die Dresdner Galerie und das Kupferstichkabinett sowie die Kunsthalle seiner Vaterstadt Bremen ermächtigt, aus den reichen Beständen seines in fast 40-jähriger Sammeltätigkeit zusammengebrachten Kunstbesitzes alles für die Öffentlichkeit Wichtige und den Museen Erwünschte auszuwählen. Der Gemäldegalerie sind mehr als 50 Bilder und Studien, dem Kupferstichkabinett fast 2.000 Handzeichnungen und Aquarelle aus allen Jahrhunderten zugefallen

Auch in Bremen ist man dankbar, erhält man doch 45 Gemälde, 639 Zeichnungen und 3.627 Blatt Druckgrafik. Die Heuernte von Wilhelm Busch ist auch dabei, da ist natürlich wieder ein kleiner roter Fleck drauf. Lahmann hatte auch Wilhelm Buschs Bilder gesammelt, wahrscheinlich war er einer der ersten, der das tat. 1995 gibt es für Lahmann in der Bremer Kunsthalle eine kleine Ausstellung, die zuvor in Dresden gewesen war. Für die Ausstellung hatte man aus den Beständen 140 Zeichnungen und vierzig Gemälde ausgewählt. 

Aus Lahmanns Sammlung werden in dem Katalog Die Kunsthalle Bremen und ihre Stifter. Bd. 1 dreiundsechzig Werke von Gille aufgelistet, die zum größten Teil in Bremen und Dresden sind. Das entspricht dem Testament, in dem er verfügt hatte, dass seine Sammlung zu möglichst gleichen Teilen nach Dresden und Bremen gehen sollte. Auch wenn er die letzte Hälfte seines Lebens in Dresden lebte, er hatte seine Heimatstadt nicht vergessen. Bremen hätte von ihm auch noch ein Gemälde von Caspar David Friedrich bekommen sollen, aber die drei Bilder von Friedrich, die Lahmann nach München geliehen hatte, sind 1931 beim Brand des Glaspalasts verbrannt.

Lahmann hatte Jura studiert, nicht Kunstgeschichte. Er war als dilettierender Liebhaber zur Kunst gekommen, so wie er vorher ein dilettierender Schriftsteller war. Er wird Sammler und sammelt, was ihm gefällt. Große Namen bedeuten ihm wenig. Mit dem Sammeln wird er zum Kenner und zum Forscher. Es ist genügend Geld in der Familie, und Kunst ist vor hundert Jahren noch billig zu bekommen. 

Jahrzehntelang hat er mit sicherem Verständnis und unermüdlich in seiner Sammelleidenschaft und ständig auf der Suche, in und außerhalb Dresdens, beim kleinsten Trödler und im unscheinbarsten Privathaus solchen Dingen nachgespürt, als nur ganz Wenige Liebe und Verstehen für diese anspruchslose feine Kunst hatten und eine Zeichnung von C.D. Friedrich gelegentlich noch fast umsonst zu haben war, hat der ehemalige Direktor der Dresdner Gemäldegalerie Hans Posse über Lahmann gesagt. Das Verhältnis des Sammlers zur Dresdner Gemäldegalerie war gut, Lahmann hatte der Galerie 1915 diesen Carl Gustav Carus geschenkt. Und Posse schuf in den zwanziger Jahren ein kleines Lahmann Kabinett im Museum, wo Lahmann seine Bilder ausstellen konnte.

Lahmann war kein Millionär, man könnte ihn wohlsituiert nennen. Sein Vater, der auch in der Bremer Bürgerschaft sitzt, wird in vielen Lexika als Reepschläger bezeichnet. Das hat jetzt nichts mit der Hamburger Reeperbahn zu tun, obgleich die auch mal eine Reepschlägerbahn gewesen ist. Lahmann Senior, der seinem Sohn eines Tagen ein wenig widerwillig das Geld für die schönen Künste und den Start seiner Sammlerkarriere gibt, war Besitzer einer Tauwerkfabrik. Und Schifftaue bedeuten für die Hafenstadt Bremen viel. In meinem Heimatort Vegesack gab es in meiner Jugend noch zwei Tauwerkbetriebe. Der eine war 1824 vom Kapitän Georg Gleistein begründet wurde, der zweite war die Grohner Tauwerkfabrik. In der Grohner Tauwerk war übrigens Jürgen Trittins Vater der Direktor.

Diese Baumstudie ist bei einer Auktion für 8.350 Euro verkauft worden. Und dabei war es nicht mal sicher, dass es ein Werk Gilles war. Soviel Geld hat Gille niemals gehabt, er ist arm gestorben. Dass sie bettelarm sterben, das liest man häufig über Maler. Rembrandt stand vor dem Ruin. John Singleton Copley, der immer gut verdiente, hinterließ nur Schulden. Die sein Sohn, inzwischen Lord Lyndhurst und Lord Chancellor von England, beglich. Van Gogh war arm, aber neuere Forschungen sagen uns, dass er arm sein wollte. Und zitieren den Satz: Ich sage Dir, ich wähle bewusst den Hundeweg, ich bleibe Hund, ich werde arm, ich werde Maler, ich will Mensch bleiben – in der Natur.

Dieses Bild, das auch aus der Sammlung Lahmann kommt, ist eins der frühen Landschaftsbilder aus den 1830er Jahren. Da hat sich Gille noch nicht der Landschaftsmalerei zugewandt, da verdient er sich sein Geld mit Auftragskunst als Lithograph und Kupferstecher. Es war gut für ihn, dass er zuerst Landschaftskupferstecherei bei Johann Gottfried Abraham Frenzel studiert hatte, bevor er Johan Christian Clausen Dahls Atelierschüler wurde. Die Lithographien nach beliebten Blättern von Adolph Schrödter bringen ein wenig Geld, seine Tierstücke auch. Dass eines Tages sechs Blätter seiner Rinderstudien für 25.620 Euro verkauft werden, das hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.

Lahmanns Sammlung geht nach seinem Tod nach Dresden und Bremen, zu möglichst gleichen Teilen. Was übrigbleibt wird in zwei Auktionen in dem Auktionshaus Rudolph Lepke versteigert, auch das hatte Lahmann testamentarisch festgelegt. Die waren im 19. Jahrhundert dank der Protektion von Wilhelm von Bode berühmt geworden, jetzt machen sie manchmal Fehler. Caspar David Friedrichs Kreidefelsen haben sie für einen Blechen gehalten. Die Auktionen zerstreuen den Rest der Sammlung quer durch die Welt. Hannover sichert sich das Bild der Brühlschen Terrassen, aber diese Wasserstudie landet im Metropolitan Museum in New York.

Alles, was man über Christian Friedrich Gille weiß, steht in dem Buch von Gerd Spitzer,  Christian Friedrich Gille 1805-1899 - Malerische Entdeckung der Natur, das auch der Katalog einer Ausstellung des Auktionshauses Grisebach ist. Die Basis dieses Buches war schon 1994 erschienen, war damals aber nicht so opulent ausgestattet (140 Farb- und 41 S/W-Abbildungen). Das Buch war zu der Dresdner Gille Ausstellung erschienen, die 1995 nach Bremen wanderte. Alles steht allerdings auch nicht in dem schönen Buch aus dem Jahre 2018. Ob die Qualmwolke bei dem Elbebild von einem Dampfer oder einem Feuer auf der kleinen Elbinsel kommt, das weiß Spitzer auch nicht. Ich finde es immer beruhigend, wenn Experten nicht alles wissen.

John Constable hat seine Wolkenskizzen niemals verkauft. Christian Friedrich Gille hat seine Ölskizzen das ganze Leben aufbewahrt, hat sie gehütet wie einen Schatz. Als er fünfundachtzig ist, möchte er sie der Galerie verkaufen, er möchte für seine fünfhundert Bilder fünftausend Mark haben. Man ist nicht daran interessiert.