Sonntag, 29. Juni 2014

Brasilien


Falls Sie das nicht wussten: Brasilien liegt bei Schönberg. Ein Ort namens Kalifornien ist da auch in der Nähe. Und eine Ortschaft namens Grönland gibt es in Schleswig-Holstein auch. Als das Englische Seminar der Uni Kiel vor vielen Jahren eine Reise nach England für zehn Mark anbot, wussten die meisten Teilnehmer, dass wir nach Nordstrand fahren würden. Wir haben im nördlichsten Bundesland nicht nur Brasilien, Kalifornien und England - Rußland haben wir auch, das hat die Postleitzahl 24364. Ein Sibirien gibt es natürlich auch. Das liegt aber nicht neben Rußland, das ist bei Elmshorn. Das kleine Brasilien an der Ostsee hatte in diesen Wochen großen Zulauf von Reportern. Über das große Brasilien reden wir jetzt lieber nicht. Gerade noch einmal davongekommen. Ich habe nach dem Spiel erst einmal Astrud Gilberto aufgelegt. Klicken Sie doch einmal ➱hier hinein.

Mein Freund Ekke hat mir vorgestern einen Cartoon geschickt, den ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Seine Zeichnungen zierten ja schon die Posts ➱Politisch Lied, ➱Schicksalsspiel und ➱Schweine, da darf dieser hier nicht fehlen.


Freitag, 27. Juni 2014

18th century: Grand Tour


I'll make a tour -- and then I'll write it.
You well know what my pen can do,
And I'll employ my pencil too: --
I'll ride and write, and sketch and print,
And thus create a real mint;
I'll prose it here, I'll verse it there,
And picturesque it everywhere.
I'll do what all have done before;
I think I shall -- and somewhat more.


An dieser Stelle hier hat der gute Dr Syntax (der uns schon in dem Post ➱Thomas Rowlandson begegnete) den Weg verloren. Er ist auf einer Bildungsreise durch England, und er will darüber ein Buch schreiben. Auf jeden Fall tut das der etwas weltfremde Schöngeist in dem satirischen Gedicht The Tour of Dr Syntax in Search of the Picturesque: A Poem von William Combe. Combe war in Eton zusammen mit William Beckford zur Schule gegangen, hatte auch eine Grand Tour gemacht (auf der er sich mit ➱Laurence Sterne anfreundete). Hatte ein kleines Vermögen von seinem Patenonkel geerbt. Und verjuxt. Jetzt verdient er sein Geld als hack writer. Am Ende der Reise von Dr Syntax steht die große Enttäuschung: der Buchhändler will das Manuskript unseres guten Dr Syntax nicht haben:

A Tour, indeed! - I've had enough
Of tours and such like flimsy stuff.
What a fool's errand you have made
(I speak the language of the trade),
To travel all the country o'er,
And write what has been writ before!
We can get Tours - dont make wry faces,
From those who never saw the places.
I know a man who has the skill
To make you books of Tours at will;
And from his garret in Moorfields
Can see what ev'ry country yields;
So, if you please, you may retire,
And throw your book upon the fire:
You need not grin, my friend, nor vapour;
I would not buy it for waste paper!

William Combes Gedicht ist anfangs des 19. Jahrhunderts entstanden, offensichtlich ist die Reiseliteratur schon zu einer Plage für die Verleger geworden. Der Engländer des 18. Jahrhunderts bewegte sich im Durchschnitt in seinem Leben wohl kaum weiter als zehn Meilen über seinen Wohnort hinaus, aber jede Statistik hat ihre Ausnahmen: die Engländer entdecken jetzt das Reisen.

Zuerst bleiben sie in ➱England, besuchen dort landschaftlich schöne Gegenden (und Schlösser und country houses): Cornwall, Wales, Schottland und den ➱Lake District. Nachdem William Gilpin, der Erfinder des Pittoresken, 1770 sein Buch Observations on the River Wye and several parts of South Wales, etc. relative chiefly to Picturesque Beauty veröffentlicht hatte, setzte in England ein ungeahnter ➱Tourismus in das Wye Tal ein. Das Bild von David Cox zeigt Goodrich Castle, das Gilpin in seinem Buch als correctly picturesque bezeichnet hatte. Für Wordsworth waren die Reste des Schlosses the noblest ruin in Herefordshire. Der gleichzeitig mit der englischen Reiselust ausbrechende englische Ruinenkult hat hier ein ideales Ziel gefunden.

Wenn man nicht die pittoresken Naturschönheiten sucht, besucht man mit Vorliebe die Wohnsitze toter und lebender Dichter. Der Stratford Upon Avon Tourismus, den es heute noch gibt, beginnt jetzt. Es beginnt auch der Tourismus zu den Häusern berühmter Zeitgenossen. Da bietet sich jemand wie Horace Walpole mit seinem gotischen Schloss Strawberry Hill natürlich als Reiseziel an: The first time a company came to see my house, I felt ... joy. I am now so tired of it, that I shudder when the bell rings at the gate. It is as bad as keeping an inn, and 1 am often tempted to deny its being shown, if it would not be ill-natured to those that come, and to my housekeeper, schreibt Horace Walpole 1769.

Der housekeeper verdient offensichtlich ganz gut an den Trinkgeldern der vielen Besucher. Aber die hoi polloi, die ständig etwas kaputt machen, werden Walpole mit der Zeit sehr lästig: Two companies had been to see my house last week, and one of the parties, as vulgar people always see with the end of their fingers, had broken off the end of my invaluable eagle's bill, and to conceal their mischief, had pocketed the piece. It is true it had been restored at Rome, and my comfort is, that Mrs. Damer can repair the damage; but did the fools know? It almost provokes me to shut up my house, when obliging begets injury. Die hier angesprochene ➱Mrs Damer ist übrigens Walpoles Cousine, sie kann den antiken Adler (der ja schon beim Kauf in Rom nicht mehr ganz frisch war) offensichtlich retten.

Das beste Buch zu dem Thema des beginnenden Tourismus in England ist nach beinahe einem Vierteljahrhundert immer noch Ian Ousbys The Englishman's England: Taste, Travel and the Rise of Tourism, das 1990 bei seinem Erscheinen wirklich revolutionär war. Das Buch kostet beim englischen Amazon Marketplace so gut wie nichts, im deutschen Amazon Marketplace wird es für 232 Euro angeboten. Für das Geld kann man schon mit Germanwings nach London fliegen.

Sind Briten hier - sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen,
das wäre hier für sie ein würdig Ziel....

Goethe kannte die Reiselust der Engländer, als er sie im zweiten Teil des Faust ein wenig persiflierte. Die Grand Tour (die sogar mal einen guten Wikipedia Artikel besitzt) wird im 18. Jahrhundert für die englische upper class zu einer Pflichtübung. Die Literatur, die zu dieser Cavaliersreise geschrieben wurde, ist beinahe unübersehbar geworden. Den besten Einstieg in das Thema bietet immer noch Christopher Hibberts Buch The Grand Tour. 256 Seiten, reich illustriert, es war später eine Sendung von ITV (die es aber leider nicht auf DVD gibt). Und wie immer bei Hibbert, den J.H. Plumb einen writer of the highest ability und der New Statesman a pearl of biographers genannt haben, ist das Buch sehr gut geschrieben. Eine Ergänzung zu dem Buch bietet Jeremy Blacks Buch The British Abroad: The Grand Tour in the Eighteenth Century. Nicht so leicht zu lesen, aber detaillierter in Fragen der Reiserouten, der Kosten und der Transportmittel (den Gran Tourismo kennt man noch nicht), sich reichhaltig aus allen Zeugnissen der Reiseliteratur bedienend. Kunsthistorisch interessanter als dieses Buch ist allerdings der Katalog von Andrew Wilton, Grand Tour: The Lure of Italy in the Eighteenth Century (Tate Gallery 1996).

Denn die Briten reisen nicht nur zu Wasserfällen, gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen, sie schreiben wie unser Dr Syntax auch über die Reise. Einer von ihnen ist William Beckford (der ➱hier natürlich schon einen Post hat). Er ist Anfang zwanzig, als er seine Bildungsreise durch Europa beginnt, mit dreiundzwanzig schreibt er einen Schauerroman namens Vathek. Angeblich in drei Tagen. Und das auch noch auf Französisch, musste ins Englische zurückübersetzt werden. Das macht ihn berühmt. Noch berühmter macht ihn der Bau von Fonthill Abbey (hier von Turner gemalt), dem größten Bau der Neugotik in England. Der Turm sollte 137 Meter hoch werden, höher als der Turm der Kathedrale von Salisbury, stürzt aber zweimal ein, als man die 90 Meter erreicht hat. Wenn er Jahre später das dritte Mal einstürzt, wird er das ganze gotische Monster unter sich begraben.

William Beckford (hier nach seiner Rückkehr von der Grand Tour von ➱Romney gemalt) kann sich Fonthill Abbey (von vielen Beckford's Folly genannt) leisten, er ist unermesslich reich. Hat eine Million Pfund Sterling geerbt, man muss es mit hundert multiplizieren, dann hat man ungefähr den heutigen Wert. Beckford hat niemals eine Schule besucht, hatte immer nur Hauslehrer. Im Bereich der Kunst sind das der Architekt Sir William Chalmers und der Maler Alexander Cozens, die den Grundstein für die Kennerschaft des Kunstsammlers Beckford legen. Das Buch Dreams, Waking Thoughts and Incidents versammelt die Reisebriefe der frühen 1780er Jahre, es zeigt einen wachen Geist. Das Buch ist heute noch immer frisch und kein bisschen modrig.

Beinahe hätte es dieses Buch nie gegeben, Beckford hat alle fünfhundert Exemplare der Erstausgabe von 1783 vernichtet. Weil sie seiner Meinung nach zu viel von seinem Innersten öffentlich machten. Wir sind heute ja dankbar, dass dieser Buchvernichtung fünf Exemplare entkommen sind. Aus einem dieser Texte und den Beckford Papers in der Bodleian Library hat der Herausgeber diesen Text ediert. Man kann dafür nur dankbar sein. Eine kleinere Auswahl der Texte hat Elizabeth Mavor (die das wunderbare Buch The Ladies of Llangollen: A study in Romantic Friendship schrieb) bei Penguin herausgegeben. Man kann die Reiseimpressionen Beckfords dank der Beckfordiana Website auch im ➱Internet lesen.

Die von Edmund Burke in A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful formulierte Ästhetik des Naturerlebnisses, verbreitet sich im 18. Jahrhundert ebenso wie der Tourismus der Engländer. Auf seiner Grand Tour sucht der englische Reisende am Rhein, in den Alpen und in Italien die Kategorien von Sublime & Beautiful und des Pittoresken zu finden. Das Erlebnis der Landschaft wird ästhetisch normiert, am Ende dieser Entwicklung steht der Baedeker und die Ansichtskarte von der schönen Natur. Wenn Sie dem Cicerone Jay bis hier gefolgt sind, dann lesen Sie doch jetzt noch den Post ➱Ästhetik. Da gibt es auch etwas Lustiges zum Schluss.

Die Umwertung der Landschaft - im 17. Jahrhundert hatten ➱Berge noch nichts Majestätisches, sondern wurden als Warzen auf dem Angesicht der Erde betrachtet - im 18. Jahrhundert ist eine der interessantesten Bewegungen der europäischen Ästhetik und Kulturgeschichte. Sowohl in der Landschaftsmalerei als auch in der Literatur. Es gibt zu diesem Thema inzwischen Literatur, die aufgetürmt schon kleine Bücherberge bildet. Aber alle Studien beziehen sich auf zwei Bücher, auf das Buch der Professorin Elizabeth Wheeler Manwaring vom Wellesley College aus dem Jahre 1925 und auf Marjorie Hope Nicolsons Mountain Gloom and Mountain Glory aus dem Jahre 1959. 400 Seiten voller Bildung, immens gut zu lesen. Dank der Weyerhaeuser Foundation ist das Buch, das lange vergriffen war, seit zehn Jahren wieder erhältlich.

Wenn wir unser Verhältnis zur Natur verstehen wollen (und das gilt auch für die neue Richtung des ecocriticism) kommen wir an diesem Buch nicht vorbei. Auch Simon Schama gibt das in seinem großartigen Landscape and Memory unumwunden zu. Er lässt auch die Anekdote mit ➱Horace Walpole und seinem Hund nicht aus. Der kleine fette Schoßhund von Walpole, ein Spaniel namens Tory (was ja ein passender Witz für den Sohn eines Premierministers ist, der den Whigs angehört) wird in den Alpen von einem Wolf gefressen, kaum dass Walpole ihn mal ein paar Schritte watscheln lässt. Da kann man das sublime gar nicht mehr richtig genießen. Der Reisebegleiter von Walpole, Thomas Gray, bemerkt hierzu, dass es ein odd accident enough gewesen sei. Er ist dreiundzwanzig und war mit Walpole in Eton. Er ist noch nicht der berühmte ➱Dichter, der er eines Tages sein wird. Sonst hätte er bestimmt sofort ein Gedicht auf den Tod des kleinen fetten Spaniels geschrieben

Wenn die Reisenden in Italien angekommen sind, warten schon italienische Händler und geschäftstüchtige Landsleute (zum Beispiel Maler wie Gavin Hamilton) auf sie, um ihnen Kunst zu verkaufen. Nicht alles ist echt, Claude Lorrain und Salvator Rosa, die bei den Engländern begehrt sind, haben nie so viel Bilder gemalt, wie jetzt an die finanzkräftigen Briten verkauft werden. Die reisen ja auch nicht gleich wieder ab, sodass auch italienische Schneider noch Zeit haben, ihnen einen neuen Anzug zu machen. Am liebsten haben die Engländer Orte, in denen ihre Landsleute schon einen Club gegründet haben. In Rom wird es sogar eine Akademie der englischen Maler geben.

Elizabeth Wheeler Manwarings Buch Italian landscape in eighteenth century England: a study chiefly of the influence of Claude Lorrain and Salvator Rosa on English taste, 1700-1800 bleibt nach beinahe neunzig Jahren die klassische Studie zu dem Thema der englischen Geschmacksbildung durch ➱Lorrain und Rosa. Hier auf Salvator Rosas Bild ist eine Szene aus der klassischen Mythologie, aber er bevölkert seine Bilder auch gerne mit banditti. Solche Bilder kaufen die Engländer bevorzugt, der kleine ästhetische Schrecken, den die Kategorie des sublime von Edmund Burke verspricht, macht sich zu Hause gut an der Wand.

Statt Kunst zu kaufen, kann man sich natürlich auch in Italien malen lassen. Wie hier der schottische Colonel William Gordon. Offensichtlich reichten ihm die pittoreske Szenerie Schottlands und die schottischen Maler nicht aus, es musste Pompeo Batoni sein, der ihn malt. Ein wenig lächerlich wirkt das Ganze schon, vor allem der wie eine Toga drapierte Tartanstoff. Nicht nur italienische Maler profitieren von dem Touristenstrom, die Italiensehnsucht hat auch viele englische und deutsche Maler (wie zum Beispiel ➱Anton Raphael Mengs oder ➱Angelika Kauffmann) nach Italien gezogen.

Und natürlich werden die Amerikaner wie Benjamin West oder John Singleton auch den Weg in das Land der Klassik finden. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass unser deutscher Dichterfürst Auch ich in Arkadien! als Motto über seine Italienische Reise geschrieben hat. Und der gute ➱Tischbein hat den Dandy Goethe ja auch schön auf einer Couch in der Campagna drapiert - Klassik ist Inszenierung, ob für Colonel Gordon oder Goethe. Oder für den Baron de Dunstanville, der sich hier mit antiken Dekorationsstücken umgibt. Die nicht einmal wirklich antik sind, die Engelsburg und den Petersdom des Hintergrunds, die gibt es natürlich. Der Rest ist freie Phantasie von Pompeo Batoni.

Den Hintergrund dieses Bildes hatte der Erfinder des Touristenportraits Pompeo Batoni schon einmal für ein Bild mit Diana und Cupid verwendet. Nun setzt er statt dieser mythologischen Figuren einen Engländer mit seinen Hunden ins Bild, der sich hier als Landedelmann gibt. Der Herr heißt Sir Humphry Morice und ist der Governor der Bank of England. Es ist, was Pompeo Batoni bei seiner Arbeit nicht weiß, das Portrait eines Kriminellen. Der Baronet Humphry Morice wird Millionen in seine eigene Taschen scheffeln und Selbstmord begehen, als der ganze Schwindel auffliegt. Nicht alle Gentlemen auf den Bildern von der Grand Tour sind wirkliche Gentlemen.

Die junge englische Kunsthistorikerin Vicci Coltman hatte von der Henry Moore Stiftung 30.000 Pfund als post-doctoral research grant bekommen. Die Stiftung und das Courtauld Institute können mit dem Ergebnis Classical Sculpture and the Culture of Collecting in Britain Since 1760 zufrieden sein, denn es ist schon etwas sehr Substantielles dabei entstanden. Nicht alles in dem Buch ist freilich neu, da die Verfasserin wenige Jahre zuvor ein Buch mit dem Titel Fabricating the Antique: Neoclassicism in England, c. 1763- c. 1835 herausgebracht hatte. Was eine erweiterte Version ihrer Dissertation am Courtauld Institute war.

Classical Sculpture and the Culture of Collecting in Britain Since 1760 ist dem Klassiker zur Sammlertätigkeit von Francis Haskell und Nicholas Penny Taste and the Antique: The lure of classical sculpture 1500-1900 sehr ähnlich, konzentriert sich allerdings nur auf das 18. Jahrhundert in England. Obgleich das Buch sicher auch die einzelnen Skulpturen würdigt, liegt das Hauptinteresse der Autorin darauf, eine Sozialgeschichte der culture of collecting zu schreiben. Dieses Bild von Thomas Patch, dem Landschaftsmaler und Karikaturisten der englischen Bildungstouristen, musste ich mal eben einfügen. Beachten Sie bitte den Künstler ganz links.

In Classical Sculpture and the Culture of Collecting in Britain Since 1760 werden natürlich die großen Sammler wie Charles Townley und Lord Lansdowne gewürdigt, ebenso wie die Maler und Händler Gavin Hamilton und Thomas Jenkins (hier auf dem Portrait von Angelika Kauffmann), die jetzt von Rom aus die englische upper class mit mehr oder weniger echtem antikem Marmor und Gemälden versorgen. Für Kunsthistoriker, die sich mit dem 18. Jahrhundert beschäftigen, ist es sicher ein Muss, aber auch für den gebildeten Laien gibt das Buch ein faszinierendes Bild der englischen Oberklasse, die jetzt dem Neoklassizismus verfallen ist. Und an dieser Stelle könnten Sie jetzt noch die Posts lesen, die ➱Joseph Nollekens und ➱David Hume heißen. Dort steht noch mehr zu diesem Thema.

Kultur und Geschmack, das will die neue Klasse des 18. Jahrhunderts, die in vielem die Aristokratie und gentry imitiert, jetzt gerne haben. Wobei der Geschmack eine völlig neue Kategorie ist, so wie das Wort taste jetzt verwendet wird, ist es zuvor nicht verwendet worden. Das Oxford English Dictionary definiert taste unter der Bedeutung Nummer 8 als:

a. The sense of what is appropriate, harmonious, or beautiful; esp. discernment and appreciation of the beautiful in nature or art; spec. the faculty of perceiving and enjoying what is excellent in art, literature, and the like. b. Style or manner exhibiting æsthetic discernment; good or bad æsthetic quality; the style or manner favoured in any age or country. Und die Belege - wie Gilpins Satz There is a fine taste in his landskips - kommen alle aus dem 18. Jahrhundert. Dies ist das Jahrhundert, in dem England zu einem Weltreich wird. In dem eine bürgerliche Schicht sich ohne eine Revolution das aneignet, was einst der Aristokratie eigen war: Geld und Besitz, Stil und Kultur. Glücklicherweise gibt es Maler wie Thomas Patch (von dem hier die fünf Bilder vom Colosseum abwärts sind), die das Ganze sehr satirisch sehen.

Denn nicht alle sind bei ihrer Italienreise auf der Suche nach der klassischen Schönheit, deren vorzügliche Kennzeichen eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke sind. Nach der Definition des vierten Earl of Orford (den wir natürlich besser als Horace Walpole kennen) ist die berühmte Society of the Dilettanti nichts als a club, for which the nominal qualification is having been in Italy, and the real one, being drunk: the two chiefs are Lord Middlesex and Sir Francis Dashwood, who were seldom sober the whole time they were in Italy.

Betrunkene Engländer rund um das Mittelmeer? Das kennen wir doch irgendwie. Walpole steht mit seiner Meinung nicht allein, auch Lord Chesterfield oder Adam Smith, der seine Professur in Glasgow sausen lässt, um den Herzog von Buccleuch (das ist der, den ➱Gainsborough mit dem Wauwi gemalt hat) zu begleiten, sind sehr skeptisch über die Ergebnisse der Bildungsreise. Zurückhaltend resümiert Professor ➱William Edward Mead vor hundert Jahren in The Grand Tour in the Eighteenth CenturyAmong the swarms of English tourists in France and Italy, young men of character and ability were not lacking, but far too many of those who passed three years on the Continent returned little wiser than when they first crossed the Channel. 

With a pupil of the latter type, inclined to be headstrong and wayward, a conscientious tutor of some parts must at times have found his position the reverse of agreeable. He was bound to participate to some extent in the amusements of his charge or see the young fellow pass out of his control. But if the pupil's interests were mainly centered in drinking and gaming and association with loose women, the situation was difficult indeed. 

A more attractive position was that held by the witty Dr. John Moore, who for six years went up and down the Continent as medical attendant and companion to the wealthy young Duke of Hamilton. But such opportunities were necessarily exceptional. Auch Dr John Moore, einer der interessantesten Zeitzeugen dieser Epoche, wird den Erfolg der Bildungsreisen sehr kritisch beurteilen: There are instances of Englishmen, who, while on their travels, shock foreigners by an ostentatious preference of England to all the rest of the world, and ridicule the manners, customs, and opinions of every other nation; yet on their return to their own country, immediately assume foreign manners, and continue during the remainder of their lives to express the highest contempt for everything that is English. Hier auf dem Bild von Gavin Hamilton ist er links vom Herzog von Hamilton zu sehen. Der junge Mann rechts auf dem Bild ist sein Sohn John, der gerade als Fähnrich in die englische Armee eingetreten ist. Wenig später wird er im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kämpfen. Er wird dreißig Jahre später als General in Spanien sterben, nachdem er eine Armee Napoleons besiegt hat.

Es ist eine kleine englische Oberschicht, die sich auf eine Jahre dauernde Grand Tour begeben kann, die meisten Engländer werden im 18. Jahrhundert Paris und Rom nicht sehen. Vielleicht reicht es bei ihnen gerade einmal zu der Wye Tour. Bei denen verläuft eine Woche im Juli 1756 vielleicht eher so:
     Thurs. 22 July... Never, never was money so scarce as now. We came home about 8 o’clock. As we went along, we laid 1lb. of gingerbread concerning the length of the church field footway. I laid it were 38 rods, and he that it was not. So accordingly as we came home, we measured it and found it to be 39 rod and 3 feet, so that I won this great but innocent wager. This day Mr. Porter’s daughter was baptized by the name of Elizabeth.
Fri. 23 July. In the morn Mr. French and the keeper drawed the pond before our door and made us a present of a brace of carp. Afterwards we went down to the church to take Peter Adams’s bond out of the chest in the church to ask Mr. Poole’s advice on it. We went into Jones’s and spent 5d. apiece. Dined on a piece of pork and peas with a baked beggar’s pudding.
Sun. 25 July. … This day I had a sailor at the door who asked charity (and whom I relieved), who could speak 7 tongues.

Das können wir in dem Tagebuch von Thomas Turner lesen, der einen kleinen Laden in East Hoathly in Sussex besitzt, gerne ➱Cricket spielt und sogar The Gentleman's Magazine liest. Es ist eine faszinierende Lektüre. Von Thomas Turners Tagebuch aus den Jahren 1754 bis 1765, von dem Teile zuerst einhundert Jahre später veröffentlicht wurden, gibt es eine Vielzahl von Ausgaben. Ich habe den von David Vaisey edierten Text, der bei der Oxford University Press erschienen ist. Noch mehr Ausgaben gibt es von James Woodforde Tagebüchern. Ich glaube, jede Ausgabe von The Diary of a Country Parson reicht aus (es gibt ➱hier kleine Auszüge). Beide Tagebücher erinnern uns daran, dass England im 18. Jahrhundert ein vom Landleben bestimmtes Land ist. Das Land hat zur Jahrhundertmitte vielleicht fünf Millionen Einwohner, die meisten leben im Süden. Die Liebe zum Landleben wird die Engländer nie verlassen. Und Bücher über das Landleben - von Thomas Turners Diary über Francis Kilverts Diary bis Ronald Blythes Akenfield - werden in England immer gelesen. Das schöne Bild vom Landleben (A Windy Day von George Morland) datiert aus den 1790er Jahren.

Ich mag das Tagebuch von Thomas Tuner lieber als das von Woodforde, da steht weniger über Moral und den Glauben drin, dafür mehr über das wirkliche Leben der kleinen Leute. Und natürlich über Cricket. Aber ich habe eine schöne Ausgabe von The Diary of a Country Parson mit einem hervorragenden Vorwort von Roland Bylthe und schönen Aquarellen der Norwich School. Die kann man noch sehr preisgünstig antiquarisch finden.


Donnerstag, 26. Juni 2014

Peter Lorre


Höre, wir rufen Dich zurück. Verjagter
Jetzt sollst Du wiederkommen. Aus dem Land
Da einst Milch und Honig geflossen ist
Bist Du verjagt worden.
Zurückgerufen
Wirst Du in das Land das zerstört ist.
Und nichts anderes mehr
Können wir Dir bieten, als dass Du gebraucht wirst.

Arm oder reich
Krank oder gesund
Vergiss alles und komm!

Der Mann, der hier von Bertolt Brecht gerufen wird, hatte 1933 Deutschland verlassen. Hatte Goebbels noch ein Telegramm geschickt, in dem er auf seine Rolle in dem Film M anspielte: Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist in Deutschland kein Platz. Peter Lorre wurde heute vor 110 Jahren geboren. Am liebsten ist er uns allen als ➱Dr. Herman Einstein in Arsen und Spitzenhäubchen (Arsenic and Old Lace). Mein Freund Ekke hatte in den fünfziger Jahren diesen Film als erster von uns gesehen. Er hat mir den ganzen Film erzählt. Immer nach dem Sport, wenn wir vom Sportplatz den kleinen Berg der Poststraße hinauf zu Schule gingen. Er konnte den Film beinahe auswendig und spielte beim Gehen alle Rollen. Jede Woche. Je langsamer wir gingen, desto mehr bekam ich vom Film erzählt. Es hat Wochen gedauert, bis ich den Film kannte. Bis Martha Brewster Are you leaving, Doctor? sagt, und Peter Lorre Yes, please antwortet. Und der Film mit den Worten endet: Ich bin kein Taxifahrer, ich bin eine Kaffeekanne!

Heute kann man jederzeit eine DVD einlegen. Aber das ist nicht dasselbe. Die Kunst des Filmerzählens erscheint noch nicht ganz ausgestorben, inzwischen gibt es für diese Art der Ekphrasis schon ein Festival des nacherzählten Films. Aber so nett das alles ist, Peter Lorre kann man nicht imitieren, auch wenn er gesagt hat: All that anyone needs to imitate me is two soft-boiled eggs and a bedroom voice. Doch das war wohl kaum ernst gemeint. Peter Lorre ist unnachahmlich, wenn er Hans Beckert in M ist und nachts durch die Straßen zieht: Immer muss ich durch Straßen gehen, und immer spür’ ich, es ist einer hinter mir her. Das bin ich selber! Manchmal ist mir, als ob ich selbst hinter mir herliefe! Ich will davon, vor mir selber davonlaufen, aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen! (…) Wenn ich’s tue, dann weiß ich von nichts mehr… Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe. Das habe ich getan? Klicken Sie mal ➱hier.

Den Ankläger des Kindermörders vor dem Volksgerichtshof der Verbrecher spielt Gustav Gründgens. Elegant mit Melone und schwarzem Ledermantel. Wenig später werden schwarze Ledermäntel für Verbrecher chic werden. Und Juden wie Peter Lorre werden auf der Anklagebank sitzen. Aber da ist Lorre schon in Hollywood. Weil er ja mit dem Satz recht hatte: Für zwei Mörder wie Hitler und mich ist in Deutschland kein Platz. Die Verteidigungsrede, die der Kindermörder Hans Beckert vor dem Tribunal der Unterwelt hält, wird 1940 in den Film Der ewige Jude wandern. Als Beweis für die Minderwertigkeit der Juden.

Dienstag, 24. Juni 2014

Precision Class


Die Uhr, die Thomas Mudge 1770 für seinen König baute, hatte eine große Unruh. Uhrmacher schworen damals auf langsam schwingende, große Unruhen. Hier eine Unruh von einem pocket chronometer von John Arnold (der auch Uhren für George III gebaut hat); die seltsame Form, mit der man den Gang regulieren kann und Schwankungen der Temperatur kompensieren will, beachten wir mal eben nicht. Arnold hat mit verschiedenen Typen der Unruh experimentiert, dies ist eine vom Typ 0Z.

Im Laufe der Zeit sind die Schwingungszahlen der Unruh immer weiter gestiegen, genügten vor hundert Jahren 18.000 Halbschwingungen in der Stunde, so war man vor vierzig Jahren stolz auf Schnellschwinger, die es auf 36.000 A/h brachten. Und die natürlich eine ganz kleine Unruh hatten. Ich illustriere das hier mit der zwergenhaft kleinen Unruh in dieser Longines. Das Werk kam von der ETA und wurde auch an andere Uhrenhersteller geliefert. Nach der Schnellschwinger Euphorie der siebziger Jahre haben heute alle Uhrwerkshersteller die Schnellschwinger aufgegeben, einzig Zenith verwendet die 36.000 A/h noch in seiner El Primero (das Werk tickte ja auch Jahrzehnte lang in den ➱Rolex Chronographen).

Aber für die Konstrukteure, die Werke bauten, die alle Werte der Chronometerprüfung bei den jährlichen Präzisionswettbewerben weit unterboten, war das Ziel immer eine schöne große Unruh. Das hier ist eins der ästhetisch schönsten Handaufzugswerke, die in der Schweiz gebaut wurden. Es ist das berühmte 13-linige Kaliber 135 von Zenith, das 1948 auf den Markt kam. Nur das Kaliber Peseux 260, das von verschiedenen Firmen für Chronometerwettbewerbe verwendet wurde, reichte an dieses Werk heran. Die ungewöhnliche Konstruktion des Kaliber 135 mit einer indirekten Minute erlaubte die Verwendung einer sehr großen Unruh und eines großen Federhauses: ein Garant für einen stabilen Gang. Die Breguet Spirale ist vielleicht bei einer Glucydur Unruh überflüssig, aber in der traditionellen Horlogerie hielt sie sich noch sehr lange. Die Kurvenscheibe für die Feinregulierung hatte Zenith bei seinen Taschenuhren schon immer verwendet. Das Zenith Kaliber 135 gab es auch in einer Version, die nicht als Chronometer geprüft war, diese Uhren trugen den Namen Zenith 2000.

Die Uhrenhersteller haben immer gewusst, das ein 13-liniges Werk (also ein Werk mit 30 mm Durchmesser) die ideale Größe eines Armbanduhrwerks war. Omega hatte sein 30T2, das alle Präzisionsrekorde hielt - und das auch noch nach siebzig Jahren sehr gut gehen kann. Das AS 1130 (das man auch Wehrmachtswerk nannte, weil es in allen Uhren der Wehrmacht war, die keine Manufakturuhren waren) verdankte seinen Ruf seiner Größe, wie auch das Zenith 135 oder das Peseux 260. Die natürlich in einer anderen Klasse tickten. Selten ging man über die 30mm Norm hinaus, wie zum Beispiel hier in dem 14-linigen Eterna Kaliber 852. Das auch in Uhren verbaut wurde, die am Arm von tschechischen Piloten ihren Weg in die Royal Air Force fanden.

Es hat die Bauweise einer Taschenuhr, mit Kronrad und Sperrrad unter einer Brücke (was Stabilität garantiert) und nicht à vue. Eterna hat bei seinen Handaufzugswerken lange auf diese klassische Bauweise gesetzt, die bei der IWC mit dem Kaliber 83 aufgegeben wurde. Die Konstruktion des Zenith mit der indirekten Minute ist nicht unbeobachtet geblieben, die Eterna (und wenig später die ETA) ging in der Mitte der fünfziger Jahre zu einer ähnlichen Konstruktion über, um eine große Unruh verwenden zu können (ein Jahrzehnt später gab es das in der Glashütte Spezimatik auch). Dass man eine große Unruh heute immer noch bauen kann, zeigt dieses schöne Werk von Volker Vyskocil.

Die Unruh des Eterna Kalibers 852 hat übrigens einen Durchmesser von 13,5 mm - das Zenith 135 kommt sogar auf 14 mm - das erreichen manchmal kleine Taschenuhren nicht. Dieses Bild hätte nicht unbedingt sein müssen, das ist ein Citizen Chronometer mit einem 13-linigen Werk (und 31 Steinen!). 1963 hatte die Schweiz der Firma Seiko 63 zum ersten Mal erlaubt, an einem Wettbewerb für Chronometer teilzunehmen. Wenige Jahre zuvor waren Seiko und Citizen noch nicht in der Lage gewesen, eigene Uhrwerke zu bauen. Jetzt sind sie bei den Chronometern mit dabei. Mit einem Werk, zu dem man nur sagen kann: form follows function. Oder: potthäßlich.

Statt weiterhin 30mm Werke zu bauen, konstruierte man gegen besseres Wissen immer kleinere (und flachere) Werke. Weil man die auch in Damenuhren und rechteckige Uhren einschalen konnte. Die natürlich niemals die Ganggenauigkeit und Langlebigkeit eines großen Werkes erreichen konnten (das Patek Kaliber 10-200 ist nur neun Millimeter größer als die Unruh der Zenith!). Hier noch einmal das Zenith Kaliber, diesmal in ungewohnter Form. Es war nie in einem Uhrengehäuse, es steckte in einem hölzernen Gehäuse und wurde bei einem Chronometer Wettbewerb eingereicht. Das erklärt auch die ungewöhnliche Form der Feinregulierung (mit der man auch ➱Abfallfehler korrigieren kann) und die fehlende Stoßsicherung. Viele Manufakturen glaubten noch in den fünfziger Jahren, dass eine Stoßsicherung den Gang verschlechtern würde. Bei einer Uhr, die nur zu einem Chronometer Wettbewerb geschickt wird, ist eine Stoßsicherung natürlich unnötig, sie ist keinen Alltagsbelastungen ausgesetzt. Weshalb die Uhr allerdings keine Glucydurunruh sondern eine bimetallische Kompensationsunruh hat, das wird nur der Regleur wissen.

Dies Uhrwerk hier ist nicht in der Schweiz gebaut worden, es tickt in einer russischen Wostok. Oder auch in einer Wolna, was nur ein weiterer Markenname der Uhrenfabrik Tschistopol ist (ab Mitte der sechziger Jahre verwendete Wostok einheitlich den Namen Wostok), die 800 km östlich von Moskau liegt. Das linke Werk ist vergoldet, das rechte vernickelt - das macht keinen Unterschied, obgleich das Gerücht geht, dass die vergoldeten besser sind. Man sieht auf den ersten Blick zwei Dinge: das Kaliber 2809 der Firma Wostok ist dem Kaliber 135 der Firma Zenith sehr ähnlich. Und zum zweiten: der Grad der Feinbearbeitung ist bei Zenith höher. Was man auf den ersten Blick nicht sieht, ist dass man das 22-steinige Wostok Werk leicht umkonstruiert hat, sodass es jetzt eine Zentralsekunde statt der kleinen Sekunde hat.

Man kann bei dieser Detailaufnahme von Unruh und Feinregulierung des Wostok Werkes sehen, dass es bessere Qualitäten als dieses Werk gibt. Der Unruhkloben ist nicht angliert, und man kann der Kurvenscheibe schon beinahe ansehen, dass sie wackelt. Ich sage das, weil ich das Kaliber 2809 von oben und unten kenne. Ein freundlicher Händler hat mir mal eine ganze Pappschachtel dieser Werke geschenkt. Die werden sorgfältig in einer Schublade als Ersatzteile gehortet. Obgleich dieses Werk das Spitzenprodukt der russischen Uhrenindustrie war, ist die Verarbeitung doch eher rustikal. Klicken Sie zum Vergleich noch mal eben das ➱Zenith Werk an.

Das Poljot 2809 ist nicht das einzige Werk in russischen Uhren, das außerhalb Russland konstruiert wurde. Sammler erkennen bei diesem Sarja (Swjesda) 2602 der Ersten Moskauer Uhrenfabrik sofort das berühmte, von André Donat konzipierte Lip T18, das von 1933 bis 1949 in Besançon produziert wurde. Der Franzose Fred Lipman hatte den Russen in den dreißiger Jahren die Baupläne für dies Werk (und andere wie zum Beispiel das Kaliber R26 und das Taschenuhrkaliber R43) verkauft. Als die Deutschen 1939 Besançon besetzten, verlor die russische Uhrenindustrie einen ihrer wichtigsten Zulieferer.

Die Rechteckuhren von Lip mit dem T18 Kaliber können sehr formschön sein. Ich habe genau dieses Modell in Edelstahl, allerdings mit schwarzem Zifferblatt. Ist nach beinahe achtzig Jahren immer noch cool. Es sind heutzutage viele der Rechteckuhren der Firma Lip (häufig unter dem Modellnamen Churchill) auf dem Markt. Aber das sind meistens Repliken, die ein billiges Quarzwerk von Ronda besitzen.

Seit ihren Gründungstagen hatte die Sowjetunion versucht, eine eigene Uhrenproduktion auf die Beine zu stellen. Vor der Revolution war der russische Uhrenmarkt fest in Schweizer Hand. Für die Firma Tissot war Russland das Kerngeschäft, Paul Buhré (hier eine goldene Uhr dieser Firma) hatte sich sogar in Pawel Buhré umgenannt und besaß seit 1815 ein Geschäft in Petersburg. Und der junge ➱Blaise Cendrars hatte vor der Revolution bei dem Schweizer Juwelier und Uhrmacher Henri Albert Leuba in St. Petersburg gearbeitet.

1922 war die Aviapribor, ein Zusammenschluss für feinmechanische Geräte, speziell elektromechanischer Geräte für Flugzeuge gegründet worden, 1924 die MEMZ (Moskauer Elektro-Mechanische Betrieb). Die MEMZ soll jetzt die Industrie mit elektrischen Uhren, Weckern und Wanduhren versorgen. Wozu man den Wecker Bravo der deutschen Firma Junghans kopiert und als russischen B-1 Wecker anbietet. 1927 beschließt man die Gründung der 1. Staatlichen Uhrenfabrik (1 ГЧЗ), wo pro Jahr 1,5 Millionen Wanduhren, 400.000 Wecker und 45.000 elektrische Zeitmesser entstehen sollen. Planziele sind auf dem Papier immer schön. 1930 wird die MEMZ in Slawa (Zweite Moskauer Uhrenfabrik) umbenannt. Uhrmacherisch ist man noch Lichtjahre von den Schweizer Produkten aus der Zeit vor der Oktoberrevolution entfernt, die stolz den russischen Doppeladler trugen.

Inzwischen hatte die Amerikanskoe Torgovlye in den USA zwei Uhrenfabriken gekauft (die Dueber Hampton Watch und die Ansonia Clock Company), die demontiert und nach Russland verschifft wurden (Verhandlungen mit einer Schweizer Fabrik hatten sich in letzter Minute durch den Einspruch der Schweizer Regierung zerschlagen). Die Maschinen der  amerikanischen Fabriken wurden in Moskau unter der Anleitung von sechzig amerikanischen Uhrmachern wieder aufgebaut. Am dreizehnten Jahrestag der Oktoberrevolution konnte man voller Stolz die ersten fünfzig Taschenuhren vom Typ 1 an Parteifunktionäre liefern. Man hatte auch in Deutschland erfolglos versucht, eine Uhrenfabrik zu kaufen. Aber nach dem Zusammenbruch der Glashütter Uhrenindustrie (also bevor die von ➱Dr Kurtz wieder erfolgreich aufgebaut wurde) konnte man immerhin einige Fachleute mit einem Siebenjahresvertrag nach Moskau locken. Lesen Sie ➱hier mehr dazu.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die russische Uhrenindustrie noch eine Vielzahl von Bauplänen, Maschinen und Werkzeugen aus der Schweiz bekommen (lesen Sie in dieser ➱Übersicht mehr dazu). Wozu neben dem Kaliber Zenith 135 auch noch das Weckerwerk AS 1475 (das als Poljot 2612.2 weitergebaut wurde), das Kaliber Venus 150 (das in den Strela Schaltrad Chronographen ist) und das Favre-Leuba Werk mit dem Doppelfederhaus (das dann Slawa 2427 hieß, aber nie so gut aussah wie das Original hier) zählten. Da ein großer Teil der Werke heute noch verbaut wird, gibt das dem Sammler die Gelegenheit, preisgünstig an interessante Schweizer Werke zu kommen. Man munkelt, dass manchmal auch die russischen Werke zurückgekauft, in der Schweiz veredelt und in teure Uhren eingeschalt werden.

An dieser Stelle möchte ich mal eben einen russischen Krimi empfehlen, in dem Uhren eine Rolle spielen. Ich bekam ihn vor vielen Jahren von Friedrich Hübner (der alles über die ➱russische Literatur weiß und auch Uhren sammelt) geschenkt. Der Roman heißt Uhren für Mr. Kelly, geschrieben von den Brüdern Arkadi und Georgi Wainer. Der Roman erschien in der Übersetzung von Harry Burck 1974 im Ostberliner Verlag Das Neue Berlin. Er hätte ebenso gut in der renommierten Krimireihe des Rowohlt Verlages erscheinen können, die Richard K. Flesch herausgab. Dass jenseits der Grenze auch gute Krimis verlegt wurden, das wusste Flesch, immerhin teilte er sich mit dem Verlag Volk und Welt die deutschen Verlagsrechte für das Autorenpaar Sjöwall und Wahlöö (die ➱hier einen Post haben, in dem auch Richard Flesch gewürdigt wird). Die Romane von Sjöwall Wahlöö waren die Bestseller der Rowohlt Reihe, Flesch hat mir damals unter dem Siegel der Vertraulichkeit die Auflagezahlen genannt. Also in aller Kürze, Uhren für Mr. Kelly ist ein brillant geschriebener Krimi. Wenn Sie immer schon einmal wissen wollten, wie viele Unruhwellen man in einem Glasfläschchen transportieren kann, dann sollten Sie diesen Roman lesen. Man bekommt ihn antiquarisch ab einem Cent.

Ein Sahnestückchen wie eine Wostok mit dem Precision Class auf dem Zifferblatt zu bekommen, wird dagegen schon schwierig. Die Uhren erfüllten damals den Standard für russische Chronometer (Werke, die dem Standard nicht genügten, wurden unter der Marke Almaz verkauft), und inzwischen haben die Sammler gemerkt, dass sie den Nachbau des Zenith 135 enthalten. Chronometerwerte erreicht keins meiner beiden Exemplare. Leider habe ich keine Uhr mit dem Kaliber 135, es ist sehr selten, nur etwa zehntausend Stück wurden davon gebaut. Aber meine Zenith Uhren mit den Kalibern 40, 120 und 12-4.5.6 schaffen die Chronometernorm nach über sechzig Jahren noch alle. Leicht und locker. Das ist der Unterschied zwischen Swiss Made und Made in USSR.

Montag, 23. Juni 2014

Jackson


Heute vor 85 Jahren wurde June Carter geboren. Das hier in diesem ➱Video ist sie natürlich nicht. Das sind Reese Witherspoon und Joaquin Phoenix, wenn sie Jackson in dem Film I walk the Line singen. Das Original sollte schon ➱so aussehen. Wie oft haben June Carter und ➱Johnny Cash das gesungen? Es gab Cover Versionen, zum Beispiel im gleichen Jahr von ➱Nancy Sinatra und Lee Hazelwood, aber das ist nicht das gleiche. Erstaunlicherweise kam Jackson 1967 als Mä lähden stadiin auch nach ➱Finnland. Aber das Original, das wurde schon vier Jahre zuvor von ganz anderen gesungen. Das wussten Sie natürlich, dass es das ➱Kingston Trio war.

Emmylou Harris (hier mit Sheryl Crow auf der Beerdigung von June Carter am 18. Mai 2003) hat Jackson leider nicht gesungen. Hätte sie ja mal mit ➱Lyle Lovett tun können. Aber sie hat ➱Mary Chapin Carpenters Halley came to Jacksongesungen, was auch sehr schön ist. Es ist eigentlich immer schön,  Emmylou Harris singen zu hören.

Emmylou (hier mit Johnny Cash und June Carter) hat natürlich ➱hier längst einen Post. Ihre Version von Halley came to Jackson ist übrigens auf der ➱CD Mark Twain:Words & Music mit drauf, die für Mark Twain Freunde sicherlich ein Geheimtip ist. Für ein Häppchen von der Doppel CD können Sie ➱hier hinein klicken. Die beiden CDs lohnen sich natürlich wegen Emmylou Harris, aber erst recht wegen Clint Eastwood, der Mark Twain spricht.

Wir verbinden Clint Eastwood ja eher mit Dirty Harry. Vielleicht noch mit Jazz, weil er diesen schönen Film über ➱Charlie Parker gedreht hat. Aber Country Music? Und dennoch ist es eine Rückkehr zu den Wurzeln, wenn der Name Clint Eastwood auf einer Bluegrass und Country Music CD erscheint. Lesen Sie doch einmal diese ➱Seite. Oder hören Sie sich Clint Eastwood an der Seite von Merle Haggard in ➱Bar Room Buddies an. Gut, es ist natürlich kein wirklich guter Merle Haggard Song. Warum haben die beiden nicht ➱Okie from Muskogee gesungen? Der Text hätte Clint Eastwood sicher gefallen.

Ich habe den meteorologischen Sommeranfang knapp verpasst, möchte den Sommer aber doch mit einem kleinen Sommergedicht beginnen. Was mir auch die Gelegenheit gibt, ➱Red Shuttleworth für die vielen kleinen Gedichtbände zu danken, die er mir in der letzten Zeit geschickt hat. Das Gedicht von Red Shuttleworth heißt Summer Chronograph: 1. Und der Ehemann von June Carter kommt auch drin vor:

It is raining hard on this high desert,
glossy as curated queen-skull.
Summer comes tomorrow like Johnny Cash
on old time radio, wired-tight on a dangerous
prescription of mourning, kisses, and prayer.