Samstag, 23. Juni 2018
Jimmy ✝
Sein Großvater und der Kaiser haben zusammen Bier getrunken, man kann das auf dem alten Photo sehen. Vorher hat der Kaiser Jimmys Opa den Pour le Mérite Orden verliehen. In den zwanziger Jahren hat sich Jimmys Opa ein Sommerhaus in Wannsee gebaut, da ist Jimmy in den siebziger Jahren eingezogen. Als Jimmy geboren wurde, ahnte niemand, dass sein Patenonkel James Graf von Moltke nur noch vier Jahre zu leben hatte. Und dass Jimmys Vater da im KZ oder in einem Strafbataillon an der russischen Front sein würde.
Das ist eine deutsche Geschichte in sechs Zeilen, man könnte einen Roman draus machen. Mein Freund Jimmy, der vor zwei Monaten starb, war ein Intellektueller, wie ihn das deutsche Bildungsbürgertum hervorbrachte. Das wird heute selten, sehr selten. Jimmy mochte keine großen Gesellschaften, seine Ehefrau Carola schon. Aber er kannte viele berühmte Leute. Ich kann die hier nicht aufzählen, es sind sehr private Geschichten, ich will kein name dropping betreiben. Aber ich verdanke Jimmy, dass mir Ingomar von Kieseritzky eine schöne Widmung in mein Exemplar von Die ungeheuerliche Ohrfeige geschrieben hat. Jimmy konnte beinahe den ganzen Faulkner zitieren, Goethe sowieso. Auf den ließ er nichts kommen. Er war auch in Moby-Dick ziemlich firm. John Wayne lassen wir jetzt einmal aus. Wie oft haben wir über The Searchers diskutiert. Über die Tür, die den Rahmen für Anfang und Ende des Films gibt.
Jimmy, der als hugenottisches Erbe zwei schöne französische Vornamen hatte, ist häufig hier im Blog erwähnt worden. Er hat Jura studiert, aber auch Philosophie. Eine vierhundertseitige Dissertation über Hegel lag in seiner Schublade. Nie abgegeben. Aber er hat mir sein Exemplar von Alexandre Kojève geschenkt, damit ich Hegel besser verstehe. Er wäre beinahe mit Rudolf Wassermann an das Oberlandesgerichts Braunschweig mitgegangen, das war ein Mann, zu dem Jimmy passte. Doch er blieb Richter in Charlottenburg. Er schätzte seinen Präsidenten Günter von Drenkmann. Jimmy bildete auch Referendare aus. Der schlechteste Referendar, mit dem er je zu tun hatte, ist später Bürgermeister von Berlin geworden
Ich solle einen Roman schreiben, hat er immer wieder gefordert, er verachtete das Internet. Ich bin nicht der Mann, der Romane schreibt, ich liebe die kleine Form. Ein Blog ist schon das Richtige für mich. Manchmal haben meine Posts einen touch von Literatur, wie hier, wo Jimmy auch vorkommt: Jahrzehnte später werde ich Jimmy plötzlich zwingen, auf die Bremse von seinem Alfa Romeo zu treten, mitten auf dem Teltower Damm. Warte auf mich, sage ich ihm. Ich habe im Vorbeifahren diesen kleinen Park gesehen. Mit dieser Telephonzelle an der Ecke. Hier war ich mal mit ihr verabredet, sie ist natürlich nicht gekommen. Der kleine Park hat sich in einem Vierteljahrhundert nicht verändert, hier ist die Zeit stehen geblieben. Es ist Oktober wie damals, die roten und gelben Blätter auf dem Boden sehen aus, als lägen sie seit 1961 hier, les feuilles mortes. Der Geruch von der Brauerei reicht noch immer bis hier. Ich drehe mich abrupt um. Fahr los, sage ich zu Jimmy. Manchmal kann man es nicht ertragen, vom Zauber eines Ortes wieder gefangen zu werden. Ich könnte Jimmy jetzt in ein philosophisches Gespräch über Kierkegaards Die Wiederholung verwickeln. Der kleine, jetzt piekende Muskel, den wir Herz nennen, würde lieber Jay Gatsbys Satz Can’t repeat the past? Of course, you can hören.
Jimmy spielte Cello und verehrte seine Lehrerin. Ich habe lange gebraucht, bis ich begriff, dass meine Klavierlehrerin schon das Richtige tat, als sie mich mit Bach und Mozart triezte. In Jimmys Wohnzimmer war die größte Sammlung von Charlie Parker Platten, die ich je gesehen hatte, aber er hatte auch Glenn Gould in Berlin gesehen. In P.J. Kavanaghs Autobiographie The Perfect Stranger habe ich gelesen, wie Kavanagh nachts in Paris auf der Straße Charlie Parker trifft und mit ihm durch Paris wandert. Charlie Parker always filled me with a kind of despair, because he played the way I would have liked to write, and this wasn't possible for me or anyone else. He made poetry seem word-bound. Manchmal denke ich mir, dass Jimmy jetzt mit seinen kleinen Gucci Slippern an der Seite von Charlie Parker nachts durch Paris tänzelt.
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