Dienstag, 18. September 2018

Theater


Michael Caine hat in seiner Autobiographie What’s it all About? gesagt, dass man das wird, wovor man am meisten Angst hat. Er ist Schauspieler geworden. Ich habe keine Angst vor der Bühne, ich werde auch kein Schauspieler. Ich habe keine theatralische Sendung wie Wilhelm Meister oder Anton Reiser. Meine Bühne als Schauspieler werden für mehrere Jahrzehnte die Quadratmeter vor der Wandtafel in den Hörsälen der Universität sein. Da bin ich eine kleine Rampensau, die Studenten lieben das.

Und doch habe ich ein wenig Erfahrung auf den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten. Ich sage nur: Schultheater. Hieß damals noch Laienspiel oder Spielschar, diese Namen sagen schon alles. Hätte ich gar nicht mehr als Kurs nehmen dürfen, weil ich mein Wahlfachkontingent mit Kunsterziehung und Französisch schon voll habe, aber man macht für mich eine Ausnahme. Ich wollte ja auch nur zum Theater, weil ich Bühnenbilder gestalten wollte. Hätte man mich gelassen, aus mir wäre Robert Wilson geworden. Oder Wilfried Minks, der jetzt am Bremer Theater revolutionäre Bühnenbilder gestaltet. So aber werde ich, da die Position des Bühnenbildners schon von einem älteren Schüler besetzt ist, Regieassistent und Souffleur.

Bei Was ihr Wollt habe ich noch die Kulissen unter der Anleitung von Rolf B. ausgemalt, aber das ist frustrierend unter meinen Fähigkeiten. Ich übernehme kleine Nebenrollen: ein Ritter in Der junge Parzival, ein Staatsrat in Leonce und Lena, den Butler Lane in Bunbury or, The Importance of Being Earnest. Henry von Heiselers Stück über den jungen Parzival ist ein ziemlicher Fehlgriff des Leiters der Spielschar, das sage ich ihm auch, so was sollte man nicht aufführen. Poetische Stücke wie Leonce und Lena und Eichendorffs selten gespieltes Stück Die Freier (wo ich der Souffleur bin) sind O.K., von Heiselers Parzival nicht.

Wolframs Parzival lese ich damals zweisprachig, Wolfram von Eschenbachs Original und die neuhochdeutsche Übersetzung. Es steht ja damals noch (heute in den Zeiten von G-8 und Turboabitur undenkbar) Mittelhochdeutsch auf dem Unterrichtsplan. Die poetische Sprache fasziniert mich immer wieder:

Do er die bluotes zäher sach
ûf dem sné (der was al wîz),
dô dâhter ‘wer hât sînen vlîz
gewant an diese varwe clâr?
Cundwier âmûrs, sich mac für wâr
Disiu varwe dir gelîchen.

Blutstropfenszene, werden die Germanisten ungerührt sagen. Für mich ist das einer der Höhepunkte der deutschen Dichtung, Goethe hin oder her. Goethe und ich werden nie Freunde. Jimmy kann einen großen Teil seines Werkes auswendig, da ähnelt er Erich Trunz. Ich mache einen Bogen um Goethe, leider steht er im Lehrplan. Ich muss in der 13. Klasse einen Aufsatz mit dem Thema Deuten Sie die Erscheinungen des Weiblichen in Faust als Symbol! schreiben. Ich würde jetzt ja gerne wissen, was ich damals dazu geschrieben habe. Mich interessieren in dieser Zeit ganz andere Formen des Weiblichen, wie zum Beispiel die mit der Stupsnase und den Sommersprossen.

Aber Wolfram von Eschenbach, das ist wirkliche Literatur. Ich schreibe viele seiner Zeilen in meine eigenen Gedichte hinein (wenn man mit achtzehn nicht dichtet, hat man im Leben etwas falsch gemacht), diese Montagemethode habe ich von Ezra Pound. Karl Lachmanns Wolfram von Eschenbach habe ich immer noch. Vielleicht sollte man an den Gymnasien mal Dieter Kühns Der Parzival des Wolfram von Eschenbach zur Pflichtlektüre machen.

Die Inszenierung von Henry von Heiseler ist auch deshalb ein Flop, weil eine der Hauptrollen an einen Schüler gegangen ist, der furchtbar doof ist und nicht das geringste schauspielerische Talent hat. Er fuchtelt mit seinem Holzschwert herum und sagt seine Verse auf, Know your lines and don't bump into the furniture. Wir haben uns immer ein bisschen für ihn geschämt. Später wird er Staatsminister für Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Edu Schaefer, der Spielleiter, heißt gar nicht Eduard, aber in der ganzen Schule heißt er so. Vielleicht hat er mal versucht, die Wahlverwandtschaften im Unterricht lesen zu lassen. Er nimmt die literaturkritischen Anmerkungen seines neuen Regieassistenten durchaus ernst und macht mir eine erstaunliche Offerte.

Ich darf mir jede Woche ein Buch aus der Lehrerbibliothek entleihen. Dafür muss ich jede Woche durch das ganze Lehrerzimmer, zuerst mit klopfendem Herzen, in die Lehrerbibliothek. Hier steht die gesamte deutsche Literatur, Joseph Kürschners Deutsche National-Litteratur. So etwas kaufen Germanistikinstitute und Universitätsbibliotheken. Abschreckend. Eigentlich lese ich jetzt ja Prousts À la recherche du temps perdu, aber daneben arbeite ich mich nun in den nächsten Jahren von Regal zu Regal. Mein Germanistikstudium wird mir nicht mehr viel bieten können. Wer außer mir hat freiwillig Achim von Arnims Die Kronenwächter gelesen? Dr Hans Ludwig Schaefer bin ich heute noch dankbar, das habe ich ihm vor zehn Jahren auch gesagt.

Das Schultheater wird sich entwickeln, „Laienspiel“ wird Jahrzehnte später ein Begriff sein, den man nur noch in Oberammergau gelten lässt, das Schultheater wird professionell werden, ich merke das in den achtziger Jahren, wenn ich anstelle meiner erkrankten Frau die Theater AG eines Kieler Gymnasiums leite. Gerade wurde übrigens in Kiel das 34. Schultheaterfestival (das größte Schultheaterfestival Europas) eröffnet, das zeigt, dass das Schultheater einen ganz anderen Stellenwert bekommen hat. Die Langeweile, die das Schultheater in den 60er Jahren verbreitete, lag damals nicht an unserer Schule, die anderen Schulen machten auch kein anderes Theater. Die stinklangweilige Inszenierung von Aucassin und Nicolette in der PH Bremen habe ich nur deshalb ertragen, weil Ingrid darin mitspielt. Aber sie rettet das Stück auch nicht. Dabei wäre das so einfach, im Theater mit hübschen Frauen hübsche Dinge zu machen. Um Truffaut etwas abzuwandeln. Wir tapsen auf den Bühnen der Aulen vor dem Hintergrund der Orgeln mit schweren Fußfesseln. Die deutsche Bildung und die tiefere Bedeutung machen uns das Gehen schwer. Wenn wir Eichendorffs Die Freier oder Büchnes Leonce und Lena ein wenig gegen den Strich gebürstet hätten, was hätte aus uns werden können?

In Bremen zeigt man uns unter der Ägide von Kurt Hübner, der seinen jungen Wilden wie Zadek und Peter Stein freie Hand lässt, wie Theater aussehen könnte. Meine Eltern mögen diese Sorte Theater nicht, und so komme ich in den Genuss ihrer Abo Karten, von Torquato Tasso bis Hamlet. Man muss ehrlicherweise sagen, dass nicht alles, was Zadek auf die Bühne bringt, großes Theater ist. Manches ist schlicht nur Klamauk. Ein Theatererlebnis sollte ich noch erwähnen, den Besuch einer amerikanischen Aufführung von Arthur Millers Death of a Salesman in einer Kaserne in Bremerhaven. Die Bühne gehört zum Freizeitzentrum der amerikanischen Truppen, und dieses Gebäude bietet neben der Bühne alles, etwas der GI für die Zeit nach dem Dienst braucht. Säle voller Tischtennisplatten und hunderte von fetten, großen Ledersesseln. Die Bühne verzichtet angenehmerweise auf ein Bühnenbild, das ist schon mal nicht schlecht, der Regisseur macht alles mit Licht und Scheinwerfern. Bleibt einem bei Willy Lomans Erinnerungsszenen auch keine andere Wahl. Und dann der ganze Text im Original.

Das Schönste aber ist die Fahrt zurück. Wir sind mit riesigen grünen Armeebussen gekommen, wir werden mit den gleichen Bussen zurückgebracht. Die haben keine Fenster, lediglich oben im Dach gekurvte Glasluken. Es ist schon nach Mitternacht, wir sind voll von Arthur Miller und dem gescheiterten American Dream, und wir sind müde. Aber wenn man sich im Sitz zurücklehnt, dann kann man da oben in den gebogenen Fenstern den blauen Nachthimmel, Wolken, einzelne Sterne, Zweige von großen Bäumen und Telegraphenleitungen sehen. Das ist auch ein schönes Schauspiel. Jetzt ist schon Montagmorgen, in der ersten Stunde wird es französische Grammatik geben, in der zweiten die Declaration of Independence. Die Phrase the pursuit of happiness passt prima zu Willy Loman. Jefferson hat das in letzter Minute geändert, eigentlich war nicht von happiness die Rede, sondern von property. Daran denken Amerikaner ja als erstes. Hätte auch zu Willy Loman gepasst.

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