Sonntag, 23. April 2023

Narzissen


Der englische Dichter William Wordsworth ist am 23. April 1850 gestorben, sein Todestag ist vielleicht ein Anlass, einmal sein berühmtestes Gedicht hier einzustellen. Wordsworth war ja schon häufiger in diesem Blog, aber die Daffodils noch nicht:

I wandered lonely as a Cloud
That floats on high o'er Vales and Hills,
When all at once I saw a crowd,
A host of golden Daffodils;
Beside the Lake, beneath the trees,
Fluttering and dancing in the breeze.

Continuous as the stars that shine
And twinkle on the milky way,
They stretched in never-ending line
Along the margin of a bay:
Ten thousand saw I at a glance,
Tossing their heads in sprightly dance.

The waves beside them danced, but they
Out-did the sparkling waves in glee:—
A Poet could not but be gay
In such a jocund company:
I gazed—and gazed—but little thought
What wealth the shew to me had brought:

For oft when on my couch I lie
In vacant or in pensive mood,
They flash upon that inward eye
Which is the bliss of solitude,
And then my heart with pleasure fills,
And dances with the Daffodils.

Beobachtete Natur, vom romantischen Dichter eingefangen, das denken wir uns. John Constable ist jeden Tag in der Natur und fängt den Himmel und die Wolken ein, aber Wordsworth ist nicht Constable. Er ist eher derjenige, der auf seinem Sofa liegt und über das Vergangene nachdenkt. Und wenn er an das Erlebnis mit den Narzissen zurückdenkt, weil er etwas darüber schreiben will, dann nimmt er sich das Tagebuch seiner Schwester Dorothy: When we were in the woods beyond Gowbarrow park we saw a few daffodils close to the water-side. We fancied that the lake had floated the seeds ashore, and that the little colony had so sprung up. But as we went along there were more and yet more; and at last, under the boughs of the trees, we saw that there was a long belt of them along the shore, about the breadth of a country turnpike road. I never saw daffodils so beautiful. They grew among the mossy stones about and about them; some rested their heads upon these stones as on a pillow for weariness; and the rest tossed and reeled and danced, and seemed as if they verily laughed with the wind, that blew upon them over the lake; they looked so gay, ever glancing, ever changing. This wind blew directly over the lake to them. Da steht doch schon alles, da tanzen die Narzissen, Wordsworth muss es nur noch in Verse bringen. Zwei Jahre nach der Erlebnis tut er das. Er schreibt nicht in der Natur, er schreibt zuhause, schon beim Frühstück: He ate not a morsel, nor put on his stockings, but sat with his shirt neck unbuttoned and his waistcoat open while he did it, schreibt seine Schwester in ihr Tagebuch.

Die Wikipedia Seite zu dem Gedicht zitiert zwei deutsche Übersetzungen. Die lasse ich beide mal weg. Die Übersetzung von Uwe Grüning gefällt mir nicht so besonders. Sie können auf dieser Seite das Gedicht lesen, und Sie können auch gleich einen langen Artikel lesen, in dem Christa Schuenke sagt, weshalb die Übersetzung nicht so gelungen ist. Christa Schuenke ist nicht irgendjemand, sie hat viele Preise und Auszeichnungen für ihre Übersetzungen bekommen. Auf ihrer Homepage gibt es Leseproben, die eher Lesepröbchen sind, die aber viel über ihr Handwerk und ihre Kunst aussagen. Ich empfehle Ihnen, einmal den Anfang von Edgar Allan Poes The Raven zu lesen. Besser kann man das nicht machen, dagegen sehen andere Übersetzungen kläglich aus.

Mit dem Übersetzer Bertram Kottmann habe ich leichte Schwierigkeiten. Er hat keine Homepage und keinen Wikipedia Artikel, und er scheint bei keinem deutschen Verlag Autor zu sein. Die Deutsche Nationalbibliothek kennt keine Bücher von ihm. Auf der Seite von Lyrics Translate kann man lesen, dass er dort den Rang eines Guru besitzt (was immer das heißt) und 2020 Top Contributor war (was immer das heißt). Wir erfahren aber auch, dass Bertram Kottmann über zweieinhalbtausend Gedichte übersetzt hat. Aus und in allen möglichen Sprachen. Wir haben hier offenbar einen Hennecke der Übersetzungskunst vor uns. Schauen wir uns doch einmal seine erste Strophe an:

Der Wolke gleich, zog ich einher,
die einsam zieht hoch übers Land,
als unverhofft vor mir ein Meer
von goldenen Narzissen stand.
Am See, dort wo die Bäume sind,
flatterten, tanzten sie im Wind.

Die erste Strophe dieser sehr guten Übersetzung steht bei Wikipedia, die ist gemeinfrei. Der Rest scheinbar nicht. Der Autor verfolgt offenbar Blogger juristisch, die seinen Text ins Netz stellen und nicht ©Bertram Kottmann dazuschreiben und eine Genehmigung vom Übersetzer haben. Sie finden seine ganze Wordsworth Übersetzung in Die deutsche Gedichtebibliothek oder einem Blog wie Worte und Orte. Und an zehn Stellen mehr. Aber Bertram Kottmann hat natürlich Recht, wenn er seine Texte schützen will. Das Copyright eines Verlagsautors schützt sein Verlag, ein Internetautor hat diesen Schutz nicht.

Wenn der Wikipedia Artikel so richtig schön recherchiert wäre, dann ständen da noch andere Namen von Übersetzern. Denn die gibt es. Und da gehe ich einmal einhundertzwanzig Jahre zurück und beginne mit dieser Dame. Sie heißt Marie Luise Gothein und ist Kunsthistorikerin. Sie hat eine Geschichte der Gartenkunst geschrieben, die nach hundert Jahren immer noch als Standardwerk betrachtet wird. Und sie hat englische Romantiker übersetzt, Keats und Wordsworth. Über den hat sie 1893 ein ganzes Buch geschrieben (William Wordsworth: sein Leben, seine Werke, seine Zeitgenossen), das ist die erste Biographie von Wordsworth, die in Deutschland erschien. Im Vorwort zitiert die Autorin Ranke, der einmal über Wordsworth sagte, dass es sich um einen Poeten handle, der in Deutschland niemals so recht zur Geltung gekommen ist, weil er kaum übersetzbar ist. Marie Luise Gothein lässt sich von dem Satz nicht abschrecken, in ihrem Werk übersetzt sie beinahe einhundert Gedichte. Die Daffodils sind auch dabei:

Ich zog allein der Wolke gleich, 
Die über Thal und Hügel flieht, 
Als plötzlich unermeßlich reich 
Ein Heer Narzissen vor mir blüht; 
Am Seestrand unter Baum und Strauch 
Da tanzten sie im Windeshauch. -
 
Wie unabsehbar Stern an Stern 
hoch von der Nebelstraße glänzt 
so haben endlos, nah und fern
Das Seegestade sie bekränzt. 
Viel Tausende hab' ich erblickt.
Und jedes Köpfcen winkt und nickt

Die Wogen tanzten, doch ihr Schein 
Beschämte noch der Wogen Glanz! 
Ein Dichter mußte fröhlich sein 
Bei ihrem übermütgen Tanz; 
Ich schaut ' - und habe nicht gedacht .
Wie reich dies Schauen mich gemacht -

Denn oft wenn ich auf meinem Pfühl
Halb sinnend, halb zum Traum bereit, 
Tritt vor den innern Blick ihr Spiel 
In segensreicher Einsamkeit; 
Dann ist mein Herz an Wonne reich 
Und tanzet den Narzissen gleich.

Wir sind im Jahre 1893, da ruht man noch auf einem Pfühl, ein Wort, das seit tausend Jahren im Deutschen ist, heute klingt es etwas befremdlich. Aber mit diesem Text haben wir eine der ersten deutschen Übersetzungen von den Daffodils. Wordsworth ist nicht so häufig ins Deutsche übersetzt worden. Wolfgang Schlüter hat gesagt: Wenn es darum gegangen wäre, Wordsworth ins Deutsche zu bringen nun ja, es hätte im 18. Jahrhundert in der Wielandszeit die Generation um Goethe, Kleist und Wieland sich Wordsworthens annehmen können. Aber dagegen stand offensichtlich ein Verdikt Goethes, der ganz eindeutige Prioritäten setzte: Nein, die englische Romantik wird repräsentiert von Lord Byron. Was nicht Byron ist, ist nicht gut, nicht gut genug. Und was Goethe sagte, war verbindlich für lange Strecken des 19. Jahrhunderts. Es ist nicht so, dass man in Deutschland nicht wissen konnte, wer Wordsworth (der ja auch einmal Deutschland besucht hat) war. Es gibt erste Übersetzungen, und in der Geschichte der englischen Literatur von Johannes Scherr werden ihm 1854 viele Seiten gewidmet.

Schlüters Übersetzung findet sich in dem Buch William Wordsworth I wandered lonely as a cloud: Balladen, Sonette, Versepen, das bei den Straelener Manuskripten erschienen ist. Dass das Buch aus Straelen kommt, ist kein Zufall, denn dort ist das 1978 gegründete Europäische Übersetzer-Kollegium, das die weltweit größte Spezialbibliothek für Literatur- und Sachbuchübersetzer besitzt. Wolfgang Schlüter hat 1997 den Mörike Förderpreis bekommen. In seiner Laudatio sagte W. G. Sebald: Wolfgang Schlüters Interesse an Autoren, die vom Standpunkt der heutigen englischen, geschweige denn der deutschen Literatur, kaum mehr zu erkennen sind, beruht auf einer, wenn man so sagen kann, instinktiven Zuneigung zu den Abseitigen, die freilich für den, der wirklich zu lesen versteht, ihre Berechtigung darin hat, daß sich gerade in den außerhalb des Kanons verbliebenen 'geringeren' Werken oft Ein- und Aussichten auftun, deren besondere Schönheit sich der immateriellen Tatsache verdankt, daß sie lang keiner angeschaut und betastet hat. Von Sebald, der hier einen Post hat, gibt es in diesem Monat keine Gedichte, obgleich ich zur Zeit seine Gedichte lese. Was daran liegt, dass Sven Meyer mir gerade den von ihm herausgegeben Band Über das Land und das Wasser: Ausgewählte Gedichte 1964-2001 geschenkt hat. Aber Schlüters Übersetzung der Daffodils sollen Sie hier bekommen:

Ich wanderte so einsam, selbstvergessen, 
wie Wolken über Tal und Hügel säumen, 
als ich auf einmal von Narzissen 
im Tanze, unabsehbar, eine gelbe Wiese 
den See entlang erblickte, unter Bäumen 
Zehntausende im Tanze in der Brise. 

Die Wellen neben ihnen tanzten – sie indessen: 
sie übertrafen noch die Glitzerwelln an Lustbarkeit; 
kein Dichter konnt sich da mit seiner Heiterkeit 
an solcher lachenden Gesellschaft messen. 
Ich schaute – schaute– und hatt' kaum bedacht 
welch einen Reichtum dieser Anblick mir gebracht: 

Denn oft, wenn auf der Couch ich lieg 
in leerem oder nachdenklichem Sinn, 
kehrt jäh ihr Bild mir vor den innern Blick zurück: 
mein Herzensglück, in dem ich einsam bin. 
Ein Freudenlied mein Herz dann singt
und im Narzissentakt sich schwingt

Man muss sich das Gedicht laut vorlesen, dann wirkt es besser. Ist es Ihnen aufgefallen, dass hier nur drei Strophen sind? Wordsworth hat vier, ich weiß nicht, ob ein Übersetzer so etwas machen darf. Was darf, was kann ein Übersetzer? Die Übersetzungen sollen dem des Englischen Unkundigen nur einen Begriff vom Inhalt der Gedichte geben, nicht von ihrer Schönheit. Die Übersetzung eines lyrischen Gedichtes ist – vom Hauptgedanken und vom Versmaß abgesehen – immer etwas ganz anderes als das Original; sie ist ein selbständiges Gedicht, das seine eigene Schönheit und Musik haben mag, aber nicht die des Urbildes widerspiegeln kann. Dem Kenner der fremden Sprache bietet die Übersetzung den Reiz des Vergleiches: er bedauert es, wenn beim Übersetzen eine Feinheit des Gedichtes verloren gegangen ist; er zuckt mit der Achsel, wenn ihm ein schöner Vers im bloßen Alltagsgewand entgegentritt; er lächelt, wo der Übersetzer ins Blaue hinein geschossen hat; er freut sich, wo die poetische Wiedergabe geglückt ist. Nicht selten gestattet ihm ein einziges Gedicht, alle Stufen der Gefühlsleiter zu durchlaufen. 

Das steht in Andreas Baumgartners Buch →William Wordsworth: Nach seiner gemeinverständlichen Seite dargestellt, das 1897 in Zürich erschien. Das Zitat habe ich bei Dietrich H. Fischer gefunden, der im Internet die absolut besten Seiten zum Thema Wordsworth in →deutscher Übersetzung hat. Die Sonette auf Andreas Hofer werden nicht ausgelassen. Alles, was auf diesen Seiten von Fischer zusammengetragen ist, alles, was er übersetzt hat, verdient unseren größten Respekt. Es wäre an der Zeit, dass er auch einmal einen Literaturpreis bekommt. Und seine Übersetzung der Daffodils habe ich natürlich auch:

Ich wandert’ einsam wie die Wolke,
die treibt dahin in ihrer Höhe,
als plötzlich ich vor einem Volke
von goldnen Osterglocken stehe:
Am See, dort wo die Bäume sind,
flattern und tanzen sie im Wind.

So endlos, wie die Sterne scheinen
und funkeln auf der Himmelsstraße,
erstrecken sich der Blumen Reihen
die Bucht entlang am Kiesgestade:
Zehntausend faßte da mein Blick,
Köpfe all wiegend wie verzückt.

Im Hintergrund der Wellen Tanz,
doch munterer der Blumen Reigen!
Vor Freude sprachlos war ich ganz,
in froher Runde durft’ ich schweigen:
Ich schaute, schaute, kaum bedachte
die Wohltat, die dies Schauspiel brachte:

Wenn ich mal liege auf der Couch,
gestimmt, daß man den Tag vergißt,
sie blitzen auf vorm innern Aug’,
was des Alleinseins Segen ist:
Das Herz wird froh, es tanzt beschwingt,
von der Narzissenschar umringt.


Ich kann das Gedicht von Wordsworth auswendig. Sie können mich nachts um zwei wecken und Daffodils sagen, ich sage das Gedicht auf. Das hat etwas mit meinem Englischleher Dr Fritz Tröbs zu tun, über den Sie alles in dem Post P.G. Wodehouse lesen können. Und noch mehr Wordsworth steht in diesem Blog in den Posts: Hofanzug, Touristen, Wordsworth, Ostern, Reynolds.

1 Kommentar:

  1. frierende Osterglocken
    https://twitter.com/DieterKief/status/1645542175621488646?s=20

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