Sonntag, 30. Juni 2019

Autorenlesung


Sie trafen sich jetzt immer freitags am Nachmittag. Die schöne Buchhändlerin hatte ab zwölf frei, das hatte sie vor Jahren herausgehandelt. Wegen der Überstunden. Und weil sie einmal im Monat in den Schaufenstern herumkriechen musste, um die Bücher neu zu dekorieren. Ihr Chef war zu geizig, um einen richtigen Dekorateur zu bezahlen. Der Renault Händler konnte freitags auch früher aus der Werkstatt, die meisten Kunden hatten schon mittags ihre Autos abgeholt. Sie setzte immer richtigen Tee auf, bevor er kam. Starken Ostfriesentee, nicht diesen parfümierten Earl Grey. In der Nacht nach dem Abendessen im Fährkrug war nichts passiert, er hatte sie nur höflich bis zur Haustür begleitet. Sie hatte sich halb gewünscht, er hätte mehr versucht.

Aber sie duzten sich inzwischen, das war schon eine Entwicklung. Wenn sonst auch nichts geschah, von einer echten Beziehung konnte man noch nicht reden. Wozu nahm sie überhaupt noch die Pille? Sie wollte an diesem Freitag einmal vorsichtig ansprechen, was aus dem Ganzen werden sollte. Poussierte er nur oder gehörte das noch zum R4 Kundendienst? Ihre Freundinnen hatten ihr am Telephon geraten, einmal ein langes Gespräch zu suchen. Aber waren die wirklich Beziehungsexpertinnen? Zwei waren geschieden, eine lebte mit einem verheirateten Mann zusammen.

Zu dem langen Gespräch kam es an diesem Freitag nicht, die Sache mit der Waschmaschine kam dazwischen. Die in der Küche plötzlich furchtbare Geräusche machte. Sie eilten in die Küche, wo die Waschmaschine kreischte und wackelte. Er zog als erstes den Stecker und machte sich dann daran, nach dem Fehler zu suchen. Sie holte die Werkzeugkiste und stellte sie auf den Fliesenboden, stellte eine Dose Tuborg daneben. Den Namen Tuborg hatte sie sich seit dem Abend im Fährkrug gemerkt. Sie ging dann zurück ins Wohnzimmer, um eine Zigarette zu rauchen und ihren Tee zu trinken. Warum sollte der kalt werden? Wenn Männer an Maschinen werkeln, sind Frauen am besten unsichtbar, das hatte sie in ihrem Leben schon gelernt.

Nach einer Viertelstunde kam er ins Wohnzimmer zurück, seine Bierdose in der Hand. Die Maschine läuft erstmal wieder. Deinen Höschen ist nichts passiert, sagte er. Das war ihr nun ein wenig unangenehm, dass er ihre Unterwäsche gesehen hatte. Frauen müssen ihre Geheimnisse haben. Dabei war sie eigentlich stolz auf ihre Unterwäsche, die sie zum größten Teil in Frankreich gekauft hatte, die Französinnen haben eben mehr Geschmack. Und dessous und lingerie klingt auch viel besser als UnterwäscheDu kannst die Maschine erst einmal normal benutzen, sagte er, aber ich muss zwei Ersatzteile bestellen und einbauen, dann ist sie wieder wie neu. Sie wollte noch einmal Tee aufsetzen, aber er sagte, er würde lieber sein Tuborg austrinken. Du hättest Dir eine Miele kaufen sollen, sagte er, die hält mindestens dreißig Jahre. Dreißig Jahre, dachte sie, das ist ein halbes Leben. Würde sie es mit ihm dreißig Jahre aushalten? Muss Liebe immer für das Leben sein? Er trank sein Bier aus und ging, weil er noch die Ersatzteile für die Waschmaschine bestellen wollte. Bis halb sechs erreiche ich da noch jemanden, sagte er.

Mit dem nächsten Freitag wurde es nichts. Der Buchhändler teilte ihr am Sonnabendmorgen mit, dass sie da einen Dichter für eine Autorenlesung haben würden. Ich habe schon Plakate drucken lassen und die Zeitung angerufen, sagte er. Die Zeitung, das bedeutete diese rothaarige Brillenschlange, mit der sie zur Schule gegangen war. Sie hatte die nie leiden können, aber bei dieser Gelegenheit musste sie nett zu ihr sein. Eine gute Besprechung einer Autorenlesung war wichtig für die Buchhandlung, die berühmt für ihre Autorenabende war. Bei bekannten Autoren mietete man die Aula des Gymnasiums, bei Kinderbuchautoren ging man nachmittags in den großen Saal des Jugendheims. Dichter hatte man bisher nicht gehabt, der Buchhändler hatte beschlossen, dass die Sache in der Buchhandlung stattfände.

Das hier ist sein erstes und einziges Buch, sagte der Buchhändler. Es heißt 'sphärendunst'. Kleingeschrieben. Seine Agentin hat es mir geschickt. Lesen Sie am Wochenende mal drin und sagen Sie mir am Montag, was Sie davon halten. Sie können auch kleine Lesezeichen hineinlegen. Und bestellen Sie uns zehn Exemplare für die Buchhandlung, die werden wir vielleicht los. Immerhin hat der Mann ja einen  Literaturpreis gekriegt. Sie hatte sich das Wochenende anders vorgestellt, aber sie nahm das Buch mit. Sie fing am Nachmittag an, es zu lesen. Das erste Gedicht gefiel ihr:

Der Himmel schuppt sich
im September
und regnet Sterne
in der Nacht

Wenn ihr das vor Jahren jemand ins Poesiealbum geschrieben hätte, hätte sie sich bestimmt in ihn verliebt. Es gab viele kurze Gedichte, die las sie zuerst:

spät in der nacht
als du fort warst
schneite es
warmen schnee.
halte die zeit an
komm zurück.

Die meisten Gedichte schrieb der Autor klein, vielleicht war das der Einfluss von Hans Magnus Enzensberger, dessen Gedichtbände sich in der Buchhandlung gerade gut verkauften. Aber außer der Kleinschreibung hatten diese Gedichte nichts mit Enzensberger zu tun:

einen flüchtigen augenblick lang
ma belle
einen wimpernschlag lang
fand ich trost
in deinen augen
einen herzschlag lang
lächelten deine augen
unter dem schattenrand
der lärmenden finsternis
forget it

Am Montagmorgen gab sie dem Buchhändler den Gedichtband zurück und gab einen kuzen Kommentar zu dem Leseerlebnis. Sie holen den Dichter am Freitagnachmittag ab, am Abend kümmere ich mich um ihn, sagte er. Gehen Sie mit ihm Kaffetrinken, aber dass er um Himmelswillen keinen Alkohol trinkt. Seine Agentin hat mir gesagt, er sei Alkoholiker. Und er fügte hinzu: Die saufen doch alle, diese Künstler. Sie war am Freitag fünf Minuten zu spät am Bahnhof, weil sie keinen Parkplatz gefunden hatte. Der Dichter stand mit mürrischem Gesicht auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie guckte ihn sich aus dem Auto heraus eine Minute lang an, während sie ihre Zigarette zu Ende rauchte. Sie mochte ihn nicht, den säuft sich keine Frau schön, dachte sie. Schreibt er deshalb Liebesgedichte, weil er keine Frauen kriegt?

Als sie ihn in den R4 geladen hatte, merkte sie, dass er ein Nyltest Hemd trug, das war nun das Letzte. Ihr Ex hatte so etwas auch mal gehabt, der roch dann schon nachmittags um vier unterm Arm. Sie hatte das Hemd nach sechs Wochen entsorgt, was zu erheblichen Verstimmungen geführt hatte. Männer und Hemden ist ein ähnliches Thema wie Männer und Maschinen. Sie fuhr mit dem Dichter zur Konditorei am Alten Markt. Sie wußte weshalb. Er bestellte sich als erstes einen Cognac, musste aber von der Kellnerin erfahren, dass hier kein Alkohol ausgeschenkt würde. Sie verkniff sich das Lachen, diese Konditorei war schon die richtige Wahl gewesen. Der Dichter trank dann mißmutig Kaffee. Er roch schon unter dem Arm.

Der Abend wurde eine Katastrophe. Was würde die Rothaarige in der Zeitung schreiben? Dem Dichter war es gelungen, den Lehrling zu überreden, ihm eine Flasche Doppelkorn zu besorgen. Das Ergebnis merkte man ihm an, als er an das kleine Lesepult trat. Er sagte mit schwerer Zunge, er wolle mit einem Gedicht beginnen, das er gerade geschrieben habe:

die nacht hütet kleine weiße schafe
auf dunklen wiesen
eine blasse Tänzerin
küsst den poeten
in einer landschaft
wie von patenier
und marzipan


Davon träumt er wohl, dass er von Tänzerinnen geküsst wird, dachte sie sich, aber eigentlich fand sie das Gedicht gar nicht so schlecht. Der Dichter las dann mit weinerlichem Ton seine Gedichte aus sphärendunst vor, nach einer dreiviertel Stunde war das Ganze glücklicherweise zu Ende. Ob ihr Chef jetzt noch viele Exemplare vom sphärendunst verkaufte, wusste sie nicht, da sie die Buchhandlung nach dem letzten Gedicht stante pede verlassen hatte. Ihr reichte der Dunst des Nyltest Hemdes, da brauchte sie keinen Sphärendunst.

Obgleich es noch Sommer war, war es am Abend kalt geworden. Sollte Sie den Renault Händler noch anrufen? Würde er vielleicht noch vorbeikommen? Aber irgendwie hatte sie für heute genug von Männern, ob die nun Verse schmiedeten oder R4s reparierten. Außerdem war sie todmüde, sie war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Sie hatte noch eine Flasche Wein zuhause, das war die Lösung. Und dann duschen. Heiß und lang. Und singen. Laut:

L'amour est un oiseau rebelle
Que nul ne peut apprivoiser,
Et c'est bien en vain qu'on l'appelle,
S'il lui convient de refuser.
Rien n'y fait, menace ou prière;
L'un parle bien, l'autre se tait,
Et c'est l'autre que je préfère;
Il n'a rien dit mais il me plaît.

Freitag, 28. Juni 2019

contessa, perdono (per la seconda volta)


The restored third act was bold, brilliant. The fourth was astounding. I saw a woman disguised in her maid’s clothes hear her husband say the first tender words he has offered her in years simply because he thinks she is someone else. I heard the music true forgiveness filling the theatre, conferring upon all who sat there perfect absolution. God was singing through this little man to all the world, unstoppable, making my defeat more bitter with every passing bar. Das läßt Peter Shaffer den alten Salieri in seinem Theaterstück Amadeus sagen. Die Oper, um die es hier geht, ist natürlich Figaros Hochzeit. Und was Salieri gerade gehört hat, ist der Graf Almaviva, der Contessa, perdono singt. Ich höre da beinahe jeden Tag einmal hinein, klicke mich durch alle YouTube Versionen. God was singing through this little man to all the world. Der little man, von dem Salieri spricht, ist natürlich Wolfgang Amadeus Mozart. Amadeus kommt von amare und deus, vom Lieben und von Gott. Und hier singt Gott durch Amadeus.

Dieses göttliche Contessa, perdono taucht in meinem Blog immer wieder auf. Vor vier Jahren, als ich die Zahl von zwei Millionen Lesern erreicht hatte, schrieb ich ein kleines Gedicht. In dem eine Strophe lautete:

Von Grafen die contessa
perdono singen
von dem Wiegenlied des Baches
und dem Himmel so weit
und den blauen Augen von
einem Schatz die einen in
die Welt hinaus treiben
es gibt kein Zurück


Ich habe das Contessa, perdono zum ersten Mal in den sechziger Jahren auf einer LP der Deutschen Grammophon gehört, da singt Fischer-Dieskau den Grafen und Maria Stader die Gräfin. Dietrich Fischer-Dieskau ist nicht unbedingt meine Idealbesetzung für den Grafen, aber er macht nichts falsch. Selbst eine komödiantische Aufführung wie die des Music Theatre London (hier Minute 55) bewahrt die Erhabenheit der Szene. Kommt vielleicht nicht an Currentzis heran, ist aber doch schön. Das Music Theatre London hatte seinen eigenen Stil, witzig immer, aber nie so schlimm wie Flimm.

In dem Post Liederkreis hatte ich die Sopranistin Julia Kleiter gelobt. Die hat morgen ihr Debüt in London am Royal Opera House als Contessa Almaviva in Mozart Le nozze di Figaro. Es dirigiert John Eliot Gardiner. Wenn Sie sich jetzt auf den Weg machen, schaffen Sie es noch zur Premiere. Wenn nicht, dann gibt es am 9. Juli auch eine Liveaufnahme bei YouTube.

In dem Post Endeavour gibt es übrigens auch eine Menge Mozart, es ist schön, wenn englische Detektive wie Chief Inspector Morse die Musik lieben. Mozart spielt in Krimis selten eine Rolle, es sei denn, sie sind von Raymond Chandler geschrieben. So findet sich in der Erzählung I'll Be Waiting (die hier einen ausführlichen Post hat) eine Stelle wie:

She didn't turn her head. She leaned there, one hand in a small fist on her peach-colored knee. She was wearing lounging pajamas of heavy ribbed silk embroidered with black lotus buds.
"You like Goodman, Miss Cressy?" Tony Reseck asked.
The girl moved her eyes slowly. The light in there was dim, but the violet of her eyes almost hurt. They were large, deep eyes without a trace of thought in them. Her face was classical and without expression.
She said nothing.
Tony smiled and moved his fingers at his sides, one by one, feeling them move. "You like Goodman, Miss Cressy?" he repeated gently.
"Not to cry over," the girl said tonelessly.
Tony rocked back on his heels and looked at her eyes. Large, deep, empty eyes. Or were they? He reached down and muted the radio.
"Don't get me wrong," the girl said. "Goodman makes money, and a lad that makes legitimate money these days is a lad you have to respect. But this jitterbug music gives me the backdrop of a beer flat. I like something with roses in it."
"Maybe you like Mozart," Tony said.
"Go on, kid me," the girl said.
"I wasn't kidding you, Miss Cressy. I think Mozart was the greatest man that ever lived-and Toscanini is his prophet."
"I thought you were the house dick." She put her head back on a pillow and stared at him through her lashes. "Make me some of that Mozart," she added.
"It's too late," Tony sighed. "You can't get it now."

Wenn es für die rothaarige Miss Crecy (in der Verfilmung gespielt von Marg Helgenberger) auch zu spät ist, Mozart zu hören, in diesem Blog kann man immer etwas zu Mozart lesen. Auch zu Le nozze di FigaroContessa, perdonoHochzeitsvorbereitungenThe marriage of FigaroOpernhaus Hannover und Flimm ist schlimm.

Mittwoch, 26. Juni 2019

Plattenspieler


Mein erster guter Plattenspieler kam von der Firma Braun, ich habe ihn schon in dem Post Schneewittchensarg beschrieben. Wo es am Ende heißt: Die technischen Daten können heutigen High End Freaks nur ein müdes Lächeln entlocken. Das Gerät hatte nur Mono, kein Stereo. Der Radioteil war relativ leistungsfähig, aber der Phonoteil doch eher schwach. Aber das kümmerte damals niemanden, wenn das Design über das Sein siegte. Ich habe meinen SK 4 immer noch, er ist jetzt ein halbes Jahrhundert alt. Sieht aber immer noch aufregend gut aus. Wer kann das schon nach einem halben Jahrhundert von sich sagen?

Heute sehen Plattenspieler anders aus. Etwa so wie der Burmester 175, der erste Plattenspieler, den die Firma Burmester gebaut hat. Der Plattenteller soll angeblich 60 Kilo wiegen, das verspricht eine große Ruhe des Laufwerks. Ist aber noch nicht der Rekord, der Thorens Reference, von dem nur hundert Stück gebaut wurden, wiegt insgesamt 90 Kilo. Dafür muss man dann knapp 32.000 Euro bezahlen. Ich weiß nicht, ob man das heraushören kann.

Es gibt eine andere Art von Plattenspielern, die nicht auf das Masse Prinzip setzen, das sind Plattenspieler mit einem Subchassis. Die häufig so aussehen, als kämen sie aus einem Science Fiction Film. Letztens bot ein Verkäufer diesen IMF bei Bares für Rares an, die Händler waren etwas ratlos. Ein Verkauf kam nicht zustande. Die Sendung, in der ein endlos quasselnder Zwerg Hallöchen sagt, ist wohl auch nicht der richtige Platz für exquisite Audio Maschinen.

Als ich klein war, hatte ich auf dem Dachboden einen Plattenspieler gefunden, der noch aus der Vorkriegszeit stammte. Das war ein Teil wie auf dem Werbeplakat von His Master's Voice. Da musste man noch Nadeln in den Tonkopf hineinschrauben. Der Plattenspieler war kaputt, die Kurbel war gebrochen, aber Nadeln waren genug da. Wenn man die Platten in der Mitte mit dem Finger ganz schnell drehte, konnte man der Maschine Musik entlocken. Meine Lieblingsplatte war von Hans Albers: Ich kam aus Alabama. Ich habe sie so oft herumgenüdelt, bis ich den Text vollständig beherrschte. Ich kann ihn immer noch, lateinische Texte (bis auf den Anfang der ➱Aeneis) habe ich vergessen, Hans Albers nicht.

Ich habe heute immer noch einen Plattenspieler, ein sauteures englisches Teil, da kostete der Tonarm vor zwanzig Jahren mehr als heute ein Plattenspieler kostet. Doch das Gerät ist heute schon Geschichte - obgleich es noch immer exzellent ist (Verkäufer preisen ihn als legendär an). Man kann auch Hans Albers drauf spielen, das hat aber nicht dieses feeling von 1949 oben auf dem Boden mit dem kaputten Plattenspieler. Wir können uns alles neu kaufen, aber wir bekommen unsere Jugenderinnerungen nicht zurück. Das steht so in dem Post Stephen Foster, ich kann es gerne wiederholen, jedes Wort ist noch wahr.

Disc Jockeys brauchen Plattenspieler, damit sie Platten malträtieren können, aber auch sonst sind Plattenspieler auf dem Vormarsch. Langspielplatten auch. Immer häufiger finden wir bei Amazon bei einer CD den Zusatz Vinyl. Und im neuen Studio von NDR Kultur Neo steht auch ein Plattenspieler, hat der Moderator Mischa Kreiskott gesagt, der häufig eine Platte statt einer CD auflegt. Er hat aber nicht gesagt, was sie für einen Player beim NDR haben. Vielleicht schreibe ich ihm mal eine Mail. Seine Adresse habe ich, da er die Lektüre von Kultur (neo) mit einer sehr netten Mail quittierte.

Ich hab' 'ne ganz einfache Frage, wenn ich mir heute eine Platte kaufe, kann ich die hiermit abspielen? Fragte ein Händler bei Bares für Rares, der den IMF (den Serge Gainsbourgh benutzte) vor sich stehen hatte. Die Antwort ist natürlich Ja, kann man. Dafür sind die Dinger da. Auch wenn sie so aussehen wie dieser Räke Transrotor aus dem Bergischen Land. Die Firma baut Plattenspieler, die auch schon mal 200.000 Euro kosten können. Und beweist, dass die Deutschen in vielen High End Produkten die Nase vorn haben.

Es gibt auch preiswerte Plattenspieler, das Internet ist voll mit Angeboten für Einsteiger. Man sollte den Plattenspieler aber nicht im Internet kaufen, man muss ihn sehen und ausprobieren, ob er zu Vorverstärker und Verstärker passt. Glücklicherweise gibt es in den meisten Großstädten immer noch ein, zwei HiFi oder HighEnd Läden. In meiner Stadt kenne ich zwei, bei einem bin ich Kunde. Als ich hierher umzog, habe ich dem Burkhard, der einen Second Hand Plattenladen hat, fünf Meter Platten verkauft. Er hatte eine von einem Gummiband gehaltene Rolle von Fünfzig Euro Scheinen in der Tasche und zahlte sofort. Meine Lieblingsplatten habe ich natürlich behalten.

Lesen Sie auch HiFi und CD Player

Sonntag, 23. Juni 2019

125 Jahre Kieler Woche


Noch mehr zur Kieler Förde finden Sie hier unter Max Oertz und Cutty Sark. 'Cutty Sark' ist witzig, dies hier heute ist eher traurig, schrieb ich in dem Post Kieler Woche vor sechs Jahren. Die Kieler Woche ist jetzt 125 Jahre alt. Wasser und Land, Bühne und Regattabahn - mehr als 2.000 Veranstaltungen verschmelzen in zehn Tagen zu einer sehr besonderen Mischung. Die Kieler Woche ist so etwas wie die 9. Symphonie unter den großen Festen, heißt es auf der Seite der Veranstalter. Drei Millionen Menschen werden erwartet. Ökologisch ist das alles etwas bedenklich, vor allem, weil die ganzen Kriegsschiffe ihre Diesel die Woche nicht abstellen. Genügend Toiletten gibt es nie, Wildpinkeln kostet 75 Euro. Die Gorch Fock ist übrigens wieder im Wasser, allerdings schwimmt sie in der Weser und nicht in der Kieler Förde. Irgendwann - ich leg' mich jetzt nicht auf's Jahr fest - ist die ,Gorch Fock' dann auch wieder dabei, in welcher Funktion auch immer, hat der Oberbürgermeister gerade gesagt.

Die Geschichte der Kieler Woche begann am 23. Juli 1882, als 20 Boote aus Kiel, Hamburg und Dänemark zu einer ersten größeren Segelregatta auf der Kieler Förde starteten. Die zunächst namenlosen Regatten wurden jährlich wiederholt und zogen immer mehr Segler aus ganz Europa an. 1892 gingen bereits über 100 Boote an den Start. Zwei Jahre später tauchte in der Presse erstmals die Bezeichnung Kieler Woche auf.

Bis einschließlich 1914 fand die Kieler Woche jährlich statt. In den Jahren 1915 bis 1919 entfiel sie kriegsbedingt, ebenso in den Jahren 1940 bis 1944. 1945 und 1946 veranstaltete die britische Besatzungsmacht eine „Kiel Week“ ohne deutsche Beteiligung. 1947 legte die Kieler Stadtverwaltung mit der Septemberwoche „Kiel im Aufbau“ den Grundstein für eine neue Festwoche. Somit fiel die Kieler Woche in insgesamt 13 Jahren aus – dies erklärt den Unterschied zwischen den Jahren des Bestehens und den tatsächlich stattgefundenen Segel- und Festwochen.

Erst 1948 fand erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine Kieler Woche mit deutscher Beteiligung statt. Neben dieser reinen Segelveranstaltung gab es erneut eine Septemberwoche. Ab 1949 wurden beide Veranstaltungen zusammengeführt – seitdem wird immer im Juni die Kieler Woche als gemeinsames Segel- und Sommerfest gefeiert.
 Steht so auf einer offiziellen Seite. Wilhelm II, der die Kieler Woche nach dem Vorbild der englischen Cowes Week plante, wird nicht erwähnt. Wenn Sie sich für die Kieler Woche interessieren, hätte ich einen Buchtip für Sie: Bruno Paulenz: Im Sturm der Zeit: 100 Jahre Kieler Yacht-Club (Sonderdruck der Kieler Nachrichten, Kiel 1987). Kann man antiquarisch noch finden. Und zum Schluss hätte ich noch ein Gedicht, das wohl auf einem Kieler Woche Poetry Slam entstanden ist:

Recht schlaff steh'n die Segel im freundlichen Wind
Vor grell-blendend-leuchtendem Blau
Die Gäste so ganz wie das Wetter gestimmt
Ein fröhliches Menschengestau
Bierbuden und Burger und Pommes und Crêpes
Musik, manchmal schön, immer laut
Und Künstler, die namhaft und Künstler, die nett
Und Menschen, wohin man nur schaut
Touristen aus Brüssel, Paris, San Juan,
Chicago, Dhaka, aus’m Pott
Begucken und staunen und feiern und dann
Die Kieler mit wissendem Spott
Und alle zum Ende hin ganz überrascht
Auf nichts ist doch so sehr Verlass:
Regen, Regen, Regen, Regen, Regen
Macht auch nichts, es war uns ein Spaß

Ist kein gutes Gedicht, aber was ist an der Kieler Woche schon gut?


Donnerstag, 20. Juni 2019

Kultur (neo)


Klassik trifft Neo Classical, Weltmusik, Pop, Jazz oder Electronica. Bei NDR Kultur Neo begleiten wir Sie montags bis freitags von 22.35 Uhr bis Mitternacht mit einem grenzenlosen Musikmix durch die letzten Stunden des Tages. Vielfältig, handverlesen und kunstvoll collagiert, so beschreibt NDR Kultur Neo sein Programm. Ich wollte den Post Wiederholungen, der in den letzten Wochen sehr oft angeklickt wurde, zuerst nächtliche Geräusche nennen. Doch dann dachte ich mir, ich könnte den Titel besser für einen Post nehmen, der über all das geht, was ich nachts aus meinem DAB+ Radio höre. Bevor ich diesen kleinen wohlklingenden Engländer namens Auna Georgia hatte, kannte ich Charlotte OelschlegelPetra Rieß und ihre Kollegen noch nicht. Die sind für das handverlesen und kunstvoll collagiert zuständig. Ich kannte auch die Sängerin Charlotte Brandi nicht, die ich jetzt schon mehrfach gehört habe. Und wenn ich in dem Post le grand amour Albin de la Simones Chanson Le grand amour ça n'existait pas zitiert habe, dann kenne ich das Lied auch nur dank NDR Kultur Neo.

Meine Leser wissen, dass ich Noten lesen kann und ein Klavier besitze. Meine Leser lesen es auch gerne, wenn ich über Bach, Mozart und Schubert schreibe. Oder über Jacques Offenbach (der heute seinen 200. Geburtstag hat, da klicken Sie doch dies mal eben an). Aber neben der klassischen Musik gibt es in diesem Blog auch einiges zum Jazz, zur Popmusik und zu Country & Western. Das hat etwas damit zu tun, dass ich aus Bremen komme, das damals von den Amerikanern besetzt war. Auf der anderen Seite der Weser waren die Engländer. Beide Armeen hatten Soldatensender, AFN und BFN, das war die Musik, mit der ich aufwuchs. In Bremen hat Hans Last, der sich später James Last nannte, in amerikanischen Soldatenklubs seine Karriere begonnen. Es wird noch etwas dauern, bis Radio Bremen auch die Musik der Besatzer sendet, das wird dann die große Zeit sein von Manfred Sexauer und Uschi Nerke, die die kürzesten Miniröcke der Republik trägt.

Für den Musikunterricht der Schule existierte das, was aus England und Amerika im Radio zu hören war, überhaupt nicht. Allerdings kam für mich manches durch den Englischunterricht. Denn in den ersten Klassen des Gymnasiums hatten wir einen amerikanischen Englischlehrer, das war im Bremen der fünfziger Jahre eine kleine Sensation. Mr Manally aus Ripon (Wisconsin) war durch einen Lehreraustausch zu uns gekommen, weil zuvor einer unserer Lehrer in Amerika gewesen war. In der Parallelklasse unterrichte Mr Manally Latein. Mit amerikanischer Aussprache, die waren für den Rest des Lebens versaut. Mr Manally, der rote und grüne Socken trug (manchmal auch eine rote und eine grüne Socke), war ein willkommener Farbtupfer in der sonst so grauen Lehrerwelt. Ich werde ihn nicht vergessen, weil er uns alle Lieder beigebracht hat, die Amerika so singt.

Ungefähr um 1960 herum nahmen wir eine Auszeit von der anglo-amerikanischen Populärmusik, wir waren plötzlich alle Exis geworden, Existentialisten. Trugen schwarze Rollis und möglichst schäbige Tweedjacketts und hatten einen Band Camus unter dem Arm. Und schwärmten für Juliette Gréco. Die hatte ich 1962 in Berlin gesehen, alle Chansons von Jacques Prévert, die sie sang, konnte ich auswendig. Mit der Hinwendung zu Frankreich kam auch die Hinwendung zum Jazz. Denn französische Filme hatten häufig hervorragende Soundtracks, Fahrstuhl zum Schafott mit Miles Davis ist wohl der berühmteste. Meine Sammlung von Chansons wuchs, aber noch stärker wuchs die Sammlung von Jazzsängerinnen, das habe ich wohl schon in dem Post Ingeburg Thomsen gesagt, der x-tausend Mal angeklickt wurde.

Ich würde das Wochenendseminar über Marshall McLuhan im Winter 1968 auf dem Koppelsberg gar nicht erwähnen (und auch nicht, dass ich selbstverständlich den Professor beim Tischtennis geschlagen habe), hätte es da nicht einen Gastreferenten namens Klaus Wellershaus vom NDR gegeben. Der war gerade ein Jahr in San Francisco gewesen und brachte nun alles an Popmusik aus Amerika mit, was hier noch völlig unbekannt war. Wir schleppten Kisten voller Langspielplatten aus seinem alten VW Käfer ins Tagungszentrum. Allein die LP von Velvet Underground (und Nico) mit dem Warhol Bananen Cover wäre heute ein Vermögen wert! Am Vormittag stand Theodor Adorno auf dem Programm, am Nachmittag Klaus Wellershaus.

Und Wellershaus war an diesem Wochenende zehn Adornos wert. Jemanden wie Klaus Wellershaus, der für die Popmusik etwas war, was Rolf Dieter Brinkmann für die Vermittung der amerikanischen Lyrik war, hat es beim Norddeutschen Rundfunk nicht wieder gegeben. Falls Ihnen der Name Klaus Wellershaus nichts sagt, sollten Sie unbedingt den schönen Artikel von Heinz Rudolf Kunze aus dem Jahre 2002 lesen. Wenn es heute so etwas wie NDR Kultur Neo gibt, dann hat Wellershaus, der Cello und Dirigieren studiert hatte, mit Sendungen wie Nachtclub, Soultrain (mit Ruth Rockenschaub), Off Beat und Radio Globo das Fundament dazu gelegt. Der Nachfolger von Wellershaus beim NDR war Peter Urban, der an der Hamburger Uni eine Dissertation über die Rockmusik geschrieben hatte, die in leicht veränderter Form bei Fischer als Rollende Worte: Die Poesie des Rock erschien. Er moderiert seit Jahrzehnten den ESC, aber ein Klaus Wellershaus ist er nicht.

Wir sind noch in den Sixties, Unruhen auf den Straßen und an den Universitäten. Vieles an Musik kommt jetzt nicht aus Motown oder Nashville, sondern aus England. Es ist die Zeit der Christine Keeler und des Swinging London. Und der englische Dichter Philip Larkin (der auch den Jazz liebt) schreibt:

Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(which was rather late for me) -
Between the end of the "Chatterley" ban
And the Beatles' first LP. 


Man muss sich jetzt entscheiden, ist man für die Beatles oder die Stones? Ist man für Folk oder Jazz? Oder lieber Country & Western? Es sind auch musikalisch unruhige Zeiten. Wenn man Die Zukunft der Schönheit von F.C. Delius liest, kann man ein schönes Bild der Zeit bekommen.

Jetzt kommen die Siebziger, in dieser Phase von sex, drugs and rock'n roll wird es ein klein wenig unübersichtlich. In Brighton kloppen sich am jedem Wochenende die Mods mit den Rockern, und die Engländer zeigen uns, dass man den Begriff Jugendkultur eigentlich nur im Plural gebrauchen kann. Man braucht jetzt Wegführer durch die Popmusik. Glücklicherweise habe ich Studenten, die das Gras wachsen hören und mir sagen, was ich unbedingt hören müsse. Wenn ich etwas über Jazz wissen will, rufe ich Jimmy in Berlin an.

Und mein Freund Ollie Gray, der PJ Harvey entdeckt hat (und im Independent über sie schreibt), veröffentlicht seine Autobiographie Volume: A Cautionary Tale of Rock and Roll Obsession. Über die ein Rezensent schrieb: Have you ever been to a gig? Have you ever been obsessed with music? This is Oliver Gray's memoir of 30 years spent dabbling on the periphery of the music business. It involves 300 pages of disasters, near misses, humiliations, and the (very) occasional triumph. Ein kleiner Triumph ist, dass Ollies Buch inzwischen in der fünften Auflage ist.

Wenn wir uns angesichts der Massen von Rock und Pop in den Siebzigern gar nicht mehr orientieren können, dann haben wir glücklicherweise immer noch Robert Christgaus Record Guide. Aber Autoritäten wie Robert Christgau und Klaus Wellershaus sind rar geworden. Ich nehme jetzt das, was mir mein DAB+ Radio anbietet. Freitag und Sonnabend immer die Till Brönner Show, Montag bis Freitag NDR Kultur Neo. Über dessen Programm der Moderator Hendrik Haubold sagt: Wir konstruieren im Grunde ein musikalisches Gebäude, von Klassik bis hin zu neuen musikalischen Trends. Diese Elemente verweben wir zu einer Einheit, die einem so noch nicht begegnet ist. Wir haben Hörer, die sagen, dass unsere Sendung ihr Bedürfnis nach etwas Neuem, nach Vielfalt befriedigt.

Ja. Was soll man da noch sagen? Oh, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, that has such people in ‘t! sagt Miranda in The Tempest. Manchmal ist mir das Programm zu sophisticated, zu häufig höre ich ein Instrument, das Oud heißt. Und es gibt zuviel Tastengeplätscher von Einaudi. Wenn es nach mir ginge, kann ich auch eine halbe Nacht Melody Gardot hören. Wenn dazwischen Carla Bruni mal Moon River singt, ist das für mich O.K.

Sonntag, 16. Juni 2019

le grand amour


Ich schenkte ihm einen kleinen Single Malt ein. Ich wusste, er hätte lieber ein Glas Rotwein gehabt, aber Rotwein ist bei mir selten im Haus. Er bewunderte das hübsche kleine Schnapsglas, wusste aber nicht mehr, dass er mir vor Jahrzehnten ein halbes Dutzend von diesen Gläsern geschenkt hatte. Sein Leben war ein Leben in der Öffentlichkeit gewesen, in Talkshows, vor Kameras, im Flieger. Da vergisst man schon einmal das Geschenk von einem Sechserpack stilvoller skandinavischer Stamperl. Er war jetzt im Ruhestand wie ich, aber das Unternehmen, für das er tätig gewesen war, hatte ihm noch einen schönen Job als Aufsichtsrat, Frühstücksdirektor oder so etwas Ähnlichem zugeschoben. Mit Dienstwagen. Wir hatten über Gott und die Welt geredet, als er plötzlich sagte: Ich muss Dir etwas sagen.

Wenn Sätze so anfangen, dann liegt eine gewisse Gefahr in der Luft, ich zündete mir eine Pfeife an, damit ist man erst einmal beschäftigt. Er hatte früher auch Pfeife geraucht, war in jedem Fernsehinterview mit einer Pfeife zu sehen gewesen. Aber nach dem Herzinfarkt rauchte er nicht mehr. Ich hatte ihn damals im Krankenhaus besucht. Wir hatten gerade begonnen, uns zu unterhalten, als das Telephon klingelte. Ich nahm den Hörer ab, weil er nicht ans Telephon herankam. Es war der Ministerpräsident. Ich reichte ihm das Telephon und ging erst einmal aus dem Zimmer. Politik ist nicht meine Sache. Er hatte sich von dem Infarkt schnell erholt. Die Ärzte rieten ihm zu Sport, aber er hatte sein ganzes Leben keinen Sport getrieben. Er hielt es mit dem no sports von Churchill.

Ich stopfte den bröseligen gelben Virginia Tabak in die Pfeife zurück und wartete auf das, was nach dem Ich muss Dir etwas sagen kommen würde. Der nächste Satz war: Kannst Du Dich noch an Rieke erinnern? Rieke? Das war mal seine Freundin gewesen, das wusste ich noch, aber das war mehr als ein halbes Jahrhundert her. Mein Gedächtnis produzierte ein verwaschenes Bild, ich hatte die beiden mal auf der Straße photographiert. Sie hielt ein Fahrrad an der Hand. Schlank, sehr norddeutsch, krisselige blonde Haare, mehr gab die Erinnerung nicht her. Und dann sagte er: Ich habe mein ganzes Leben lang nur Rieke geliebt. Mehr kam nicht. Die Romantisierung von amourösen Abenteuern war nicht seine Sache. Wenn ich so etwas gesagt hätte, dann hätte ich eine Geschichte drangehängt: vom nächtlichen Telephonieren, vom Knutschen im Windfang, vom Nichtloslassenkönnen. Aber jetzt gab es nur dieses Ich habe mein ganzes Leben lang nur Rieke geliebt. Keine Erwähnung seiner Ehefrauen und der Frauen, mit denen er lange zusammengelebt hatte. Nur Rieke, le grand amour. Ich schüttete noch etwas Whisky in die Gläser.

Er ist wenige Monate nach dieser Unterhaltung plötzlich gestorben. Ich kondolierte seiner Ehefrau, der einzigen Frau in seinem Leben, die ich nicht ausstehen konnte, das hatte er gewusst. Aber dann rief ich Rieke an. Ich musste dieses Ich habe mein ganzes Leben lang nur Rieke geliebt loswerden. Wusste sie davon, von der heimlichen Liebe, von der niemand was weiß? Sie lebte in Süddeutschland und war seit Jahrzehnten glücklich verheiratet. Die Liebeserklärung war für sie keine Überraschung, sie wusste es, ihr ganzes Leben lang. Wie lebt man damit? Ich sagte ihr, dass wir schottischen Whisky aus kleinen Gläsern getrunken hätten. Die Gläser sind von Harjes, sagte sie, die habe ich damals ausgesucht. Die Welt ist klein.

Es sind nur noch fünf Gläser, eins ist einem Gast einmal auf den Terrazzoboden der Küche gefallen. Nichts hält ewig. Außer der Liebe. Le grand amour ça n'existait pas, singt Albin de la Simone. Was verstehen die Franzosen schon davon?

Freitag, 14. Juni 2019

Jeremiaden


O Jugend unsrer Zeit, du bist dahin!
Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,
Nicht einer von der Meng' sich unterscheidet,
Und nichtsbedeutend all' vorüberziehn.

Dichtet hier Frau Kramp-Karrenbauer, weil sie böse ist, dass es diesen Blogger Rezo gibt, dessen YouTube Video ein Schlag ins Gesicht für Menschen, die sich für dieses Land engagieren ist? Nein, der Text ist älter, beinahe zweihundert Jahre alt. Und er ist auch nicht der erste Text über die nichtsnutzige Jugend. So können wir ca. 3.000 vor Christi auf einer Tontafel der Sumerer lesen: Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte. Oder ein Keilschrifttext der Chaldäer tausend Jahre später: Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe. Wenn Ihnen das noch nicht genug an Beispielen ist, dann klicken Sie doch einmal dies hier an.

Das Internet ist für uns alle Neuland, hat Angela Merkel im Jahre 2013 gesagt. Und sie fuhr fort: und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung natürlich, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen. Wenn man nicht ganz so global denkt, kann man natürlich auch sagen, dass ein Blogger bei YouTube mit einem Video die CDU an den Rand des Abgrunds bringen kann. Wir waren Herr über die Bilder, wir haben die Nachrichten selbst produziert. In diese Richtung wird es weitergehen, das ist moderne politische Kommunikation. Das ist jetzt nicht Jonathan Pryce in dem James Bond Film Tomorrow Never Dies, das ist nicht aus George Orwells 1984, das ist Frau Kramp-Karrenbauer. Politiker sagen in diesen Tagen seltsame Sachen. Müssen wir an die Worte von Josef Goebbels erinnern: Und den Rundfunk werden wir in den Dienst unserer Idee stellen. Und keine andere Idee soll hier zu Worte kommen?

Wir haben mit wehleidigen Klagen über die Jugend begonnen und landen in diesen Tagen schnell bei einem Blogger mit blau gefärbten Haaren, der sich Rezo nennt. Über dessen Wutrede gegen die CDU sagte Frau Kramp-Karrenbauer: Ich habe mich gefragt, warum wir nicht eigentlich auch noch verantwortlich sind für die sieben Plagen, die es damals in Ägypten gab. War das witzig. Fragezeichen. Aber der Rezo darf das sagen. Der Böhmermann auch. Und auch Frau Kramp-Karrenbauer darf in das nächste Fettnäpfchen treten. Denn: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Dieses O Jugend unsrer Zeit, du bist dahin! ist die erste Zeile eines Gedichts, das Franz Schubert am 21. September 1824 an seinen Freund Franz von Schober sendet. Er ist nicht recht glücklich, denn er schreibt in seinem Brief: Nun sitz ich allein hier im tiefen Ungarlande, in das ich mich leider zum zweiten Male locken liess, ohne auch nur einen Menschen zu haben, mit dem ich ein gescheidtes Wort reden könnte. Ich habe seit der Zeit, dass du weg bist, beinahe keine Lieder componirt, aber mich in einigen Instrumental-Sachen versucht. Was mit meinen Opern geschehen wird, weiss der Himmel! Ungeachtet ich nun seit fünf Monaten gesund bin, so ist meine Heiterkeit doch oft getrübt durch Deine und Kuppels Abwesenheit, und verlebe manchmal sehr elende Tage; in einer dieser trüben Stunden, wo ich besonders das Thatenlose unbedeutende Leben, welches unsere Zeit bezeichnet, sehr schmerzlich fühlte, entwischte mir folgendes Gedicht, welches ich nur darum mitteile, weil ich weiß, daß Du selbst meine Schwächen mit Liebe und Schonung rügst.

Das Gedicht, das Julian Prégardien auf seiner Schubert CD rezitiert, heißt Klage an das Volk, es war eins der letzten Gedichte von Schubert:

O Jugend unsrer Zeit, du bist dahin!
Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,
Nicht einer von der Meng' sich unterscheidet,
Und nichtsbedeutend all' vorüberziehn.

Zu großer Schmerz, der mächtig mich verzehrt
Und nur als letztes jener Kraft mir bleibet,
Denn tatlos mich auch diese Zeit zerstäubet,
Die jedem Großes zu vollbringen wehrt.

Im siechen Alter schleicht das Volk einher,
Die Taten seiner Jugend wähnt es Träume,
Ja spottet töricht jener goldnen Reime,
Nichtsachtend ihren kräft'gen Inhalt mehr.

Nur dir, o heil'ge Kunst, ist's noch gegönnt,
Im Bild die Zeit der Kraft und Tat zu schildern
Um weniges den großen Schmerz zu mildern,
Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt.

Das Gedicht ist Schubert nicht nur in einer melancholischen Laune entwischt. Schubert ist unglücklich im restaurativen Österreich des Fürsten Metternich. Er hatte mitansehen müssen, wie sein Freund Johann Senn (dessen Schwanengesang er vertonen wird) verhaftet wurde. Und die Zusammenkünfte seines Freundeskreises werden argwöhnisch von der Polizei beobachtet. Das haben Frieder Reininghaus mit Schubert und das Wirtshaus: Musik unter Metternich und Michael Kohlhäufl in Poetisches Vaterland. Dichtung und politisches Denken im Freundeskreis Franz Schuberts genau untersucht. Von dem Franzl Schubert in einem Film wie Das Dreimäderlhaus müssen wir wohl Abstand nehmen.

Die Rettung aus der Tristesse ist für Schubert die Kunst. Das ist ein schöner Gedanke. Aber gibt es bei uns Kunst, die den großen Schmerz mildern kann? Da wird in einer Sphäre, in der wir uns noch nicht so gut auskennen, gepostet und getwittert, aber haben wir irgendwo so etwas wie Kunst? Im Zweifelsfall hätten wir immer noch das Lied, das Schuberts Freund Franz von Schober gedichtet hat:

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
Hast du mein Herz zu warmer Lieb' entzunden,
Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf' entflossen,
Ein süßer, heiliger Akkord von dir
Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,
Du holde Kunst, ich danke dir dafür!


Sie können in der Müllkippe des Internets, das in in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain ist, wie Frau Merkel sagte, das Lied von Schubert hören. Auch so etwas gibt es da. Ich biete Ihnen heute die Versionen von Hannes Wader und Fritz Wunderlich an, Sie können wählen. Ich finde aber auch die schräge Version von Josephine Foster ganz charmant.

Mittwoch, 12. Juni 2019

Willliam Collins


Das Proseminar von Dr Peter Nicolaisen in dem kalten Wintersemester 1965/66 hatte die Nummer 735 im Vorlesungsverzeichnis und kostete 6 Mark Unterrichtsgeld. Unter dem spröden Titel Die Lyrik der englischen Vorromantik (damals bezeichneten Titel im Vorlesungsverzeichnis noch das, was sie meinten), hetzte uns Peter Nicolaisen durch ein ganzes Jahrhundert. Von Grongar Hill nach Windsor Forest. Von Elizabeth Manwarings Italian Landscape in 18th Century England zu Marjorie Hope Nicolsons Mountain Gloom and Mountain Glory und Newton demands the Muse.

Nicolaisen jagte uns durch Philosophie, Landschaftsgartenkunst und Landschaftsmalerei– und natürlich durch die ganze englische Literatur, von Thomas Chatterton bis James Thomson. Und das alles für 6 Mark! Am Ende des Kurses dankte uns (wir waren 13) Peter Nicolaisen. Und der ansonsten so trockene und coole Nicolaisen zeigte durchaus eine gewisse Rührung, als er uns versicherte, dass wir ein solches Seminar wohl nicht wieder erleben würden. Er hatte Recht. Der Umfang des Seminars würde heute das ganze Studium eines BAMA-Studenten ausfüllen. Das Seminar hat bei mir bleibende Spuren hinterlasse, das 18. Jahrhundert kommt in diesem Blog immer wieder vor. Dieser Herr hier war auch Gegenstand des Seminars, er starb vor 260 Jahren im Alter von nur 37 Jahren. Ein kurzes Leben, Public School, Oxford, erste Publikationen. Dann die Verschwendungssucht, die Melancholie, der Wahnsinn. Das Leben von William Collins hat ein bisschen etwas von The Rake's Progress von William Hogarth.

Das Gedicht Ode to Evening ist wohl das berühmteste Werk des Dichters, es hatte einen großen Einfluß auf die Dichter der Romantik. The 'Ode to Evening' was a touchstone poem for early romantic poets and became one of the most frequently imitated odes written in the eighteenth century, heißt es auf einer seriösen Internetseite. Und Thomas Frognall Dibdin sagte über das Gedicht: If Collins live by the reputation of one, more than of another, performance, it strikes me that his Ode to Evening will be THAT on which the voice of posterity will be more uniform in praise. It is a PEARL of the most perfect tint and shape.

Ode to Evening

If aught of Oaten Stop, or Pastoral Song,
May hope, O pensive Eve, to sooth thine Ear,
Like thy own brawling Springs,
Thy Springs, and dying Gales,
O Nymph reserv'd, while now the bright-hair'd Sun
Sits in yon western Tent, whose cloudy Skirts,
With Brede ethereal wove,
O'erhang his wavy Bed:
Now Air is hush'd, save where the weak-ey'd Bat,
With short shrill Shriek flits by on leathern Wing,
Or where the Beetle winds
His small but sullen Horn,
As oft he rises 'midst the twilight Path,
Against the Pilgrim born in heedless Hum:
Now teach me, Maid compos'd,
To breathe some soften'd Strain,
Whose Numbers stealing thro' thy darkning Vale,
May not unseemly with its Stillness suit;
As musing slow, I hail
Thy genial lov'd Return!
For when thy folding Star arising shews
His paly Circlet, at his warning Lamp
The fragrant Hours, and Elves
Who slept in Buds the Day,
And many a Nymph who wreathes her Brows with Sedge,
And sheds the fresh'ning Dew, and, lovelier still,
The Pensive Pleasures sweet,
Prepare thy shadowy Car.
Then let me rove some wild and heathy Scene,
Or find some Ruin 'midst its dreary Dells,
Whose Walls more awful nod
By thy religious Gleams.
Or if chill blustering Winds, or driving Rain,
Prevent my willing Feet, be mine the Hut,
That from the Mountain's Side
Views Wilds, and swelling Floods,
And Hamlets brown, and dim-discover'd Spires,
And hears their simple Bell, and marks o'er all
Thy Dewy Fingers draw
The gradual dusky Veil.
While Spring shall pour his Show'rs, as oft he wont,
And bathe thy breathing Tresses, meekest Eve!
While Summer loves to sport
Beneath thy ling'ring Light:
While sallow Autumn fills thy Lap with Leaves,
Or Winter yelling thro' the troublous Air,
Affrights thy shrinking Train,
And rudely rends thy Robes.
So long regardful of thy quiet Rule,
Shall Fancy, Friendship, Science, smiling Peace,
Thy gentlest Influence own,
And love thy fav'rite Name!

Eine Strophe, 52 Verse, ungereimt und das Ganze im Blankvers. Eine Ode, adressiert an den Abend (O pensive Eve), der hier feminin ist. Der Abend, die kommende Nacht, die Jahreszeiten, es ist viel Natur in der Ode. Man bezeichnet die Zeit, in der Collins schreibt, als Transitional Period, eine Übergangsepoche zwischen Neoklassizismus und Romantik. Es herrscht ein leiser Ton der Melancholie in dem Gedicht, und diese Melancholie ist typisch für die Übergangsperiode der englischen Literatur, wenn wir an Edward Young, Thomas Gray und die graveyard poetry denken. Die Erwähnung einer Ruine darf in dem Gedicht nicht fehlen, dies ist der Anfang des englischen Ruinenkults, der im Gothic Revival mündet. Die Ode to Evening, die als neoklassizistisches Gedicht daherkommt, ist der Türöffner zur Romantik.

Collins hat ein dutzend Oden geschrieben, die am 12. Dezember 1746 veröffentlicht wurden. Die meisten davon kann man vergessen. Die Kritiker interessierten sich damals auch nicht für die Oden, seine Dichterkollegen schon. Wenn ich weiter oben became one of the most frequently imitated odes written in the eighteenth century zitiert habe, so ist das nicht so einfach dahingesagt. Gehen Sie doch einmal zu dieser Seite, da finden Sie beinahe einhundert Imitationen, alle durch einen Klick auf den Bildschirm zu zaubern. Henry Kirk White (der hier einen Post hat) ist auch dabei. William Collins wird den großen Erfolg seiner Ode to Evening nicht mehr erleben, da ist er schon weit weg von der Welt.

Sonntag, 9. Juni 2019

Pfingsten


Er wollte für ein Jahr nach Berlin, es wurden fünf Jahre daraus. Er hatte die Malerei aufgegeben und wollte jetzt Theaterschriftsteller werden. Wurde er nicht. Weil er in den Berliner Jahren sein Hauptwerk Der grüne Heinrich und den Anfang von Die Leute von Seldwyla schrieb. Er schrieb auch Gedichte, die leider kaum beachtet wurden, sodass Hermann Hesse 1927 schreiben konnte: Es sind unter diesen Gedichten außerordentlich schöne, von denen man nicht begreifen kann, daß sie jahrzehntelang unbeachtet und ungedruckt daliegen konnten! Aber Kellers Lyrik ist überhaupt wenig gekannt, sie ist rauher und eigenwilliger als seine Prosa. Das konnte man neulich bei den Erstaufführungen von Lebendig begraben sehen, Othmar Schoeck hat zu diesem Gedichtzyklus eine sublime Musik geschrieben, die Mehrzahl der Zuhörer aber kannte diese herrlichen Gedichte nicht und saß ihnen verlegen und kopfschüttelnd gegenüber. Vielleicht geht es auch diesen von Fränkel ausgegrabenen Jugendgedichten so. Es wäre aber schade. Der hier erwähnte Schweizer Komponist Othmar Schoeck hat in SILVAE schon einen Post, in dem auch Bilder des Landschaftsmalers Gottfried Keller zu sehen sind.

Für den heutigen Tag habe ich ein Gedicht aus dem Jahre 1854 von Gottfried Keller herausgesucht, dass Berliner Pfingsten heißt:

Heute sah ich ein Gesicht,
Wonnevoll zu deuten:
In dem frühen Pfingstenlicht
Und beim Glockenläuten
Schritten Weiber drei einher,
Feierlich im Gange,
Wäscherinnen, fest und schwer!
Jede trug 'ne Stange.

Mädchensommerkleider drei
Flaggten von den Stangen;
Schönre Fahnen, stolz und frei,
Als je Krieger schwangen,
Blau und weiß und rot gestreift,
Wunderbar beflügelt,
Frisch gewaschen und gesteift,
Tadellos gebügelt.

Lustig blies der Wind, der Schuft,
Lenden auf und Büste,
Und von frischer Morgenluft
Blähten sich die Brüste!
Und ich sang, als ich gesehn
Ferne sie entschweben:
Auf und laßt die Fahnen wehn,
Schön ist doch das Leben!

Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Pfingstfest.

Samstag, 8. Juni 2019

Ich bin nicht sentimental


Der Satz ist nicht von mir. Ich bin sentimental. Wenn Sie diesen Blog regelmäßig lesen, wissen Sie das. Spätestens seit Sie den Post Wiederholungen gelesen haben. Nein, dieses Ich bin nicht sentimental, hat Fritz Overbeck auf die Frage geantwortet, ob er nicht manchmal Lust verspüre, nach Worpswede zurückzukehren. Er hatte sich eine Villa am Ortsrand von Vegesack gekauft, mit großem Garten, den er hier gemalt hat. Fast ist es mir unheimlich, und fast demütig muß ich denken, womit ich denn das alles verdient habe, schrieb er nach dem Umzug.

Er war der Sohn eines Direktors des Norddeutschen Lloyds, war auf dem Alten Gymnasium in Bremen gewesen und hatte danach in Düsseldorf studiert. Otto Modersohn hatte ihn nach Worpswede gelockt, aber seine Wohnung in Bremen hatte Overbeck erst einmal behalten. Nach dem Umzug nach Vegesack hatte  er 1908 an Modersohn geschrieben: Wir Worpsweder haben in den letzten Jahren, abgesehen von deiner Frau, im Grunde doch nichts hervorgebracht, das uns stolz machen könnte - nimm mir das nicht übel - und und ich halte nichts für verfehlter und schädlicher, als als vorurteilsvoll seine Augen gegenüber den Leistungen anderer zu verschließen.

Overbeck hat seine Villa und seinen Garten nicht lange genießen können, heute vor 110 Jahren ist er gestorben, er war noch keine vierzig Jahre alt. Als Sterbeort wird Bröcken bei Vegesack angegeben, das suggeriert, dass es einen Ort mit dem Namen Bröcken gegeben hätte. Hat es nie, das ist nur eine Flurbezeichnung: Es muß noch etwas gesagt werden zu der in der Literatur und auch in dieser Darstellung verwendeten Ortsbezeichnung „Brocken bei Vegesack". „Auf dem Brocken" hieß es damals. „Brocken", „Krümpel" oder „Rahland", das waren die Namen von kleinen Erhebungen beiderseits des Schönebecker Auetals, die damals von heckenumsäumten Äckern und Waldstücken überzogen waren, heißt es 1989 im Jahrbuch der Wittheit zu Bremen.

Heute heißt dort in Schönebeck noch eine ganz kleine Straße Bröcken. Die Straße Auf dem Krümpel gibt es auf der anderen Seite der Schönebecker Aue auch. Wir nannten allerdings die riesige Wiese daneben auch den Krümpel. Wenn die im Winter überflutet und mit Eis bedeckt war, war es eine wunderbare Fläche zum Schlittschuhlaufen. Overbecks Frau Hermine, die auch Malerin war, hat von dem Haus (das sie hier gemalt hat) in den ersten Jahren wenig gehabt, da sie lange wegen ihrer Tuberkulose in Davos war. Overbeck hat sie dort besucht und viele Schneebilder gemalt. Eins davon besitze ich, dieser pappige Schnee ist furchtbar langweilig.

Mein Opa hatte Overbeck gekannt, meine Mutter kannte Overbecks Tochter, die für uns nur das Fräulein Overbeck war. Sie hockte einsam und verarmt in der Villa, auf die ihr Vater so stolz gewesen war. Bei mir an den Wänden hängen zwei Overbecks, der eine ist das Schneebild, der andere eine Dünenlandschaft, die Overbeck 1904 auf Sylt gemalt hat. Die ist auch furchtbar langweilig. Mein Bruder hat auch zwei Overbecks, einen Torfkahn auf der Wümme und eine Sylter Düne. Das Bild mit dem Torfkahn habe ich auch, ist aber eine Fälschung, liebevoll von meiner Mutter kopiert. Im Kopieren von Worpswedern war sie gut. Worpsweder sind leicht zu kopieren. Wenn man sich die Bilder anschaut, die zur selben Zeit in der Malerkolonie in Skagen gemalt werden, dann wird man Overbecks Satz Wir Worpsweder haben in den letzten Jahren, abgesehen von deiner Frau, im Grunde doch nichts hervorgebracht, das uns stolz machen könnte zustimmen.

Für den Maler Fritz Overbeck gab es vor Jahren schon den Post Fritz Overbeck. Und in dem Post Worpswede steht auch einiges über ihn. Sie könnten auch noch lesen: Heinrich VogelerAnna FeldhusenOtto UbbelohdeNiedersachsenstein und Fritz Mackensen. Dann wissen Sie alles über Worpswede.

Freitag, 7. Juni 2019

Der Sommer


Der Sommer

Im Tale rinnt der Bach, die Berg an hoher Seite,
Sie grünen weit umher an dieses Tales Breite,
Und Bäume mit dem Laube stehn gebreitet,
Daß fast verborgen dort der Bach hinunter gleitet.

So glänzt darob des schönen Sommers Sonne,
Daß fast zu eilen scheint des hellen Tages Wonne,
Der Abend mit der Frische kommt zu Ende,
Und trachtet, wie er das dem Menschen noch vollende.

Mit Untertänigkeit
Scardanelli.

d. 24 Mai 1758.

Er hat es wieder mit Scardanelli unterzeichnet, das ist sein anderes Ich. Wir wissen, dass er in Wirklichkeit Friedrich Hölderlin heißt und am 7. Juni 1843 in Tübingen gestorben ist, Grund genug für ein kleines Scardanelli Gedicht am heutigen Tag. Der Name Scardanelli wird schon in meinem ersten Post als Blogger zitiert. Und Hölderlin ist immer wieder ein Thema gewesen. Lesen Sie auch: Hölderlin, Holterling, Michael Hamburger, Dichterfreund, Isaac von Sinclair, Herbstgedicht,

Mittwoch, 5. Juni 2019

Nacht und Träume


Keine Sorge, ich verkaufe den Post Wiederholungen, der mittlerweile ein Bestseller ist, nicht noch einmal unter einem anderen Titel. Der Post über das nächtliche Telephonieren sollte ursprünglich nächtliche Geräusche heißen. Doch dann dachte ich mir, dass sei ein viel besserer Titel für einen anderen Post, der über das nächtliche Programmangebot der Sender des DAB+ Radios gehen soll. An diesem Post wird noch geschrieben, erst einmal kommen die Nacht und die Träume. Es ist ein von Franz Schubert vertontes Gedicht von Matthäus von Collin, das man früher einmal irrtümlich Friedrich Schiller zugeschrieben hat:

Nacht und Träume

Heil’ge Nacht, du sinkest nieder;
Nieder wallen auch die Träume,
Wie dein Mondlicht durch die Räume,
Durch der Menschen stille Brust.
Die belauschen sie mit Lust;
Rufen, wenn der Tag erwacht:
Kehre wieder, heil’ge Nacht!
Holde Träume, kehret wieder!

Der Text des Liedes von Schubert weicht von dem Original von Collin ab (Sie können auf dieser hervorragenden Seite alles dazu lesen), aber so etwas dürfen Komponisten sicher tun. Nacht und Träume ist von vielen gesungen worden, Sängern und Sängerinnen. Es soll langsam gesungen werden, das ist nicht so leicht. Viele Sänger, vor allem, wenn sie von der Oper kommen, tun zu viel in das Lied hinein. Als der Österreicher Ilker Arcayürek bei dem BBC Singer of the World in Cardiff ins Finale kam, sang er das Lied noch wie ein Opernsänger. Aber inzwischen ist er von der Oper zum Liedgesang gekommen (lesen Sie hier mehr im Feuilleton der Stuttgarter Zeitung) und hat die Winterreise gesungen. Da klingt er ganz anders. Er gibt von ihm seit 2017 auch eine interessante CD von Schubert Liedern unter dem Titel Der Einsame.

Schon etwas länger im kommerziellen Sängerwettstreit als der in der Türkei geborene Wiener Ilker Arcayürek ist Julian Prégardien. Den habe ich vor kurzem bei NDR Kultur mit einem langen Interview kennengelernt. Von seinem Vater Christoph Prégardien besitze ich zwei CDs, den Sohn kannte ich nicht. Aber ich lerne durch die Kulturprogramme meines kleinen DAB+ Radios ständig etwas dazu. Zum Beispiel, dass es seit 2015 eine ganz erstaunliche CD von Julian Prégardien gibt, wo er Schuberts Lieder nicht mit einer Klavierbegleitung singt, sondern Flöte, Baryton und Gitarre ihn begleiten (Sie können in dem Link einen Ausschnitt der Aufnahme anklicken).

Und der lyrische Tenor Julian Prégardien singt auch Nacht und Träume in unübertrefflicher Weise. Leider nur bei YouTube und noch nicht auf CD. Ich werde hier irgendwann mit dem Post 'Die schöne Müllerin: Fremde Zungen' weitermachen. Ich hoffe, dass da nicht wieder ein Jahr vergeht, habe ich in dem Post Die schöne Müllerin: Helle Stimmen vor Jahren geschrieben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich das immer noch nicht wahrgemacht habe, aber vielleicht ist dieser Schubert Post eine kleine Entschädigung.

Und zum Schluss habe ich Nacht und Träume noch einmal. Diesmal von Samuel Beckett, der 1982 ein Fernsehspiel mit dem Titel Nacht und Träume geschrieben hat. Schuberts Lied kommt auch drin vor. Das Ganze ist ein bisschen obskur, braucht man nicht gesehen zu haben. Hören Sie lieber noch einmal Julian Prégardien.

Sonntag, 2. Juni 2019

Familienbild


Wenn Maler ihre Familie malen, gehen sie häufig mit Liebe und Herzblut an die Sache. Das hat der französische Maler Albert Besnard, der heute vor 170 Jahren in Paris geboren wurde, sicher auch getan. Es ist keine normale Familie, die er da portraitiert: bis auf das Kleinkind auf dem Arm der Mutter haben alle im Raum mit Kunst zu tun. Besnard, der sich neben die Tür der Villa in Talloires im Département Haute-Savoie gemalt hat, kam aus einer Künstlerfamilie. Seine Schwiegermutter Mme Vital-Dubray neben ihm war die Gattin des Bildhauers Gabriel-Vital Dubray, und seine Frau Charlotte Besnard war Bildhauerin. Alle drei Kinder im Vordergrund, Germaine, Philippe und Robert, werden Künstler werden.

Das Bild der Familie Besnard aus dem Jahre 1890 befindet sich im Musée d'Orsay, aus dem auch die Abbildung im obigen Absatz stammt. Bei dieser Abbildung, die sich bei Wikipedia findet, hat jemand wohl zu tief in den digitalen Farbtopf gegriffen, aber man kann dadurch die Struktur und den räumlichen Aufbau des Bildes schön erkennen. Von den Bildern Besnards, die an der Wand hängen, ist nichts mehr zu erkennen. Durch die Verandetür, ein kleines Bild im Bild, erhalten wir einen Ausblick auf die Landschaft.

Besnard hätte auch Landschaftsmaler werden können, er ist ein Maler, der alles kann und jede Technik beherrscht, ob es Radierungen, Aquarelle oder Ölgemälde waren. Die Kritiker liebten ihn: Among contemporary French artists, there is no more brilliant and vivid figure than that of Albert Besnard. He is a painter of life and light, a magician of color, a man who, as one critic puts it, "has seen in the paroxysm of a moment the truth revealed by his contact with the infinite.

Besnard war 1880 mit seiner Familie nach London gegangen und hatte dort die Bilder von Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough genau studiert, was ihn zu einem gesuchten Portraitmaler der Belle Epoque werden ließ. Er ist auch schon so berühmt, dass er in der Royal Academy ausstellen darf. Besnard war mit John Singer Sargent befreundet, der die Familie Besnard mit dem kleinen Robert vor seiner Geburtstagstorte einmal gemalt hat. Das intime Bild, das Albert Besnard von seiner Familie gemalt hat, entsteht im selben Jahr, in dem Vindent van Gogh stirbt. Haben die beiden Maler etwas gemein?

Besnard hat ein liebende Familie, bekommt private und öffentliche Aufträge, Preise und Auszeichnungen. Vincent van Gogh hat nichts davon. Es mag ihm im Malerhimmel ein Trost sein, dass sich heute alle an ihn erinnern und kaum jemand Albert Besnard kennt. Doch der Maler des mainstream der Belle Epoque hat van Gogh gekannt, er macht mit seinem Bruder Vincent Geschäfte. Der hat ihm einmal zweihundert Franc geliehen, hätte er vielleicht besser seinem Bruder gegeben. Manchmal ist Besnard gar nicht so weit von van Gogh entfernt, das van Gogh Museum besitzt diese Serie von Radierungen.