Montag, 30. März 2020

Rudolph Ackermann


Ich muss mal eben für dieses Buch Reklame machen. Es ist schon beinahe dreißig Jahre alt, aber immer noch das Beste, was man zum London des frühen 19. Jahrhunderts bekommen kann. Metropole London: Macht und Glanz einer Weltstadt 1800 - 1840 war der Katalog einer Ausstellung in der Essener Villa Hügel im Jahre 1992. Das Buch, das gleichzeitig in englischer Sprache bei der Yale University Press erschien, kostete damals 50 Mark. Das Börsenblatt des deutschen Buchhandels sprach von einem konkurrenzlos preiswerten Katalogbuch. Man bekommt es heute antiquarisch ab 3,60€. Das ist ein lächerlicher Preis für ein drei Kilo schweres Buch mit 624 großformatigen Seiten, die durchgehend illustriert sind. Meistens farbig. Alles, was die Regency Zeit ausmacht, findet sich in diesem Buch.

Die neun Jahre bis zum Tod des Königs George und der Krönung des Regenten bezeichnet man im Englischen als Regency, aber der Begriff bedeutet mehr als die Jahreszahlen für eine Regentschaft. Er ist, vor allem kunstgeschichtlich, ein umbrella term für eine Epoche, die zwischen der Georgian Era und dem Victorian Age liegt. Grob gesagt zwischen der Französischen Revolution und der Krönung von Victoria. Es ist die Zeit, in der London von Architekten wie John Nash (hier seine Chester Terrace) und Sir John Soane (der die Bank of England baut) umgebaut wird,

Es ist eine der interessantesten Epochen Englands. Was können wir nicht alles unter diesem Schirm unterbringen! Die napoleonischen Kriege, Wellingtons Sieg bei Waterloo, der Triumph der Royal Navy, Lord Nelson und Lady Emma Hamilton. Vorromantik und Romantik, die zweite Phase der englischen Portraitkunst mit Lawrence, Raeburn und Hoppner, die englische Landschaftsmalerei, Regency Möbel, die Industrial Revolution et cetera.

Die Romane von Jane Austen, die diese Welt so schön beschreiben, wollen wir auf keinen Fall vergessen. Und die Regent Street, deren Bau während der Regency begonnen wird, natürlich auch nicht. Und auch die Dandies wie zum Beispiel Beau Brummell müssen wir erwähnen, denn kaum jemand ist eine solche Symbolfigur für das Age of Elegance (wie der Historiker Arthur Bryant seinen Band über diese Zeit genannt hat) wie der englische Dandy.

Wenn Sie sich jetzt fragen, weshalb der Post Rudolph Ackermann heißt, dann habe ich natürlich eine Antwort auf diese Frage. Denn der Sattler und Kutschenbauer aus Sachsen, der sich hier von François Nicholas Mouchet hat malen lassen, als er 1809 britischer Staatsbürger wurde, ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Zeit. Er ist seit 1785 in London, er könnte jetzt mit dem Bau von Luxuskutschen viel Geld verdienen. Die dunkelgrüne Kutsche von Lord Byron kostet 500 Pfund, er hat sie nie bezahlt (lesen Sie mehr dazu in dem Post Luxuskutschen). Ackermann läßt sich eine neuartige Kutschensteuerung patentieren, die noch heute funktioniert. Er entwirft eine Staatskarosse für den Lord Chancellor von Irland und erfindet einen 16-rädrigen Omnibus, den The Royal Sailor. 1791 erscheint der erste Band seines Buches Imitations of Drawings of Fashionable Carriages (der vierzehnte Band wird 1828 erscheinen), mit dem er geschickt Werbung für seine Kutschen macht. Er soll auch eine Staatskutsche für George Washington entworfen haben, aber ich weiß nicht, ob die je gebaut wurde.

Ackermann bleibt nicht lange in dem Geschäft, mit dem er berühmt wurde, 1795 eröffnet er einen Laden (mit angeschlossener Zeichenschule und Druckerei) am Strand, den er zwei Jahre später von der Hausnummer 96 zur Hausnummer 101 verlegt. Four doors nearer to Somerset House, sagt er stolz. Somerset House ist der Sitz der Royal Academy of Arts. Rudolph Ackermann, der selbst ein hervorragender Zeichner ist, ist in der Welt der Kunst angekommen. In der Zeichenschule, die er von William Shipley übernommen hatte, hat er achtzig Schüler, in seinem Laden, den er The Repository of Arts nennt, kann man Bücher, Briefpapier, Drucke und Radierungen und Gemälde kaufen. Man kann hier auch Bücher leihen.

Ackermanns Repository of Arts wird zu einem kulturellen Zentrum von London. Die Zeichner der Innenansicht des Repository im oberen Absatz sind zwei berühmte Leute, die Innenausstattung wurde von Augustus Pugin gezeichnet, der als Architekt des Gothic Revival berühmt wird. Menschen konnte er nicht zeichnen, das hat Thomas Rowlandson übernommen. Beide werden noch weiterhin für Ackermann arbeiten, wie zum Beispiel bei The Microcosm of London: Or, London in Miniature. Wieder zeichnet Pugin die Architektur und Rowlandson füllt die freien Flächen mit seinen drolligen
Figuren.

Die Zeichenschule wird Ackermann 1806 schließen, wichtiger wird für ihn die Druckerei und die gerade erfundene Technik der Lithographie. Ab 1809 erscheint sein Repository of arts, literature, commerce, manufactures, fashions, and politics, allgemein Ackermann's Repository oder schlicht Ackerman's genannt. Es wird seinem langen Titel gerecht, denn alles aus dem Titel wird in den Büchern vorkommen. Wenn Sie wissen wollen, wie man in Deutschland den Kaffee zubereitet, klicken Sie hier, wenn Sie wissen wollen, wie die Damenmode des Regency aussieht, dann klicken Sie die 270 fashion plates bei Wikisource an.

Auch dem Sportsgeist der Engländer tragen seine Bücher Rechnung. Diese Illustration ist aus dem Buch Ackermann's Sporting Scraps (sie können alle Illustrationen des Buches hier anklicken), es sind nur wenige Segelszenen darin, die meisten Bilder haben mit der Fuchsjagd zu tun. Ein gut erhaltenes Exemplar des Buches bringt heute schon einmal mehr als 5.000 Dollar

Es ist, wie man am Beispiel von Ackermann's Sporting Scraps sehen kann, nicht nur Ackermann's Repository, das bei ihm gedruckt wird, auch die bebilderten Kunstbände aus seinem Haus verkaufen sich wie geschnitten Brot. Hier haben wir ein Bild aus der gerade gegründeten British Institution, dem ersten privaten Kunstverein (die Galerie von Sir Francis Bourgeois wird erst einige Jahre später eröffnet). Ackermann wird in kurzer Zeit beinahe den ganzen englischen Markt für Druckgraphik und Bildbände unter Kontrolle bekommen.

Seine Heimat Sachsen hat Ackermann nie vergessen, er besucht sie, so oft er kann. Während der napoleonischen Kriege auch einmal als Kutscher verkleidet. Er unterhält eine Partnerschaft mit dem Leipziger Buchhändler und Verleger Johann Gottlieb Beygang, und die deutsche Modezeitschrift Journal des Luxus und der Moden des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch wird das Vorbild zu Ackermann's Repository. Und man sollte nicht vergessen zu erwähnen, dass Ackermann nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 seinen ganzen Einfluss nutzt, um in England 250.000 £ für deutsche Notleidende zu sammeln.

Bekommt der cultural entrepreneur wegen seiner Verdienste einen Orden oder einen Adeltitel? Nichts davon. Der Grund heißt wahrscheinlich Thomas Rowlandson, der es nicht lassen kann, den fetten Monarchen auf dem englischen Thron zu karikieren. Viele Künstler arbeiten jetzt für Ackermann. Neben Rowlandson und Pugin sind da noch Frederick Nash und William Westall zu nennen. Und Samuel Prout, der 1829 königlicher Aquarellmaler wird. Wir wollen Maria Cosway nicht vergessen, die mal eine Affaire mit Thomas Jefferson hatte (in dem Film Jefferson in Paris wird sie von Greta Scacchi gespielt). Einen Orden hat Ackermann aber doch bekommen, vom sächsischen König. Sein Freund Karl Ausgust Böttiger schreibt ihm 1816 aus Dresden: Baron de Just is setting out after to-morrow: he brings you the order of 'Civil-merit,' which is the highest distinction in the power of our good King; and you are the only native of Saxony abroad, not in the service of the King, who receive this valuable decoration. Your name, as Knight of the Saxon Order, will be published in all our newspapers, as it will cause general satisfaction. Thus you will be convinced, my dear Sir, that Saxony acknowledges your zeal.

Die Passanten bestaunen auf diesem Cartoon aus dem Jahre 1809 die mit Gaslaternen beleuchtete Pall Mall. Damit hat Rudolph Ackermann auch etwas zu tun, er ist energisch dafür eingetreten, dass London eine Gasbeleuchtung erhielt. In seinen Betrieben war das schon eine Selbstverständlichkeit. Und wenn wir uns das Portrait noch einmal genau anschauen, links neben Ackermann, etwas abgeschnitten, ist eine Gaslampe zu sehen. Die sollte unbedingt mit auf das Bild. Nicht jedermann ist auf Rowlandsons Cartoon von der neuen Technologie begeistert. Ganz rechts beklagt eine Dame vom Straßenstrich: If this light is not put a stop to -- we must give up our business. We may as well shut up shop. Und der Kleinkriminelle neben ihr sagt: True, my dear: not a dark corner to be got for love or money.

Rudolph Ackermann ist an 30. März 1834 gestorben, aber erst vor zwei Jahren ist eine umfassende Biographie über ihn erschienen. Das British Museum zeigte zur Buchpräsentation eine Ausstellung, bei der sie alles, was den Namen Ackermann trug, hervorgeholt haben. Es waren 3.000 Exponate, zumeist natürlich die Druckgraphik aus dem Haus des Mannes, der die Lithographie zur Kunstform gemacht hatte. Das Buch Rudolph Ackermann & The Regency World brauchen Sie nicht unbedingt, denn in dem fetten Katalog Metropole London: Macht und Glanz einer Weltstadt 1800 - 1840 gibt es ein schönes Kapitel zu Ackermann von Simon Jervis, dem Direktor des Fitzwilliam Museum Cambridge.

Freitag, 27. März 2020

Born to be bad


In der Beschreibung des Filmes Born to be bad aus dem Jahre 1950 kann man bei der russischen Wundertüte, aus der meine Filme kommen, über die Rolle der Hauptdarstellerin Joan Fontaine lesen: Christabel Caine (Joan Fontaine) has the face of angel and the heart of a swamp rat. She'll step on anyone to get what she wants, including her own family. A master of manipulation, she covertly breaks off the engagement of her trusting cousin, Donna (Joan Leslie), to her fabulously wealthy beau, Curtis Carey (Zachary Scott). Once married to Curtis herself, Christabel continues her affair with novelist Nick Bradley (Robert Ryan), who knows she's evil, but loves her anyway.

Wenn Frauen beschriftet werden, weiß man, woran man ist. Ob sie nun das rote A für adultery tragen wie Hester Prynne in The Scarlet Letter, oder ob Born to be bad auf ihrem Rücken steht. Das Filmplakat gehört allerdings nicht zu dem Film mit Joan Fontaine, es gab 1934 schon einmal einen Film, der Born to be bad hieß. Wenn Joan Fontaine auch mit the face of angel and the heart of a swamp rat beschrieben wird, geht es in dem Film nicht um das wirklich Böse, wie der Titel vermuten lässt. Der Film ist eine Komödie. Das wirklich Böse, oder das ein klein bisschen Böse, präsentiert uns Hollywood ein Jahrzehnt früher im Film Noir in Gestalt des good-bad girl. Oder wir erkennen das Böse, das natürlich seit den Tagen der Vamps und der femmes fatales immer eine Frau ist, wenn es ein Schild trägt, auf dem I'm Evil steht.

Oder es sieht so aus wie diese badende Schönheit. Das ist eine Zeichnung von Charles Henry Dana, dem Erfinder des berühmten Gibson Girls. Ich habe das Bild schon einmal in dem Post Harry Graf Kessler gezeigt. Hier ist das Gibson Girl mal etwas anders. Böse. Born to be bad. Als ich anfing, diesen Post zu schreiben, sang bei mir gerade Lorez Alexandria Speakin' of the devil Well, here I am, may I come in? Ich fand, das passte wunderbar.

Joan Fontaine kommt nicht daher wie das teuflisch lächelnde schwimmende Gibson Girl. Sie ist am besten in romantischen Komödien und Kostümfilmen aufgehoben, die Rolle der romantischen Naiven in Liebesnöten war mit ihr immer gut besetzt. In den vierzigen Jahren war sie zweimal in anderen Filmen zu sehen: als skrupellose Mörderin in Ivy und als armes Opfer in Kiss the Blood Off My Hands. Joan Fontaine, die mit Hitchcocks Rebecca (der heute vor achtzig Jahren in die Kinos kam), berühmt wurde, hat diese Filme nicht besonders gemocht.

Ihr Lieblingsfilm der vierziger Jahre war Letter from an Unknown Woman. Der Film von Max Ophüls, für den sie von David O. Selznick ausgeliehen wurde, war bei seinem Erscheinen ein Flop, gilt heute aber als bester amerikanischer Film von Ophüls. Die Verfilmung der Novelle von Stefan Zweig wurde von einer Firma namens Rampart Productions produziert, einer  Firma, die Joan Fontaine und ihrem damaligen Gatten William Dozier gehörte. So nah wie auf diesem Pressephoto kommen sich Joan Fontaine und Louis Jourdan in der traurigen Liebesgeschichte nicht.

Das Drehbuch für den Film hatte Howard Koch geschrieben, der wenige Jahre zuvor für das Drehbuch von ✺Casablanca einen Oscar bekommen hatte. François Truffaut, der später Ophüls interviewte und beinahe Regieassistent bei Lola Montez geworden wäre, fand den Film wunderschön. Der Max Ophüls schrieb kurz vor seinem Tod: Die Rezeption in Europa war sehr gut und nun ist er einer der beliebtesten Filme im amerikanischen Fernsehen. Es ist ein sehr interessantes Phänomen: einige eher intime Filme scheitern, wenn sie im Kino gezeigt werden, aber machen sich ganz gut im Fernsehen.

In gewisser Weise war Letter from an Unknown Woman Fontaines Abschied vom Qualitätskino. Denn nun kam Born to Be Bad, der Film, den sie in ihrer Autobiographie No Bed of Roses als disastrous bezeichnete. Und hinzufügte, dass ihre Kostüme the only acceptable part of the film gewesen seien. Auf diesem Bild ist Joan Fontaine 1967 bei der Geburtstagsparty von Marlene Dietrich mit ihrer Schwester Olivia de Havilland zu sehen. Die beiden lachend auf einem Bild, das ist sehr, sehr selten, denn die beiden Engländerinnen, die seit den dreißiger Jahren Hollywood eroberten, hassten sich seit der Kindheit. Als Joan Fontaine 1978 ihre Autobiographie No Bed of Roses vorstellte (von der ihre Schwester sagte, dass die wohl besser No Shred of Truth hätte heißen sollen) erklärte sie: I got married first, got an Academy Award first, had a child first. If I die, she’ll be furious, because again I’ll have got there first!

Joan Fontaine ist als erste gestorben, sie wurde allerdings immerhin 96 Jahre alt. Ihre Schwester Olivia lebt immer noch, sie ist jetzt 103 Jahre alt. Die englische Königin hat sie vor einigen Jahren geadelt, da war Dame Olivia die älteste Lady, die diesen Titel bekam. Dieses Bild hat Olivia de Havilland nicht gerne gesehen. Es ist ein Bild aus der Fernsehreihe Feud des amerikanischen PayTV Senders FX, wir sehen hier Catherine Zeta-Jones als Olivia de Havilland. Die hat einen Prozess gegen den Sender geführt, weil ihr Verhältnis zu ihrer Schwester falsch dargestellt sei. Sie hätte nie bitch zu ihrer Schwester gesagt. Sie hat den Prozess verloren. 1942 waren beide Schwestern für den Oscar nominiert gewesen, Joan Fontaine gewann ihn für ihr Rolle in ✺Suspicion. Bei der Verleihung fielen böse Worte, bitch habe sie nie gesagt, erklärte de Havilland. Dragon Lady vielleicht.

Das born to be bad trifft vielleicht auch auf Joan Fontaine zu. Sie hasst nicht nur ihre Schwester, sie hat auch ihre Mutter gehasst. Und ihre Töchter auch, über die hat sie gesagt: You can acquire enemies. Why give birth to them? In ihren Filmen ist sie die romantische Unschuld und die elegante Lady, Leslie Halliwell schreibt etwas bösartig in seinem Filmgoer's Companion: Became typed as the shy English rose, later made efforts to play sophisticated roles. Aber so schüchtern und unschuldig sie in den Filmen wirkt, ist sie in Wirklichkeit nicht. Sie war vier Mal verheiratet und hatte zahlreiche Affairen, aber nicht mit David Niven, wie sie immer wieder betonte. Der Vater von John F. Kennedy wollte sie als Geliebte haben, aber sie lehnte lachend ab. In Suspicion verdächtigt sie ihren Ehemann Cary Grant, sie ermorden zu wollen. Der hat später gesagt, dass sie ideal für die Rolle gewesen wäre: anyone who knows me realizes that I couldn’t be married to Joan Fontaine for more than 24 hours without wanting to wring her neck.

Das bringt mich zurück zu Born to be bad. Der Regisseur Nicholas Ray verstand etwas davon, was es heißt, mit schwierigen Frauen zu leben. Er war bei den Dreharbeiten noch mit Gloria Grahame verheiratet, ließ sich aber scheiden, nachdem er sie mit seinem dreizehnjährigen Sohn im Bett ertappt hatte. Das ist doch eine Handlung für einen Film, der Born to be bad heißt.

Dienstag, 24. März 2020

La Malibran


Mit siebzehn sang sie in New York die Zerline in Mozarts Don Giovanni, das war eine amerikanische Erstaufführung. In London hatte sie gerade die Rosina in Der Barbier von Sevilla gesungen. María García kommt aus einer Musikerfamlie, dies ist der Beginn ihrer Karriere. In New York verliebt sie sich in den Bankier François Eugène Malibran, der ist siebenundzwanzig Jahre älter als sie. Und ist schnell pleite, sie muss ihn mit ihren Gagen durchfüttern. Die Ehe wird nicht lange halten. Aber der Name Malibran wird weltbekannt, denn inzwischen ist sie La Malibran, eine der ersten Diven der Operngeschichte.

Nur hier in Paris kann man erfahren, was Singen bedeutet. Heutzutage ist es unbestreitbar nicht die Pasta, sondern die Malibran-García, welche die erste in Europa ist – ein Wunder! schreibt Frédéric Chopin über die exotische Schönheit Maria Malibran. Mit Pasta meint er nicht das italienische Teiggericht, sondern Giuditta Pasta, die große Konkurrentin der Malibran. Und Gioachino Rossini sagt über die Malibran: Sie übertraf alle ihre Konkurrentinnen durch ihre wirklich überwältigende musikalische Begabung und alle Frauen, die mir begegnet sind, durch ihre geistige Überlegenheit, ihr breit gefächertes Wissen und ein rasantes Temperament, von dem man sich nicht die geringste Vorstellung machen kann.

Ludwig Börne wird in seinem 26. Brief aus Paris schreiben: Ehe ich die Malibran gehört, ahndete ich gar nicht, daß ein musikalischer Vortrag auch genialisch sein könne; ich dachte, der Gesang stände im Dienste der Komposition, und wie der Herr, so der Diener. Aber nein. Aus der Spielerei Rossinischer Musik machte die Malibran etwas sehr Ernstes, sehr Würdiges. Dem schönen Körper gibt sie auch eine schöne Seele. Börne erinnert sich daran, dass er in Berlin Henriette Sontag gehört hat, aber das ist nichts gegen das Erlebnis der Malibran: Ihr Gesang! Er kam aus dem Herzen des Herzens. Ich mußte mich daran erinnern, gerecht zu sein, um mich zu erinnern, daß die Sontag ebenso schön gesungen. Ich will Kenner fragen, die beide gehört. Aber das will ich verbürgen: die Sontag singt schön, weil sie gefallen will, und die Malibran gefällt, weil sie schön singt. Er ist nicht der einzige, der die Sangeskunst der Henriette Sontag kritisch sieht (es gibt hier einen Post zu der göttlichen Jette, die Goethe seine flatternde Nachtigall nannte); ich glaube, dass sie stimmlich nicht in  der gleichen Liga wie die Malibran singt. Sie sind mehrfach zusammen aufgetreten, das können wir dem italienischen Film ✺Maria Malibran entnhmen, wo Maria Cebotari die Malibran und Silvia De Bettini die Sontag verkörpern.

Die am 24. März 1808 geborene Sängerin Maria Malibran ist nicht alt geworden, sie wird 1836 in Manchester sterben. Sie hatte bei einem Reitunfall im Londoner Hyde Park schwere Verletzungen davongetragen, aber sie verweigert die ärztliche Behandlung, sie singt weiterhin die Amina in Bellinis La sonnambula. Fünfzigtausend Menschen werden die Straßenränder von Manchester säumen, als der Sarg vorbeigetragen wird. Die Gräfin Maria de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo schrieb nach ihrem Tod: Der Tod raffte Maria Malibran frühzeitig hinweg. Aber als sie dieser Erde entschwebte, hat sie mindestens als letztes Andenken jene Eindrücke der Jugend, der Schönheit und des Talentes hinterlassen, welche wie der Duft der Blüthen durch den beseeligenden Hauch des Frühlings, sich von Jahr zu Jahr im Gedächtnisse erneuern, ohne daß die Zeit sie jemals brechen kann.

Die Malibran hat natürlich in diesem Blog mit Grande Opéra schon einen Post, und sie wird auch in den Posts Primadonna assoluta, Diven, Henriette Sontag und Nachtigallen erwähnt. Ich habe heute allerdings noch etwas Neues. Natürlich noch keine Tonaufnahme, die gab es noch nicht. Aber bewegte Bilder. Zum einen gibt es hier den Film von Werner Schroeter (der immer davon träumte, einen Film mit der Callas zu machen) ✺Der Tod der Maria Malibran (hier ein Bild aus dem Film). Und zum anderen kann ich den Dokumentarfilm ✺Cecilia Bartoli – Maria Malibran: Geschichte einer Leidenschaft von Michael Sturminger anbieten. Und ich hätte, da aller guten Dinge drei sind, auch noch den französischen Film ✺La Malibran aus dem Jahre 1944 im Programm.

Sonntag, 22. März 2020

die Seeräuber Jenny


In seinem Essay Eight Arms to Hold You erinnert sich Hanif Kureishi an seinen Musiklehrer (der auch Religionslehrer ist) Mr Hogg, der ihm und der Klasse die Beatles vermiest. Diese Musik gehört für ihn nicht zur Kultur. Der Essay von Hanif Kureishi (der durch My Beautiful Laundrette berühmt wurde) ist in viele Anthologien und in den Englischunterricht gewandert. Sie können ihn hier in dem Post Pilzköpfe lesen. Es geht um die Frage, wo hört die Kultur auf, wo fängt die Subkultur an? Als ich den Essay damals in dem Granta Magazine las, fühlte ich mich an meinen Musikunterricht erinnert. Auch wir hatten einen Mr Mogg, er hieß nur anders.

Er war damals ein berühmter Mann. Er hatte nach dem Krieg einen Chor aufgebaut, der seinen Namen trug. Der Chor war der erste deutsche Chor, der zu einem Eisteddfod nach Wales eingeladen worden war, das bedeutete schon etwas. Aber so groß seine Verdienste als Chorleiter waren, für die er auch das Bundesverdienstkreuz bekommen hat, als Musiklehrer war er pädagogisch ein Versager. Ich habe bei ihm nichts, aber auch gar nichts gelernt. Bei meiner Klavierlehrerin schon, bei der Lektüre von Knaurs Opernführer (mit einem Geleitwort von Hans Knappertsbusch) und den drei Rowohlt Bänden Ewiger Vorrat klassischer Musik auf Langspielplatten auch.

So wenig der Lehrer uns beachtete, so wenig beachteten wir ihn. Er wußte schon, dass wir uns eigentlich nur für all das interessierten, was jetzt aus den amerikanischen und britischen Soldatensendern, die wir blitzsauber empfangen konnten, zu uns kam. Dass wir zu Hause eher Jazzplatten (noch Zickenjazz und noch nicht Charlie Parker) hörten als Beethovens Eroica. Einmal hat er im Unterricht einen Musikerwitz erzählt, der für Musiker wirklich ganz witzig war, aber das ist das einzige, was ich aus seinem Unterricht erinnere. Natürlich weiß ich noch, wie wir alle bei Notendiktaten geschummelt haben. Notendiktate (was ja der Schwachsinn par excellence ist) ergaben bei uns nur das Ergebnis, dass die ganze Klasse das absolute Gehör hatte.

Dennoch habe ich den Musikunterricht an meiner Schule auch in guter Erinnerung. Und das liegt an einem Mann namens Hanns Eckerle, den wir für einige Jahre als Musiklehrer hatten (es gab an dem Gymnasium ein halbes Dutzend Lateinlehrer, aber nur zwei Musiklehrer). Eckerle war eigentlich Korrepetitor an der Oper in Bremen, und er hatte in den fünfziger Jahren auch einige Opern in Bremen dirigiert. Unter anderem Gian Carlo Menottis Oper Der Konsul, die war damals ganz neu. Er war zwar auch kein begnadeter Pädagoge, aber er war ein guter Mensch. Wo der andere Musiklehrer sich als eine Art Herrenmensch inszenierte, blieb Hanns Eckerle sanftmütig, still und bescheiden. Er hatte diese Liebe zur Musik, besonders zur Oper, die ansteckend wirkte. Er spielte ganze Opern auf dem Klavier durch, sang alle Rollen. Man brauchte bei ihm auch nicht auf den fürchterlichen Aulastühlen zu sitzen, man durfte um das Klavier herumstehen. Man konnte ihm auch Fragen stellen, die er geduldig beantwortete, mit Musikbeispielen.

Hanif Kureishis Essay endet mit dem Satz: We felt and sometimes recognized—and Hogg’s attitude toward the Beatles exemplified this—that our teachers had no respect for us as people capable of learning, of finding the world compelling and wanting to know it. Dieses our teachers had no respect for us as people capable of learning, of finding the world compelling and wanting to know it traf auf Hanns Eckerle nicht zu.

Das schönste musikalische Erlebnis an dieser Schule waren keine Chordarbietungen von Vray dieu d'amours und Nimm sie bei der schneeweißen Hand und führ sie in den Rosenkranz oder die von mir gehassten Kammermusikabende. Das war ein Mann, der nur mit einem Stapel Noten auf die Bühne kam und fünfzig Pfennig kostete. Fünfzig Pfennig kostete auch der grauenhafte, spuckende adelige Rezitator Horst Bogislaw von Schmelding, der Schillers Glocke und ähnliche ungeliebte Gedichte aufsagte. Oder der Mann, der seine Schlangen in der Turnhalle zeigt. Aber dieser kleine Mann mit den wirren Haaren, der in meiner Erinnerung ein wenig aussieht wie Ulrich Priol, geht zu dem guten Flügel, auf dem immer nur der berühmte Lehrer spielt. Nicht zu dem zweiten Flügel, der hinten rechts in der Ecke steht. Und nun wird das Instrument der Hochkultur zu etwas ganz anderem gebraucht. Mißbraucht? Er bittet ein Dutzend Schüler auf die Bühne, damit sie ihm helfen, den Flügel über die Bühnenkante der Aula nach vorne kippen. Dann setzt er sich an das Instrument, wo ihn jetzt jeder im Saal dank der Kipplage des Flügels gut sehen kann.

Und spielt und singt die ganze Dreigroschenoper. So wie Hanns Eckerle ganze Opern durchspielte. Die Dreigroschenoper wird zusätzlich gewürzt durch Songs aus The Beggar’s Opera von John Gay und Johann Pepusch. Er verwandelt sich mit jedem Part, er ist Macheath und 'Tiger' Brown. Er ist Polly Peachum und die Seeräuber Jenny: Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen und ich mache das Bett für jeden. Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell. Und Sie sehen nur die Lumpen und dies lumpige Hotel, und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden... Ich weiß seinen Namen nicht mehr, in meinem alten Tagebuch steht nur 20. Januar 1960 Dreigroschenoper. Ist ein bisschen doof von mir gewesen, den Namen des Mannes nicht dazu zuschreiben. Er war mit seinen Auftritten damals schon ziemlich berühmt geworden. Ich bin ihm für diesen Abend ewig dankbar, ich habe das nie vergessen

Ich hätte mitsingen können, ich hatte damals eine schwere Bert Brecht Phase. Ich besaß das dicke Dreigroschenbuch vom Suhrkamp Verlag, in dem alles über das Werk drin stand. Der Pianist mit den wirren Haaren in unserer Aula konnte etwas, was nicht jeder kann: er konnte Kurt Weill singen. Und das ist nichts für jeden. Das Lied von der Seeräuber Jenny ist von vielen gesungen worden (auch von Juliette Gréco), aber bei vielen Versionen, vor allem, wenn Opernsängerinnen es singen, hat man das Gefühl, das Brecht und Weill das so nicht gewollt hätten. Ich glaube, die waren mit Lotte Lenya und Carola Neher (die die erste Plattenaufnahme besang) zufrieden. Dass es eines Tages unzählige Coverversionen geben würde, das hätten sie sich wohl nicht vorstellen können.

Brecht hat Die Seeräuberjenny 1926 zuerst als Gedicht geschrieben, in die Dreigroschenoper ist es, wie andere Gedichte aus der Hauspostille, erst später gewandert. Germanisten sehen das Gedicht häufig im Zusammenhang mit der Ballade Von der Kindesmörderin Marie Farrar, das bietet sich thematisch an. In der Dreigroschenoper singt Polly Peachum bei ihrer Hochzeit mit Macheath in einem Zwischenspiel das Lied des kleinen Abwaschmädchens in einer Vierpennykneipe, genannt Jenny, die Seeräuberbraut:

[Polly:] Meine Herren, wenn keiner etwas vortragen will, dann will ich selber eine Kleinigkeit zum Besten geben, und zwar werde ich ein Mädchen nachmachen, das ich einmal in einer dieser kleinen Vier-Penny-Kneipen in Soho gesehen habe. Es war das Abwaschmädchen, und sie müssen wissen, daß alles über sie lacht und daß sie dann die Gäste ansprach, und zu ihnen dann solche Dinge sagte, wie ich sie Ihnen gleich vorsingen werde. So, das ist die kleine Theke, Sie müssen sie sich verdammt schmutzig vorstellen. Das ist der Spüleimer und das ist der Lappen, mit dem sie die Gläser abwusch. Wo Sie sitzen saßen die Herren, die über sie lachten. Jetzt sagt zum Beispiel einer von Ihnen [auf Walther deutend] Sie: Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny? – [Walther:] Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny?Und ein anderer sagt: „Wäschst du immer noch die Gläser auf, du Jenny, die Seeräuberbraut?“ [Matthias:] Wäschst du immer noch die Gläser auf, du Jenny, die Seeräuberbraut? [Polly:] So, und jetzt fange ich an. 

Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen
Und ich mache das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell
Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden...


Für Ernst Bloch ist das Lied in seiner wunderbaren Interpretation die Dynamitstelle der Dreigroschenoper. Wir sind hier unter Räubern, erträumten Seeräubern und Räubern, die Macheath und Peachum heißen. Brechts Vorlage, Gays Beggar's Opera, bei der er sich reichlich bedient, handelt von denen da ganz oben und den Räubern und Nutten. Kleine Abwaschmädchen namens Jenny kommen in ihr nicht vor, das ist Brechts Erfindung, aber in der Welt, in der John Gay lebt, da gibt es sie. Zu tausenden in Covent Garden, den man the great Square of Venus nennt. Die dreizehnjährige Amy Lyon, die hier als Tresenschlampe und Gelegenheitsnutte arbeitet, träumt auch davon, von hier wegzukommen. Das wird sie. Sie wird einen Adligen heiraten, und einen Mann mit einem Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen bekommt sie auch. Das ist allerdings kein Seeräuber, sondern ein Seeheld.

Es sind bei John Gay und Bert Brecht nicht nur Räuber auf der Bühne, auch die Autoren sind Räuber. Der Plagiatsvorwurf wurde schon 1728 erhoben, als The Beggar's Opera auf die Bühne kam. Zweinhundert Jahre später wird er gegen Brecht laut. Denn der klaut im größeren Stil: bei Gay, Villon und Kipling. Auf die von Alfred Kerr vorgebrachten Vorwürfe antwortete er, dass er eine grundsätzliche Laxheit in Fragen geistigen Eigentums besäße. Aber die Seeräuber Jenny, die hat er nirgends geklaut, die ist seine eigene Schöpfung. Vielleicht hat er auch die Musik zu der Ballade komponiert, zu dem Thema habe ich hier einen langen Artikel von dem Musikwissenschaftler Albrecht Dümling. Es ist unzuverlässige Musik, dicke Luft im Amüsement, die satte Kunst ist hin, die Substanz erscheint als Dreck, im Abwaschzuber und in dem, was die denkt, die davor steht, so schrieb Ernst Bloch 1929 über das Lied der Seeräuber Jenny.

Der kleine Bert Brecht besaß ein Puppentheater, mit dem leidenschaftlich gern spielte. Nicht nur Theaterstücke standen auf seinem Programm, auch Opern waren im Repertoire. Insbesonders der Der fliegende Holländer, wo ein Frau namens Senta von einem Seefahrer träumt. Eine Seeräuber Ballade hatte er mit zwanzig Jahren auch schon geschrieben, nun kommt Lied des kleinen Abwaschmädchens in einer Vierpennykneipe, genannt Jenny, die Seeräuberbraut. Eine Liste im Internet versichert uns, dass 91 Interpreten das Lied aufgenommen haben, wahrscheinlich gibt es noch mehr Versionen. Gibt es eine Version, von der man sagen kann, dass sie genau den richtigen Ton des Liedes im Rhythmus des Zweivierteltakts, der so leicht zum Trauermarsch wird, in dem frechen Moll, das zwischen Chanson und Trauermarsch verbindet trifft? Seit nunmehr 90 Jahren verheben sich Nachwuchs-Crooner und Chansonetten an der Mackie-Messer-Moritat und der Seeräuber-Jenny, schrieb der Tagesspiegel anläßlich der Aufführung des Mackie Messer Films.

In einem Kommentar zu der Version von Eva Meier, die als Brecht Sängerin bekannt ist, schreibt bei YouTube ein Kommentator: eins der schönsten und schwierigsten Lieder. Das glaubhaft oder besser: Richtig (!) zu singen ist ein Tanz auf Messer's Schneide. ich finde das Lied muß aus einer stillen Unterdrückungssitiuation heraus gesungen werden. Schreien oder viel Freude, Begeisterung, oder sonstige Power ist da nicht angesagt. Man kann ihm nur zustimmen. Es gibt da auch einen Kommentar von einer Marlene M: Keine Ahnung. Aber ich habs auch gesungen. Etwas tiefer als Frau Meier. :-) Ich weiß nicht, wer Marlene M ist, sie scheint eine YouTube Berühmtheit zu sein, aber ihre Version kann man durchaus hören. Die von Hildegard Knef auch, sie singt sehr gut, aber die Big Band nach amerikanischem Vorbild spielt keinen Kurt Weill, das ist schade. Wir lassen mal Lale Andersen draußen vor, das geht nun gar nicht. ✺Jelena Popržan dagegen hätte den Herren Brecht und Weill vielleicht Freude gemacht.

Ob sie an meinem letzten Beispiel Freude gehabt hätten, weiß ich nicht. Vor zehn Jahren gab es in Göttingen eine Aufführung der Dreigroschenoper unter der Regie von Mark Zurmühle. Die Zuschauer wurden auf einen englischen Jahrmarkt des 19. Jahrhunderts versetzt, ein Karussell nahm die ganze Bühne ein. Diese etwas seltsame Konzeption hatte man gewählt, weil im Vorspiel des Stückes steht: Jahrmarkt in Soho. (Die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren. Ein Moritatensänger singt eine Moritat.) Aber diese Szenenanweisung gilt nur für das Vorspiel, in dem wir die Ballade von Mackie Messer hören, nicht für das ganze Stück.

In der Göttinger Aufführung wurde die Polly von Katharina Heyer gespielt. Die war damals noch nicht so berühmt, wie sie es durch Die Frau hinter der Wand werden würde, ein paar Mal war sie die Gerichtsmedizinerin im Schweriner Polizeiruf 110, auch ihre größeren Theaterrollen lagen noch in der Zukunft. Aber jetzt in dieser Dreigroschenoper gibt sie alles. Oder das, was das Regietheater will. Ihr Auftritt, den man bei YouTube sehen kann, wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Warum zieht sich Polly im weißen Hochzeitskleid lasziv ihre weißen Seidenstrümpfe aus, steigt in einen Waschzuber voller Blumentopferde und besudelt sich das Kleid mit einem schmutzigen Lappen? Das ist eine Slapstick Varieténummer, die das Sehnen nach Erlösung der kleinen Seeräuber Jenny lächerlich macht. Da ist sogar die Aufführung der Theater AG eines ✺Heidelberger Gymnasiums stimmiger.

Ich sehne mich noch immer nach dem kleinen Mann, der am Abend des 20. Januar 1960 in unserer Aula die Dreigroschoper an dem gekippten Flügel spielte.

Freitag, 20. März 2020

Friedrich Hölderlin


Heute vor 250 Jahren wurde der Dichter Friedrich Hölderlin geboren. Es ist das Jahr, in dem William Wordsworth geboren wurde, das Jahr in dem Thomas Chatterton starb. Nach seinem kurzen Aufenthalt in Bordeaux, der in dem Gedicht Andenken nachklingt, ist Hölderlin der Welt abhanden gekommen. Es wäre ein schreckliches Verzeichnis, alle die herrlichen teutschen Geister aufzuzählen, die aus solcher Lebensnoth in Krankheit, Selbstmord oder verhaßten Geschäften untergegangen sind, schreibt Achim von Arnim 1815 über Hölderlins Generation. Es sind einige, die heute nicht mehr so berühmt sind wie Hölderlin: sein Freund Casimir Ulrich Boehlendorff wird schwer depressiv, sein Freund Friedrich Emerich, ein von Geist und Herzen ausgezeichneter junger Mann, der, bey seinen Talenten und Kenntnissen zu den besten Hoffnungen berechtigte, und wohl sein unglückliches Schicksal nicht verdient hatte, stirbt nach einer gänzlichen Verstandeszerrüttung in einem Spital in Würzburg. Hölderlins erster Verleger Gotthold Friedrich Stäudlin ertränkt sich im Rhein. Und Heinrich von Kleist, dem auf Erden nicht zu helfen war, begeht in Berlin Selbstmord.

Hölderlin überlebt sie alle, aber wie? Wir wissen nicht so genau, was in den letzten sechsunddreißg Jahren seines Lebens in seinem Kopf vorgeht. Ist dieses Gedicht aus dem Jahre 1811 ein kurzer Augenblick der Normalität?

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne
Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne


Es ist ein Gedicht mit Reimen, das ist ungewöhnlich für ihn, gänzlich verschieden von einem Gedicht wie Hälfte des Lebens, das er nach seiner Frankreichreise schrieb. Deutet sich hier schon das an, was ihn überkommen wird?

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Hundert Jahre nach dem Tod von Hölderlin haben Robert Walser und Carl Seelig einen Spaziergang von Herisau nach Hauptwil gemacht, wo Hölderlin einst Hauslehrer gewesen war. Walser, der 1915 emphatisch über Hölderlin schrieb, lebt als Patient in der Irrenanstalt Herisau, die er als einen Zufluchtsort vor der Welt empfindet. Als Seelig vorschlägt, dass sie sich die Gedenktafel an dem Haus anschauen sollten, sagt Walser: Nein, nein, um solches Plakatgeschrei kümmern wir uns lieber nicht! Wie widerwärtig sind doch Dinge, die sich demonstrativ als pietätvoll gebärden! Übrigens war ja Hölderlin nur eines der vielen Menschenschicksale, die sich hier abgespielt haben. Man darf über einer Berühmtheit nicht das Unberühmte vergessen. Fünf Jahre, bevor Walser zu schreiben aufhörte, schrieb er: Hölderlin hielt es für angezeigt, d.h. für taktvoll im 40. Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüssen, wodurch er zahlreichen Menschen Anlass gab, ihn aufs Unterhaltendste, Angenehmste zu beklagen. Rührung ist ja etwas überaus Bekömmliches, mithin Willkommenes. Über einen grossen und zugleich unglücklichen Menschen weinen, wie schön ist das! Wieviel zarten Gesprächsstoff liefern solche unalltägliche Existenzen.

Der zarte Gesprächsstoff ist immer noch da, der französische Germanist Pierre Bertaux hatte einst mit seiner These, dass Hölderlin ein edler Simulant gewesen sei (dem der Psychiater Uwe Henrik Peters energisch widersprach), für Furore gesorgt. Hölderlin und Walser, zwei Dichterschicksale. Walser hört auf zu schreiben, Hölderlin schreibt weiter.

Ihr Wälder schön an der Seite,
Am grünen Abhang gemahlt,
Wo ich umher mich leite,
Durch süße Ruhe bezahlt
Für jeden Stachel im Herzen,
Wenn dunkel mir ist der Sinn,
Den Kunst und Sinnen hat Schmerzen
Gekostet von Anbeginn.
Ihr lieblichen Bilder im Thale,
Zum Beispiel Gärten und Baum,
Und dann der Steg der schmale,
Der Bach zu sehen kaum,
Wie schön aus heiterer Ferne
Glänzt Einem das herrliche Bild
Der Landschaft, die ich gerne
Besuch’ in Witterung mild.
Die Gottheit freundlich geleitet
Und erstlich mit Blau,
Hernach mit Wolken bereitet,
Gebildet wölbig und grau,
Mit sengenden Blizen und Rollen
Des Donners, mit Reiz des Gefilds,
Mit Schönheit, die gequollen
Vom Quell ursprünglichen Bilds.

Das ist eins von dem halben Hundert der sogenannten Turmgedichte. Können wir daraus den Geisteszustand des Dichters ablesen? Ich höre erst einmal auf und stelle das ein. Vielleicht ein anderes Mal. So dacht ich. Nächstens mehr, wie Hölderlin am Ende von Hyperion sagt.

Hölderlin ist immer wieder in diesem Blog vorgekommen. Lesen Sie auch: Sonnenbräune, Hölderlin, Holterling, Michael Hamburger, Dichterfreund, Isaac von Sinclair, Herbstgedicht, Der Sommer, Vergil

Mittwoch, 18. März 2020

Schönheitssalon


Die Schnuckelige da in der Mitte ist Audrey Tautou in dem Film Vénus Beauté (1999), sie hatte mit diesem Film, der mit vier Césars prämiert wurde, ihren Durchbruch. Links neben ihr sitzt Nathalie Baye, die war schon richtig berühmt. 1973 hatte sie eine Nebenrolle als Scriptgirl in Truffauts Film Die amerikanische Nacht, gefolgt von einem Kurzauftritt in Der Mann, der die Frauen liebte. Danach bekam sie ihre erste große Hauptrolle als Partnerin Truffauts in dessen Film Das grüne Zimmer (1978). In dem Film über den Schönheitssalon Vénus Beauté Institut spielt sie eine vierzigjährige Kosmetikerin, die auf der Suche nach dem richtigen Mann ist. Nathalie Baye ist zwar schon fünfzig, aber das sieht man ihr nicht an, französische Filmschauspielerinnen sind alterslos.

Der Film Schöne Venus wurde am Montag von arte gezeigt, fünfzehn Jahre, nachdem arte die 25teilige TV Serie Vénus et Apollon, die aus dem Film entstanden war (es war die erste Serie, die arte produziert hatte), täglich gesendet hatte. Ich habe damals keine Folge verpasst. Die Serie hatte nicht mehr die Originalbesetzung, dafür aber eine Vielzahl von Cameo Auftritten von Berühmtheiten wie Marisa Berenson, Catherine Jacob und Marie-France Pisier, die schon in den ersten Filmen von Truffaut zu sehen gewesen war.

Man muss arte und 3sat ja dankbar sein, dass sie von Zeit zu Zeit einen französischen Film zeigen, der auch nach zwanzig Jahren immer noch frisch ist. Die Regisseurin Tonie Marshall hat mit Vénus Beauté eine romantic comedy gedreht, die manchmal auch ein wenig traurig ist. Ein Schönheitssalon in pastelligem Pink in einem Vorort von Paris. Eine Chefin (Bulle Ogier), drei Angestellte. Und viele Kundinnen, die auf der ewigen Suche nach Schönheit sind. Zu dieser Dame hier komme ich gleich noch.

Dennis Littrell konnte den Film nur empfehlen: See this for Nathalie Baye who gives the performance of a lifetime, simultaneously subtle and strong, vulnerable and willful. She makes us identify with her character and she makes us wish her love. Und er sagte in seiner Rezension: So this is a romantic comedy of sorts centered around a beauty parlor. 

However any resemblance to Hollywood movies in the same genre (Shampoo (1975) and Hairspray (1988) somehow come to mind) is purely coincidental. Here the salon is brightly and colorfully lit with a tinker bell as the door opens, and the clientele are eclectic to say the least: an exhibitionist who arrives in a raincoat and nothing else; a rich old man lusting after Tautou. Die Erwähnung der Exhibitionistin hat kein Rezensent ausgelassen. Sie kommt, nackt unter dem Regenmantel, in den Schönheitssalon, läuft nackt über die Flure und verläßt den Salon wieder mit ihrem Regenmantel. Es ist ein running gag, jeweils nur wenige Sekunden lang.

Als ich den Film vor zwanzig Jahren sah, fragte ich mich: Wer ist diese Frau? Ihr Name stand nicht auf dem Filmplakat. Heute weiß ich, wer sie ist. Sie heißt Claire Nebout, war eine Tänzerin, danach ein Mannequin (un métier sans intérêt) und wurde dann Schauspielerin. Alle drei Berufe haben damit zu tun, dass man seinen Körper zur Schau stellt. Und das tut Claire Nebout. In diesem Film für wenige Sekunden.

Ein Jahr später zog sie sich für den Photographen Jean-Pierre Larcher für den kurzen Dokumentarfilm Belles de Nuit aus. Für Larcher war das ein ein Dokumentarfilmprojekt, das er zehn Jahre später mit À la lueur des désirs und einem Photoband wiederholte. Die Barocklyriker hätten dafür kein Verständnis gehabt: Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand Dir endlich mit der Zeit umb deine Brüste streichen. Der liebliche Corall der Lippen wird verbleichen; Der Schultern warmer Schnee wird werden kalter Sand. Aber Claire Nebout wollte sich in À la lueur des désirs und Nus mit sechundvierzig noch einmal zeigen: c’est mon corps qui décidait de tout. Je comptais sur l’âge pour prendre ma revanche. Et bien voilà, nous y sommes.

Als Catherine Deneuve, die sich mit zweiundzwanzig für den Playboy ablichten ließ, in dem Alter von Nebouts erotischen Photos war, spielte sie in einem Film, der Nächtliche Sehnsucht: Hemmungslos hieß. Sie trug die ganze Zeit einen Pelzmantel und von hemmungslos war da gar nichts. Claire Nebout ist nicht so berühmt wie Catherine Deneuve (neben der sie übrigens 1986 in ihrem ersten Film Le Lieu du crime vor der Kamera steht), aber auf ihre Art ist die Schauspielerin, die in den letzten zehn Jahren häufiger auf der Bühne als auf dem Bildschirm zu sehen war, auch eine Berühmtheit.

Ein Schönheitssalon mit einer Glasfront und der Leuchtreklame Vénus Beauté Institut wird zu einem microcosme de la féminité (Gilles Verdiani). Und zu einem Schaufenster für Generationen von französischen Schauspielerinnen. Da ist Micheline Presle (die Mutter Regisseurin Tonie Marshall), die 1938 ihren ersten Film drehte, da ist Bulle Ogier, die ihren großen Erfolge in den sechziger Jahren hatte. Da ist Marie Rivière, die das Drehbuch zu Eric Rohmers wunderbarem Film Das grüne Leuchten schrieb, und da ist Audrey Tatou, die ihre Karriere noch vor sich hat, da ist Claude Jade, in die Truffaut so verliebt war. Und natürlich Nathalie Baye, who gives the performance of a lifetime. Und mittendrin für einen Augenblick Claire Nebout, die das Drehbuch als La cliente exhibitioniste verzeichnet. Dieser Film, der sich seine vier Césars verdient hat, beweist einmal mehr Truffauts Satz Le cinéma c'est de l'art de faire faire de jolies choses à de jolies femmes. Ob sie nun angezogen oder nackt sind.

Sonntag, 15. März 2020

Tagebücher


Hätte ich doch nur Tagebuch geführt. Dann hätte ich für meine hier vorliegenden Lebenserinnerungen nicht so mühsam in meinem Gedächtnis nach halbwegs belastbaren Daten und Fakten buddeln müssen. Auch ein penibel archivierter Briefwechsel (am besten mit bedeutenden Personen der Zeitgeschichte) wäre hilfreich gewesen. Aber zum Sammeln fehlt mir das Talent und ich korrespondiere kaum – weil ich nicht gern schreibe, schreibt Hannes Wader in seiner Autobiographie Trotz Alledem: Mein Leben. Auch wenn er nicht gern schreibt, sind es beinahe sechshundert Seiten Text geworden. Im Gegensatz zu Hannes Wader schreibe ich gern, ich habe auch jahrezehntelang Tagebücher vollgeschrieben. Und über Tagebücher möchte ich heute einige Zeilen schreiben. Nicht dass meine Tagebücher wirklich interessant wären, und bei einem Diary Slam will ich auch nicht auftreten.

Die Gabi hat mir im letzten Jahr ein Buch von Meike Winnemuth geschenkt. Die kennt sie, sie war mit ihr auf einer Schule und sieht sie manchmal bei Klassentreffen wieder. Gabi war überrascht, dass ich Meike Winnemuth schon kannte. Ich lese sie ständig. Meike Winnemuth schreibt zwar nicht immer über Mode, aber sie hat einmal ein witziges modisches Experiment gemacht: sie hat ein Jahr lang dieses kleine Blaue getragen. Und in ihrem Blog darüber geschrieben. Ich in meinem auch. Meike Winnemuth hat eine Kolumne im Stern, die lese ich immer, und so habe ich natürlich auch gelesen, was sie über Tagebücher geschrieben hat.

In ihrer Kolumne zitiert Winnemuth Joan Didion, weil 1968 in deren Buch Slouching Towards Bethlehem (der Link führt zu einem Volltext! Unglaublich, dass es so etwas gibt) dieser wunderbare Essay On Keeping a Notebook stand. Ich mag die amerikanische Schriftstellerin sehr, ich glaube, dass man das in dem langen Post Joan Didion merken kann. Ich wollte, ich könnte so schreiben wie sie. Oder so wie Adam Gopnik. Ich bemühe mich immer, aber irgendwie habe ich auch meinen ganz eigenen Stil, das merke ich, wenn ich in meine alten Tagebücher schaue. Leider gibt es dieses witzige gadget bei der FAZ nicht mehr, bei dem man unter der Überschrift Ich schreibe wie Texte eingeben konnte, um zu erfahren, wer man stilistisch war. Bei beinahe jedem Text, den ich eingab, schrieb ich wie Theodor Fontane.

Tagebücher haben mit unserem Ich zu tun, dem Ich, das man einmal war: ... our notebooks give us away, for however dutifully we record what we see around us, the common denominator of all we see is always, transparently, shamelessly, the implacable “I.” We are not talking here about the kind of notebook that is patently for public consumption, a structural conceit for binding together a series of graceful pensées; we are talking about something private, about bits of the mind’s string too short to use, an indiscriminate and erratic assemblage with meaning only for its maker.

Meine Tagebücher aus den Sixties sind wieder aufgetaucht, sie waren zehn Jahre lang verschwunden. Als ich vor elf Jahren meine Bremensien schrieb, habe ich sie manchmal benutzt. Danach habe ich sie in eine Plastiktüte gepackt und sie in die Butzekammer getan. Als ich den schönen großen Flachbildschirm kaufte, wanderte der alte voluminöse Bildschirm in die Butzekammer, und die Plastiktüte mit den Tagebüchern musste weichen. Bekam einen neuen Platz in einem Schrank und wurde dort vergessen.

Ich fand sie durch einen Zufall wieder, fünfzig Jahre Tagebücher. Fünfzig Jahre moi-même. Oder ein anderes Ich. I think we are well-advised to keep on nodding terms with the people we used to be, whether we find them attractive company or not. Otherwise they turn up unannounced and surprise us, come hammering on the mind's door at 4 a.m. of a bad night and demand to know who deserted them, who betrayed them, who is going to make amends. We forget all too soon the things we thought we could never forget. We forget the loves and the betrayals alike, forget what we whispered and what we screamed, forget who we were, hat Joan Didion geschrieben.

Aber es steht nichts über die Ichs drin, die in einer dunklen Nacht fragen könnten who deserted them, who betrayed them, who is going to make amends. Die Tagebücher verzeichnen, was ich gelesen habe, welche Filme ich gesehen habe (wie Truffauts Sie küßten und sie schlugen ihn oder Bergmans Das siebente Siegel), wann ich in der Oper war. Zum Beispiel in Mozarts Zauberflöte, eine Aufführung bei der die Bremer Freimaurerlogen das Theater am Goetheplatz gemietet hatten. Alle Damen im Abendkleid, die Herren im Frack. Sieht man selten. Aufsatzthemen stehen auch im Tagebuch: Deuten Sie die Erscheinungen des Weiblichen in 'Faust' als Symbol! Ich würde ja zu gerne wissen, was ich damals geschrieben habe. Mein damaliger Deutschlehrer war eine Katastrophe, kein abgeschlossenes Studium, aber stolz auf seine Napola; man stellte ja damals bei dem Lehrermangel viele ein, die keine guten Lehrer waren. Aber, wie der Volksmund sagt, schlechte Lehrer sind auch eine gute Schule.

Meine Tagebücher sind Tagebücher für den täglichen Gebrauch. Meine Leseliste für das Jahr 1962 habe ich ja schon einmal in den Blog gestellt, die füllt die ersten Seiten des Tagebuchs. Aber sonst steht da nicht furchtbar viel drin, ich bin nicht der klassische Tagebuchautor, der mit Samuel Pepys oder Ernst Jünger konkurrieren kann. Ich bleibe mal bei dem Jahr 1962, weil das rote Tagebuch für 1962 das erste war, das ich aus der Plastiktüte holte. Dass ich am Donnerstag, dem 27. September in der Komödie am Kurfürstendamm 206 Juliette Gréco gesehen habe, steht im Tagebuch. Aber da steht nur der Name, nicht dass ich hinter dem schönsten Mann Deutschlands, dem wohlondulierten Paul Hubschmid, einem Sitzriesen, saß und nur wenig von Juliette sehen konnte.

Die Schule bietet uns in diesem Jahr eine Studienreise nach KölnMainz und Trier. Es ist ein Experiment, das nicht wiederholt wird. Ich glaube, ich war der einzige, der die geforderte 20-seitige Studienarbeit abgegeben hat. Weshalb ich die Deckengemälde von St Paulin in Trier noch nicht in diesen Blog geschrieben habe, das weiß ich nicht, meine Arbeit habe ich noch. Aber der Höhepunkt der kulturellen Ereignisse des Jahres bleibt doch Juliette. Nicht die Aufführung von Bunbury, or the Importance of Being Earnest (in englischer Sprache), wo ich auf der Bühne stehe. Nicht die Aufführung von Arthur Millers Death of a Salesman in Bremerhaven, zu der wir nachts in Bussen der US Army gebracht werden.

Eine Konstante des Tagebuchs ist jede Woche der Eintrag Jugendheim, das ist unser Malkurs, der hier schon einen Post hat. Wenn ich mein gutes Gedächtnis nicht hätte, könnte ich aus den sparsamen Eintragungen nichts herauslesen. Aber so weiß ich, dass das Wort Strandlust bedeutet, dass ich mir da Adolf von Thadden angehört habe. Der war in unserem Ort, weil ihm der Ziegeleibesitzer Fritze Thielen die NPD finanzierte. Er gab sich moderat, die Wölfe kamen im Schafspelz daher. Er war ziemlich englisch gekleidet. Das hat der Herr Gauland mit ihm gemein. Ein Jahr vorher stand auch schon einmal Strandlust in meinem Tagebuch, das war der Auftritt von Franz-Josef Strauß, der wie ein neuer Nazi auf dem Podium wütete.

Im Juli 1962 findet sich ein Eintrag, der Rotterdam Ekke Seven Seas lautet, da kam der Ekke aus Amerika zurück. All das, was in diesem Post steht, steht nicht in meinem Tagebuch. Auch nicht der Rest des Tages in Rotterdam oder der Rest des Hollandurlaubs. Nichts von der Fahrt mit dem kaputten Opel von Kapitän Janssen durch Holland in der Nacht. Nichts davon, dass ich am nächsten Morgen im Bus nach Langeoog sitze, und die Ingrid hinter mir sitzt und mit mir flirten will. Von der Ingrid, die heute immer wieder in diesem Blog auftaucht, steht bis auf ihren Geburtstag überhaupt nichts in dem Tagebuch. Das wird sich im Laufe der Jahre ändern, das habe ich schon in dem Tagebuch aus dem Jahre 1968 gesehen. Und ich weiß auch noch genau, dass der kryptische Eintrag eines Straßennamens wie Weizenfurt eine blonde Frau bedeutete, die ungeheuer gut küssen konnte.

Das ist das Eigentümliche an Tagebuchblättern, wenn sie echt sind, dass sie keine Ereignisse enthalten. Sobald die Ereignisse ins Leben eingreifen, verlieren sich Freude, Interesse und Zeit für das Tagebuch, und der Mensch findet die spontane Naivität des Kindes oder des Tieres in seiner Wildnis wieder, hat Frank Wedekind in sein Tagebuch geschrieben. In einem Punkt kann ich das bestätigen. Das wichtigste Ereignis des Jahres 1962 findet sich nicht im Tagebuch: die große Sturmflut im Februar. So sah das bei uns damals am Utkiek aus. Das Ereignis steht 2012 in meinem Post Hochwasser, nicht im Tagebuch. Seltsam.

Fange ich jetzt an, die alten Tagebücher zu lesen? Ich habe ja die letzten zehn Jahre gut ohne die Tagebücher gelebt. Mein Gedächtnis funktioniert noch. Und ich habe Berge von Photos, die die Erinnerung stützen. Maria Popova schreibt ihrem Blog Brain Pickings über Joan Didions Essay: Though the essay was originally written nearly half a century ago, the insights at its heart apply to much of our modern record-keeping, from blogging to Twitter to Instagram. Von Twitter habe ich keine Ahnung, das überlasse ich dem Analphabeten im Weißen Haus, was Instagram ist, weiß ich nicht. Was es bedeutet, ein Blogger zu sein, das habe ich inzwischen begriffen. Ich kann mich nicht mit Maria Popova vergleichen, die angeblich eine Million Leser im Monat hat (hatte Joan Didion je so viele Leser?), ich komme mal gerade auf tausend Leser am Tag.

Es war mir klar, dass ein Blog eine Art Tagebuch ist. Das Portmanteau Wort Blog ist gebildet aus dem b vom web und dem log, das wir auch im Logbuch finden. Bevor das Wort Blog verwendet wurde, redete man vom Weblog, und die ersten dieser Weblogs wurden auch Online-Tagebücher bezeichnet. Irgendwie war mir das klar, denn als ich anfing zu bloggen, habe ich nichts mehr in die Tagebücher geschrieben. Ich glaube, ich packe die jetzt mal wieder weg. Ich weiß jetzt ja, wo sie sind, ich kann immer wieder hineinschauen, wenn mir danach ist. It is a good idea, then, to keep in touch, and I suppose that keeping in touch is what notebooks are all about. And we are all on our own when it comes to keeping those lines open to ourselves: your notebook will never help me, nor mine you.