Sonntag, 10. Juni 2018

Ratskeller


Alte Städte, die ein Rathaus haben, haben häufig auch einen Ratskeller. Und servieren dort Wein. Der Bremer Ratskeller gehört zu den ältesten →Weinkellern Deutschlands. Die haben da Weine, die über dreihundert Jahre alt sind, aber niemand weiß, ob man die noch trinken kann. Der berühmte Rüdesheimer Wein von 1653 lagert in dem sogenannten Rosefass, das schon →Heinrich Heine bedichtete:

Das ist die Rose der Rosen,
Je älter sie wird, je lieblicher blüht sie,
Und ihr himmlischer Duft, er hat mich beseligt,
Er hat mich begeistert, er hat mich berauscht,
und hielt mich nicht fest, am Schopfe fest,
Der Ratskellermeister von Bremen,
Ich wäre gepurzelt!


Friedrich Engels, der seinen Kaufmannsberuf in Bremen erlernte, schreibt in einer seiner frühen Schriften: Vorgestern Abend hatte ich große Knüllität im Weinkeller von zwei Flaschen Bier und zweieinhalb Flaschen Rüdesheimer 1794er. Das Wort Knüllität ist leider ziemlich ausgestorben (das →Grimmsche Wörterbuch kennt es noch), es kommt aus der Studentensprache und heißt nichts anderes als Besäufnis. Eine Knüllität hätte auch Bismarck an seinem siebzigstem →Geburtstag veranstalten können, als ihm die Stadt Bremen siebzig Flaschen der besten Sorten aus dem Ratskeller zukommen ließ. Aber er war gesundheitlich ein wenig angeschlagen: Wenn auch seine Gesundheit ihm leider nicht mehr erlaube, die köstliche Gabe so wie ehedem zu genießen, so werde für schwache Stunden doch der edle Wein ihm ein Tröster sein, ließ Bismarck die Hansestadt wissen.

Als die Amerikaner Bremen besetzten, machten sie aus dem →Rathaus GI Joe’s Number 1 Beer Hall (in Vegesack wurde die →Strandlust zur Beer Hall Number 2). Nicht jedem der Besatzungssoldaten gefiel der Ratskeller: Es gibt einen Ratskeller, der ist ist alt und malerisch. Das einzig ärgerliche ist nur, dass er so düster ist. Wir sagen dazu Leichenschauhaus. Um da mal ein bisschen Leben reinzubringen, haben wir in der letzten Nacht Bierdeckel hoch gestapelt. Ich sage euch: alle Offiziere der 29. Infanteriedivision haben mitgemacht und anschließend war der ganze Boden von Bierdeckeln übersät. 

Der Bremer Ratskeller ist nicht so meine Sache, ich glaube, das ist eher etwas für Touristen. Das sieht dann, wenn man Karl Lerbs (mit dem Schriftsteller wuchs man früher in Bremen auf) vertrauen darf, so aus: Als Konsul Petri seinem Geschäftsfreund von auswärts Bremen zeigen wollte, lotste er ihn zunächst ohne jede Mühe in den Ratskeller. Nach mehrstündigem gründlichen Studium lotste er ihn nicht ganz ohne Mühe wieder heraus, nahm mit ihm am Roland Aufstellung, machte die Position aus und erläuterte seinem Gast die Besonderheiten des Stadtbildes. »Tschä, kuck«, sagte er, »da steht denn dscha nu das Rathaus, wo wir eben unter waren, un da drüben da steht denn dscha der Dom. Wenn das Rathaus nich da stände, wo es steht, denn stände da wohl der Dom, un wo dschetz der Dom steht, da stände denn wohl das Rathaus. Aber das is dscha wohl egal.« Unerwähnt bleibt hier der Bleikeller im Dom. Den besuchen Bremer nie, es sei denn, sie müssen Touristen herumführen. Die dann dort vergebens den →Freiherrn Knigge suchen. Sein Grab war nie im Bleikeller, das ist im Bremer Dom.

Einmal bin ich doch im Ratskeller gewesen, aber das war ein Zufall. Es war kurz nach Weihnachten, als mich Barbara am späten Nachmittag anrief, ich möchte doch ganz dringend nach St. Magnus kommen und darauf vorbereitet sein, am Abend in den Ratskeller mitzukommen. Vor dem Haus hat sie mich abgefangen und mir die ganze Geschichte erzählt, die hinter dem geheimnisvollen Anruf stand. Jemand, mit dem sie im Sommer im Urlaub mal ein bisschen geflirtet hatte, hatte sich offensichtlich große Hoffnungen gemacht. Und war jetzt überraschend, ohne jede Einladung, mit zwei Koffern hier aufgetaucht und wollte sich mit ihr verloben. →Sommer in Lesmona einmal ganz anders. Aber sie konnte den Typen überhaupt nicht ausstehen.

Doch ihr Vater, ein erfolgreicher Arzt, war von dem Herrn begeistert. Das war so ein Mann nach seinem Herzen. Jurist, Verbindungsstudent, noch dazu in einer schlagenden Verbindung. Der Vater war irgendwo in Süddeutschland Gerichtspräsident. Barbaras Vater will jetzt mit der Familie nach Bremen in den Ratskeller, Verlobung feiern. Die Tochter wird nicht gefragt. Du bist doch immer so schön destruktiv, Jay, sagt Barbara. Mach’ alles, um das zu verhindern. Manche Frauen schätzen mich schon richtig ein. Dem Doc und dem Möchtegern Schwiegersohn gefällt das überhaupt nicht, dass ich jetzt so ganz zufällig hier auftauche, aber seine Gattin und Barbara bestehen darauf, dass ich mitfahren soll. 

Dieser Typ ist das, was die Engländer einen nerd nennen würden, blauer Westenanzug, aber wahrscheinlich von C&A. Über seine Schuhe lohnt es sich nicht zu reden, das ist ja nun das erste, worauf die jungen Bremer Gentlemen in diesen Tagen gucken. Im Ratskeller kauft der Doc das hier für die Touristen überall angepriesene Buch von Wilhelm Hauff →Phantasien im Bremer Ratskeller als Geschenk für den eigentlich ungebetenen Gast aus Süddeutschland. Bestellt teuren Wein, süßen Mosel (trinkt damals ganz Deutschland) und die offensichtlich obligaten Käsestangen, die da serviert und als Steckrüben bezeichnet werden. Die gab es übrigens schon für Willem II zur Schildkrötenbouillon.

Ich bin der Außenseiter, ich bestelle mir ein Bier. Den in den fünfziger Jahren in der Bourgeoisie ausgebrochenen Kult mit den angeblichen Weinkenntnissen, wo erstmal bei jeder gesellschaftlichen Zusammenkunft eine Stunde pseudo fachmännisch über den Wein geredet wird, mache ich nicht mit. Dabei kaufen doch alle hier ihren Ratskellerwein (habe ich hier x-mal draußen im Kontor neben dem Denkmal für die →Stadtmusikanten abgeholt) und vertrauen darauf, dass die Qualität stimmt.

Im 19. Jahrhundert mag es in Bremen richtige Weinkenner gegeben haben, aber jetzt? Niemand, der seinen Karl Lerbs gelesen hat, wird die wunderbare Anekdote vergessen, wo zwei gewichtige ältere Herren nach einem männermordenden Festessen (und da fügt Lerbs ein ach, es ist lange her ein) mit einer Brasil im Mund jene sachte Anhöhe am Stadttheater hinuntertrudeln, die der Bremer mit überschwenglicher Selbstironie Theaterberg nennt. Und dann folgt dieser Monolog:

Essen – war dscha gut; will ich nix gegen sagen. Weine – waren dscha tadellos. Aber dass er uns zu’n Käse den 78er Latour gibt, wo ich doch ganz genau weiß, dass er den 81er Lafitte in’n Keller hat – nu bitt ich Sie, was soll das?!

Wenn Sie mehr aus Der lachende Roland von Karl Lerbs lesen wollen, dann klicken Sie →hier. Es lohnt sich immer, Karl Lerbs zu lesen.

Der Abend verläuft dann glücklicherweise genau so, wie Barbara sich das erhofft hat. Mit der tätigen Mithilfe von ihr und ihrer Mutter demontiere ich den potentiellen Schwiegersohn in seinem billigen Anzug. Im Demontieren von anderen ist man gut, wenn man aus einer Kleinstadt kommt. Obgleich der Doc verzweifelte Versuche macht, Brüderschaft zu trinken und die Verlobung anzukündigen, wird aus dem Ganzen nichts. 

Als ich kurz vor zwölf, ein wenig vor den anderen, aus dem Ratskeller in die kalte, aber schöne Winterluft komme, laufe ich direkt in Ingrids kleine Schwester, die mich mit ihren frechen Augen anguckt. Müsste die nicht längst im Bett sein? Zuhause fange ich in der Nacht an, einen Brief an Ingrid in Lyon zu schreiben: Du wirst nicht glauben, was mir heute passiert ist ... Der Jurist reist am nächsten Tag ab, und Barbara ist mir für den Rest des Lebens dankbar. Sie wird wenig später einen netten Kapitän aus Pinneberg kennenlernen, ihn heiraten und mit ihm glücklich werden. Der wäre niemals der Wunschkandidat ihres Vaters gewesen, aber es kommt nicht darauf an, was die Väter wollen. Leben ist Selbstbehauptung, das hat Barbara bewiesen.

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