Freitag, 31. Mai 2024

Cold Harbor 1864

Ich mache das ja nicht so häufig, dass ich einen Post noch einmal einstelle, aber heute tue ich es. Weil heute vor hundertsechzig Jahren die Schlacht von Cold Harbor begann. Der letzte Sieg von General Robert E. Lee über die Armee der Nordstaaten. Ich habe 2016 schon darüber geschrieben. Damals hieß der Post Verdun - Cold Harbor. Verdun war 2016 wichtig, es war der hundertste Jahrestag der Schlacht von Verdun. Man konnte damals leicht über einen lange vergangenen Krieg reden, man hatte keinen Krieg vor der Haustür. Was ist von der Rede von Angela Merkel heute noch Bedeutung? Der Élysée Vertrag von 1963 hat uns mit den Franzosen, die für meinen Opa noch der Erbfeind waren, näher gebracht. In dem Vertrag steht die militärische Zusammenarbeit vor der kulturellen Zusammenarbeit. Es wäre schön, wenn es anders wäre. Immer weniger Schüler in Deutschland lernen Französisch. Ich hatte 2016 Verdun und Cold Harbor miteinander verbunden, weil beide Schlachten etwas miteinander zu tun haben. Verdun beginnt in Cold Harbor. 

Wie gedenkt man solcher Tage? Wie gedenkt man ihrer im Zeichen des Krieges? Das Schlimmste, das 2016 passieren konnte, war dass man Volker Schlöndorff die Inszenierung der Feier überließ. Der alberne Totentanz von Verdun war schamlos, titelte die Welt, und wo sie recht hat, da hat sie recht. Was ich 2016 über Cold Harbor geschrieben habe, könnte ich heute nicht besser schreiben. Deshalb stelle ich es (ganz leicht überarbeitet) noch einmal ein. Und den Teil über Verdun lasse ich auch drin. Weil ich die Bilder aus dem Antikriegsfilm La vie et rien d'autre von Bertrand Tavernier, der vom Auffinden und Identifizieren der toten Soldaten Frankreichs handelt, brauche. Sie können den Film anklicken, das konnte man 2016 noch nicht. So wie auf dem Bild da oben hat die Schlacht von Cold Harbor nicht ausgesehen, aber die falschen bunten Bilder halten sich immer im Gedächtnis. Cold Harbor sah eher so aus wie das Bild von Verdun im nächsten Absatz.

Die Schlacht von Verdun war 2016 ein großes Thema. Es hat für das Fernsehen inszenierte Spektakel gegeben, die wenig mit der schrecklichen Wirklichkeit von Verdun zu tun hatten. Die Intelligenz, die man in England bei der Inszenierung für die Eröffnung der Olympischen Spiele hatte (lesen Sie hier mehr) hatte, die besaß Volker Schlöndorff nicht. 

Die Inszenierung von Merkel und Hollande im blutrot ausgeleuchteten Keller von Douaumont schien aus der Welt der Gothic Novel zu kommen. Die Schwarz-weiß Bilder aus dem Ersten Weltkrieg will heute niemand mehr sehen, alles muss schön bunt sein. Und es gibt längst ein Videospiel, das Verdun heißt, geht's noch perverser? Vielleicht hätten sich Merkel und Hollande Bertrand Taverniers Film Das Leben und nichts anderes (der zum Teil in Verdun gedreht wurde) zum Vorbild dafür nehmen sollen, wie man eine Gedenkfeier richtig inszeniert.

In den achtziger Jahren konnten die Franzosen das noch, wenn man an Mitterand mit seiner Rose im Panthéon denkt. Das war doch eine Inszenierung, die einen Oscar verdient hätte. Und wenig später Mitterand und Kohl, die der Toten von Verdun auf eine ganz andere Art und Weise - und würdiger - gedachten als das Spektakel von Volker Schlöndorff das tat.

Als ich zur Schule kam, wusste ich schon alles über Verdun. Weil mein Opa mir seinen Krieg erzählt hatte. Er hatte seine Photoalben mit den schon gelbstichig gewordenen Photos auf den Knien, von Zeit zu Zeit griff er zu einem Buch über den Krieg, das viele Abbildungen enthielt. Und so bekam ich Woche für Woche eine Lektion über den Ersten Weltkrieg, bis wir zum Kemmelberg, das heißt der Vierten Flandernschlacht, kamen. Für den pensionierten Lehrer war dies die Fortsetzung der Unterrichtstätigkeit mit anderen Mitteln. In der Ersten Flandernschlacht hatte Opa sein Eisernes Kreuz erhalten, Verdun blieb dem Hauptmann der Reserve erspart. Mein Opa konnte Französisch, aber er sprach es nicht. Weil, und das habe ich schon gesagt, die Franzosen für ihn immer noch der Erbfeind waren. Er war damit nicht der einzige in Deutschland.

Ein halbes Jahrhundert vor Verdun hat es im amerikanischen Bürgerkrieg schon einmal eine Schlacht gegeben, die Verdun ähnelte, die viel von dem Grauen des modernen Krieges hat. Wenn man im Zusammenhang mit dem Krieg das Wort modern verwendet, dann meint man damit den Einsatz immer besserer Technik, um immer mehr Gegner zu vernichten. Ich bin nicht der Erste, der eine Verbindung von Verdun und Cold Harbour sieht. An der Uni Greifswald hat es im Jahr 2015 eine Vorlesung von Robert Riemer mit dem Titel 50 Jahre vor Verdun - Cold Harbour und Petersburg als frühe Beispiele für den industrialisierten Massenkrieg gegeben. Die Schlacht von Cold Harbor ist das Ende von General Ulysses S. Grants Overland Campaign, die 1864 den ganzen Mai über geht. Grant hatte gerade den neuen Dienstgrad eines Generalleutnants bekommen (den zuvor nur Washington und Winfield Scott gehabt hatten) und war Oberkommandierender der Armee geworden.

Wäre es nach Mrs Lincoln gegangen, wäre das nicht geschehen: He is a butcher and is not fit to be at the head of an army. Yes, he generally manages to claim a victory, but such a victory! He loses two men to the enemy's one. He has no management, no regard for life, sagt sie ihrem Gatten. Grant will jetzt eine Entscheidung, er will den Showdown: I propose to fight it out on this line if it takes all summer. Hatten sich bisher im Bürgerkrieg nach Schlachten die Truppen beider Seiten zurückgezogen, sich regeneriert und neu aufgestellt, setzt Grant jetzt auf ständigen Kampf. Egal ob er eine Schlacht verliert, er beginnt beinahe am nächsten Tag eine neue. Die Schlachten dauern jetzt auch länger, die von Spotsylvania Court House, die am 9. Mai 1864 beginnt, wird zwölf Tage dauern.

I tell you many a man has gone crazy since this campaign began from the terrible pressure on mind & body, sagt ein Hauptmann der Nordstaaten. Er ist kriegsmüde. Im Mai 1864 hatte er seinen Eltern geschrieben: I have made up my mind to stay on the staff if possible till the end of the campaign & then if I am alive, I shall resign—I have felt for sometime that I didn’t any longer believe in this being a duty & so I mean to leave at the end of the campaign as I said if I’m not killed before. Cold Harbor wird seine zehnte Schlacht sein. Er wird sie überleben, wie er zwei schwere Verwundungen überlebt hat. Jahrzehnte später wird er dem Präsidenten Franklin Delano Roosevelt erzählen, wie man ihn als jungen Leutnant auf dem Schlachtfeld liegen ließ, weil man ihn für tot hielt. Da ist Oliver Wendell Holmes schon über neunzig und ist gerade als Richter des Supreme Court zurückgetreten. Wenn man sich den amerikanischen Supreme Court heute anguckt, wird man niemanden mehr finden, der dem Juristen Oliver Wendell Holmes gleichkäme. Wir sollten nicht vergessen, dass der oberste Richter Roger B. Taney mit einer Rechtsprechung den Bürgerkrieg erst möglich gemacht hat.

General Lee ist in die Defensive gezwungen, das mag er nicht besonders, er greift lieber an. Seine Armee ist nur halb so groß wie die Armee des Nordens, aber Ulysses S. Grant wird in der Overland Campaign Verluste haben, die sich in der Größenordnung von Lees Armee bewegen. Mehr als 52.000 Soldaten wird er im Mai 1864 verlieren. War of attrition nennt man so etwas, ein Abnutzungskrieg, Verdun war nichts anderes. Am 3. Juni 1864 will Grant mit seinem Angriff auf die Truppen des Südens den Vernichtungsschlag. Es wird für den Norden eine Katastrophe. We felt it was murder, not war, or at best a very serious mistake had been made, schreibt der Soldat Newell Smith vom 155. New York Regiment.

Es gibt keinen Hafen in Cold Harbor, es ist da auch nicht kalt. Es gibt eine Cold Harbor Tavern, die einem Isaac Burnett gehört, der angeblich nur kalte Speisen serviert. Cold Harbor ist für Lee keine unbekannte Gegend, zwei Jahre zuvor hat er hier schon einmal eine Schlacht geschlagen. Cold Harbor ist zehn Meilen von Richmond, der Hauptstadt des Südens, entfernt. Da glaubte man schon 1861 ganz schnell einmarschieren zu können. Die Schlacht von Bull Run wurde zu einer Katastrophe für den Norden. Die Schlacht von Cold Harbor drei Jahre später auch. Grant wird nach der Schlacht über den Angriff vom 3. Juni 1864 sagen: I regret this assault more than any one I have ever ordered. I regarded it as a stern necessity, and believed it would bring compensating results; but, as it has proved, no advantages have been gained sufficient to justify the heavy losses suffered.

Am Ende von Grants großem Feldzug geht alles schief, was schiefgehen kann. Man hat in Cold Harbor vergessen, eine solide Aufklärung zu betreiben, jede der kämpfenden Einheiten nahm an, dass die andere das gemacht hätte. General Meade, der Sieger von Gettysburg, hat jetzt Grant neben sich, vor dem hat er Angst. Man weiß so gut wie nichts über das Befestigungssystem, das Lee in wenigen Tagen aufgebaut hat. Das ein Journalist so beschrieb: They are intricate, zig-zagged lines within lines, lines protecting flanks of lines. Lines built to enfilade an opposing line, lines within which lies a battery ... a maze and labyrinth of works within works and works without works. Einzig General Francis Barlow wird es für einen kurzen Augenblick gelingen, in die Befestigungen des Südens einzudringen, aber dann muss er sich zurückziehen. General Barlow Charging the Enemy at Cold Harbor heißt dieses Bild, auf dem nichts von dem Grauen zu sehen ist. Diese schönen Bilder vom Krieg, auf denen wir nie erkennen können, was geschieht, werden den Photographien weichen.

Francis Barlow, der wegen seines jugendlichen Aussehens auch the Boy General genannt wird, ist ein Vorzeigesoldat der Union. Barlow (auf diesem Photo ganz links, rechts neben ihm sitzend General Winfried Scott Hancock) ist der junge Dandy, der sich niemals an die Vorschriften der Dienstkleidung hält. Nur auf dem Gemälde von seinem Cousin Winslow Homer ist er korrekt gekleidet. Er trägt auf dem Photo seine Uniformjacke gegen alle Vorschriften aufgeknöpft. Wahrscheinlich sollen wir sein kariertes Hemd mit dem weißen Kragen bewundern, das sich in keiner Dienstvorschrift findet. Und dann diese arrogante überlegene Pose - wenn einer sich zu inszenieren versteht, dann ist das Francis Barlow. Die Presse liebt ihn, denn wenn jemand aussieht wie Paul Newman, Steve McQueen oder Robert Redford, dann kann man den auch gut verkaufen. Wo es doch jetzt Mathew Brady und die Photographie gibt. Neben dem Krimkrieg ist dies der erste photographierte Krieg der Geschichte. Von nun an haben wir Bilder von allem, vor allem von Tod und Zerstörung. Sie haben aber keinen Lerneffekt für die Menschheit, die Bilder von Tod und Zerstörung haben wir heute noch.

Um halb fünf am Morgen des 3. Juni hatte der Angriff der Nordstaaten begonnen. Die Soldaten hatten ihre Namen auf Zettel geschrieben, die sie in ihrer Uniform befestigten, sie ahnten, was kommen würde. Sie marschieren im Nebel in ihr Unheil. Es gibt wie immer zuerst ein Artilleriefeuer, aber kaum ist das zu Ende, antwortet der Süden mit einem konzentrierten Gewehrfeuer aus tausenden von Gewehren. Ein Artillerist des Nordens wird das beschreiben als: It had the fury of the Wilderness musketry with the thunders of the Gettysburg artillery super-added. It was simply terrific.

Der Angriff gegen die Schützengräben Lees ist in wenigen Minuten zu Ende. General Hancock verliert dreitausend Mann in einer Stunde. Um sieben Uhr erteilt Grant dem General Meade, der als  Kommandeur der Potomac Armee die Schlacht für ihn schlagen soll,  noch einen zweiten Angriffsbefehl. Die Soldaten weigern sich, dem nachzukommen. Ihre Kommandeure auch. General William Baldy Smith hält den Befehl für a wanton waste of life. Um halb eins teilt Grant dem General Meade mit, dass die Schlacht verloren sei. Grant schreibt ein schönes Englisch, Gertrude Stein hat seinen Stil bewundert. Er kann nicht schreiben: We have lost the battle. Er schreibt: The opinion of the corps commanders not being sanguine of success in case an assault is ordered, you may direct a suspension of further advance for the present. Seinen Präsidenten wird Grant erst einmal belügen: We assaulted at 4:30 this morning, driving the enemy within his intrenchments at all points, but without gaining any decisive advantage. Our troops now occupy a position close to the enemy, some places within 50 yards, and are intrenching. Our loss was not severe, nor do I suppose the enemy to have lost heavily, steht in dem Telegramm, das er nach Washington schickt. Nichts davon ist wahr, die Verluste der Nordstaaten sind gewaltig.

Grant will nicht anerkennen, dass er verloren hat. Er weigert sich tagelang, einen Unterhändler mit einer weißen Flagge zu Lee zu schicken, damit die Verwundeten und Toten auf dem Schlachtfeld geborgen werden können. Die Zeit der Ritterlichkeit ist vorbei. Das ist eine weitere Katastrophe. Grant delayed sending a flag of truce to General Lee for this purpose because it would amount to an admission that he had been beaten on the 3d of June. It now seems incredible that he should, for a moment, have supposed that any other view could be taken of that action, wird General Francis Amasa Walker schreiben. Kein Mann aus dem Süden, sondern ein Offizier im Stab von General Hancock. Es wird noch vier Tage dauern, bis die Toten und Verwundeten geborgen werden können. Falls dann noch ein Verwundeter gelebt haben sollte. Es sind die Farbigen, die die Toten wegräumen dürfen, wie man auf diesem Photo sehen kann.

Die Schlacht von Spotsylvania Court House war die erste Schlacht des amerikanischen Bürgerkrieges gewesen, in der es eine Front aus ausgebauten Grabensystemen und Brustwehren gab. Die Schlacht zeigte, wie wenig später Cold Harbor, schon eindrucksvoll, dass bei dieser Art des Kampfes ein Angriff der Infanterie auf gut ausgebaute Stellungen reiner Wahnsinn war. Und Spotsylvania und Cold Harbor werden ihre Spuren bei den Soldaten des Nordens hinterlassen: The men feel just at present a great horror and dread of attacking earthworks again and the unusual loss of officers, which leave regiments in command of lieutenants, and brigades in command of inexperienced officers, leaves us in a very unfavorable condition for such enterprises, wird General Barlow seinen Vorgesetzen schreiben.

Cold Harbor war der letzte Sieg des Südens, General Jubal Early muss bei seinem Angriff auf Washington zehn Meilen vor dem Weißen Haus wieder abdrehen. We haven’t taken Washington, but we scared Abe Lincoln like hell, wird er seinem Adjutanten sagen. Das stimmt wohl, Grant schickt aus lauter Angst per Bahn und Schiff ein ganzes Korps gegen die kleine Truppe von General Early. Edward Porter Alexander, der bei Gettysburg die Artillerie der Konföderierten kommandierte, hat Cold Harbor als our last, and perhaps our highest tide bezeichnet. Moltke hielt den Bürgerkrieg für Scharmützel zweier bewaffneter Pöbelhaufen, die sich durch das Land verfolgten und von denen nichts gelernt werden kann. Dennoch sind genügend Militärbeobachter aus Europa in Amerika (unter anderem der junge Graf Zeppelin), die Berichte über die Schlacht von Cold Harbor werden in den Generalstäben studiert werden. Man zieht aus Kriegen nie die Lehre, wie man sie vermeidet, sondern immer nur die, wie man noch effektiver töten kann.

Einen Tag nach der Schlacht wird der Leutnant Curtis Clay Pollock vom 48 Pensylvania Regiment seiner Mutter schreiben: My Dear Ma, I was very much pleased to receive your letters, the one of the 20th a few days ago and the one of the 27th yesterday. We had another severe engagement yesterday and lost pretty heavily. Alex Govan and James Alison were killed. Both were hit in the head and killed almost instantly. Sergt. C.F. Kuentzler was wounded severely in the arm. John Hutton was struck on the back of the fingers and cut a little. He will be back to the Company today. William Martin was struck in the ankle and bruised pretty badly. The loss in the Regt. is 10 killed and 42 wounded I do not know anything new and have no idea what is going on. The Rebs we were fighting yesterday left again last night and we are now out as skirmishers but there are no Rebels in front of us. John Hodgson is well and quite anxious to hear from home. He has not had a letter for some time. [Edward] Flanagan and [John] Humble are all right. I had a ball cut a piece out of the top of my hat yesterday and knocked it about ten feet from me. It is the nearest I have ever had a ball come to me. Hoping you are all well, I remain Your Affectionate Son C.C.P. With Much Love To All

Vierzehn Tage nach diesem Brief fällt Leutnant Pollock im Stellungskrieg von Petersburg, wo sich Lee eingegraben hat. Neun Monate später wird Lee bei Appomattox kapitulieren.


Lesen Sie auch: Der amerikanische Civil War: Ein Literaturbericht, 13th Massachusetts Infantry Regiment, Ulysses S. Grant, Winfield Scott, Hooker, Custer, Gettysburg, Pennsylvania, Gettysburg Address, Abraham Lincoln, Shiloh, Generäle, Stonewall Jackson, Deutsche Helden, Gettysburg, wow

Dienstag, 28. Mai 2024

Glyndebourne


Der Engländer John Christie hatte Eton und das Trinity College in Cambridge besucht. Obwohl eins seiner Beine beinahe gelähmt war, wurde er Leutnant beim King's Royal Rifle Corps und erhielt nach der Schlacht bei Loos das Military Cross. Aber dann entlässt die Armee den Captain. Weil bei einer ärztlichen Untersuchung herausgekommen war, was er bisher sorgfältig verborgen hatte: Er war auf einem Auge blind. Am Ende des Krieges, als er in Eton als Physiklehrer arbeitet, schreibt er an seine Mutter: Somehow it is not easy to write as I should do. You wish me to give up Eton and to marry and settle down at Glyndebourne. My inclinations are not to do so. I detest politics and have no wish to take up county work. What the future will bring forth, I don't know. As regards marriage, I have never met anybody whom I wanted to marry and I believe I am too cautious to get engaged. Besides, I cannot imagine myself having any respect for anyone who consented to marry me. It seems to me to be impossible. Doch er wird die Erbschaft antreten und das große Gut Glyndebourne übernehmen. Und er wird eine Frau finden, eine außergewöhnliche Frau. Mit ihr zusammen macht er Glyndebourne berühmt, weltberühmt.

1923 kauft der Großgrundbesitzer Christie die Firma William Hill & Son & Norman & Beard Ltd, die Orgeln baut. Es sind große Jahre für den Orgelbau, die Kinos wollen Orgeln haben, der Tonfilm ist noch nicht erfunden. Christie wird sein Leben lang Direktor dieser Firma sein. Ein Kino hat er auch für kurze Zeit, er hatte aus dem Opera House in Tunbridge Wells ein Kino gemacht. Captain Christie hatte an sein Landhaus einen kleinen Flügel angebaut, in dem eine Orgel (eine der größten Englands) Platz findet und in dem kleine Konzerte gegeben werden. 

Bei solch einem Konzertabend lernt John Christie die Sängerin Audrey Mildmay kennen. Sie sang die Blonde in Mozarts Singspiel Entführung aus dem Serail. Christie ist so von ihr begeistert, dass er ihr sofort einen Heiratsantrag macht. Sie zögert ein wenig: My Dear John, Two letters from you this morning – both charming. Yesterday’s is, I think, one of the very nicest letters I have ever had in my life. You are such a darling, John, that I don’t want you to fall in love with me… Doch kurz danach sind sie verheiratet. Und Christie baut für seine Frau ein Opernhaus. Ein kleines Opernhaus, dreihundert Plätze und Platz für das Orchester. 

I want to give my country a model of perfection... Nothing less. My country needs cheering up. I'm the man to do it, sagt Christie in dem Theaterstück ✺The Moderate Soprano von Sir David Hare (Sie können das Theaterstück hier lesen). John Christie wurde in dem Theaterstück von Roger Allam gespielt, den wir als Inspector Fred Thursday aus der Serie Der junge Inspektor Morse kennen. Nancy Carroll spielte die Sängerin Audrey Mildmay. Man kennt Nancy Carroll in Deutschland als Lady Felicia Montague in der Father Brown Serie. 

Audrey Mildmay (hier als Susanna in der Aufführung von 1934) hatte vielleicht keine so großartige Stimme. Sie war eben nur ein moderate soprano. Aber das tat der Liebe von John Christie keinen Abbruch. Und ohne sie hätte es das Glyndebourne Festival nicht gegeben. David Hare hat über Mildmay gesagt: Even before meeting her, Christie was obsessed with the music of Wagner and the beauty of Germany, a country he adored. When it came to constructing a theatre from scratch, it was Christie who had the original dream, but it was his wife who made the dream real, bringing a much-needed practicality. Audrey is the unsung heroine of the whole venture. 

Heute vor neunzig Jahren wurde das erste Glyndebourne Festival eröffnet. Mit Mozarts Le nozze di Figaro. Christies Gattin Audrey, im zweiten Monat schwanger, singt die Susanna. Der Dirigent ist Fritz Busch, der war im Jahr zuvor von einem SA Mob aus der Semperoper gegrölt worden und hatte Deutschland verlassen. Obgleich ihn Hitler, Goebbels und Göring gerne als Wagnerdirigenten in Deutschland gesehen hätten. Aber als Toscanini sich 1933 geweigert hatte, in Bayreuth aufzutreten, erklärte sich Busch mit seinem Kollegen solidarisch und verzichtete auf die fragwürdige Ehre der Berufung durch den Wagner Clan. Man kann den Lohengrin ja auch in Buenos Aires und an der Met dirigieren, was er tun wird. 

Erst einmal bietet ihm John Christie in Glyndebourne ein künstlerisches Zuhause. Christies erste Dirigenten, Dramaturgen und Intendanten sind alle Emigranten aus Hitlers Reich: Rudolf Bing (der später noch Chef an der Met werden wird), Fritz Busch und Carl Ebert (hier auf dem Photo von links nach rechts). Das einzige Parteimitglied der NSDAP bei der Figaro Aufnahme von 1934 ist Willi Domgraf-Fassbaender. Der Bariton kann kein so überzeugter Nazi gewesen sein, sonst hätte Busch (und später Toscanini) ihn wohl nicht genommen. Domgraf-Fassbaender (der Vater der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender) hat über Fritz Busch gesagt: Bei Busch stimmte einfach alles! Ein Tempo, das er anschlug, war - wie seine gesamte Mozartinterpretation - so, dass man sich etwas anderes überhaupt nicht vorstellen konnte.

Mit dem Kriegsbeginn ist es mit der Oper zu Ende, Busch geht nach Buenos Aires an das Teatro Colón. Christies Haus wird ein Heim für evakuierte Kinder. Das Glyndebourne Festival Orchestra ist zwar nicht mehr in Glyndebourne zu hören, aber überall sonst. Sie sind ab 1940 auf Tour mit der Beggar's Opera, Audrey Mildmay singt die Polly Peachum, das hatte sie schon mit großem Erfolg getan, bevor sie John Christie kennenlernte. Sie können sie hier in der Aufnahme von 1940 hören. 1950 ist Fritz Busch wieder in Glyndebourne, er wird bis zu seinem frühen Tod 1951 in London acht Opernaufführungen in Glyndebourne dirigieren. Meistens Mozart. Glyndebourne ist mit ihm zu einem Mozartfestival geworden. Wäre es nach John Christie gegangen, hätte es in seiner Oper Wagner gegeben, dann wäre Glyndebourne ein zweites Bayreuth geworden. 

Glücklicherweise haben seine Frau (hier 1936 als Zerlina in Don Giovanni) und Fritz Busch ihn zu Mozart gebracht. Bei den Proben zu The Moderate Soprano diskutieren die Beteiligten hier die Frage Mozart oder WagnerI ask on behalf of the audience ... Mozart. Is he any good? fragt John Christie in dem Theaterstück von Hare. I know everyone says that a genius sees things other people don't. But geniuses aren't always so bloody brilliant at seeing what other people do ... What I'm saying: Mozart may be great, but is he any good? That's my question. Because it's by no means the same thing. 

Das Theaterstück endet mit: 28 MAY 1934 For the first time, there is the sound of the audience gathering in the theatre, talking, coughing a little. Bing moves across to the table and sits down to work at his papers. John remains in his wheelchair, his eyes bandaged, staring out. Ebert appears at the side, lolling against a wall in the auditorium waiting for the performance to begin. And to one side Audrey, in costume to play Susanna, paces nervously, rubbing her hands together, preparing. Then, seeing him before we do, there is polite applause in the audience and a settling as Fritz Busch, wearing tails, walks out in front of the curtain. He makes a gesture with his arms for the unseen orchestra to stand, and the applause is a little firmer. Then it dies, and the noise of the audience falls away to silence. There is an expectant moment. Busch raises his arms, and on the beat, the orchestra is heard to begin Mozart’s overture for The Marriage of Figaro. Bing looks up from his desk, as if hearing it. Ebert beats time nervously. Audrey paces ever more quickly, as if the tension were unbearable. Only John is serene, staring out, unseeing. The music grows louder and louder till it fills the theatre, sublime.

Alles, was Fritz Busch in Glyndebourne dirigiert hat, kann man noch auf →CD bekommen. Und seit die DVD erfunden wurde, kann man viel Mozart aus Glyndebourne auf DVDs sehen. Meine Lieblingsaufnahme ist Così fan tutte aus dem Jahr 2006. Jeden Morgen, wenn ich meinen Computer anmache, singen Miah Persson, Anke Vondung und Nicolas Rivenq ✺Soave sia il vento.

Freitag, 24. Mai 2024

Original? Kopie?

Dieses schöne Familienbild einer Dame mit zwei Söhnen aus dem Jahre 1844 ist 2009 im Auktionshaus Lempertz für knapp 10.000 Euro verkauft worden. Ist es unbedingt wert. Aber wenn wir jetzt noch den Namen des Malers dazu sagen, hätte man vielleicht mehr erwartet. Denn es gibt Bilder von diesem Maler, die Millionen wert sind. Mehrere Millionen. Für ein Bild von ihm, das gerade bei Christie's verkauft wurde, wurden 45 Millionen Dollar bezahlt. Es war auf 12 bis 15 Millionen geschätzt. Es muss ein besonderes Bild gewesen sein. Wenn ich jetzt den Namen des Malers verraten würde, wüssten Sie sofort, von welchem Bild ich rede.

Der Maler heißt Emanuel Leutze, er wurde am 24. Mai 1816 in Schwäbisch Gmünd geboren, ist als kleiner Junge mit seinen Eltern in die USA gekommen, ist aber mit fünfundzwanzig Jahren zurückgekommen nach Düsseldorf. Das damals ein Zentrum der deutschen Malerei war. Sein berühmtestes Bild hat er hier gemalt. Das hat den Titel Washington Crossing the Delaware, es hat hier natürlich schon einen Post. Der Maler Emanuel Gottlieb Leutze hat hier natürlich auch schon einen Post, und er wird in 22 weiteren Posts erwähnt. Das 1850 gemalte Bild wäre bei einem Atelierbrand beinahe verbrannt, Leutze restauriert es. 

Er hatte das Bild versichert, jetzt gehört es der Kölner Brandversicherung Colonia, die stellt es in Köln im Gürzenich aus. Die Brandversicherung holt sich über die Eintrittspreise ein wenig Geld zurück. Von Köln wandert das Bild nach Berlin, auch dort muss man Geld bezahlen, um das Bild zu sehen. 1863 kauft die Kunsthalle Bremen das Bild für 900 Goldtaler. Dort wird es 1942 bei einem britischen Bombenangriff zerstört. Alles dazu können Sie auf der sehr guten Seite WK Geschichte, der Bremer Zeitung Weser-Kurier lesen. Der Historiker David Hackett Fischer schreibt: It became part of the permanent collection of the Bremen Art Museum. There it stayed until September 5, 1942, when it was destroyed in a bombing raid by the British Royal Air Force, in what some have seen as a final act of retribution for the American Revolution. Ein kleiner Racheakt der Engländer dafür, dass sie den Revolutionskrieg verloren haben? Das ist ein kleiner perverser Gedanke. David Hackett Fisher hat mit seinem Buch Washington's Crossing das ultimative Buch über das wichtige Ereignis der amerikanischen Geschichte geschrieben. Und zu Recht dafür den Pulitzer Preis bekommen. Sie können hier die ersten Seiten lesen, besonders das erste Kapitel The Painting.

Leutze wird von dem französischen Kunsthändler Adolphe Goupil dazu gedrängt, eine zweite Fassung des Bildes anzufertigen. Dafür richtet Leutze ein neues Atelier ein und malt das Bild mit der Hilfe seiner amerikanischen Malerfreunde Worthington WhittredgeEastman Johnson und Albert Bierstadt in der Größe von 3,78 m  × 6,47 m. Der berühmte Düsseldorfer Landschaftsmaler Andreas Achenbach malt auch noch an dem Bild mit. Kaum ist es fertig, wird es nach Amerika verschifft. Vom September 1851 bis Januar 1852 werden es 50.000 Amerikaner in New York bestaunen. Henry James war acht Jahre alt, als er das Bild sah. Er wird später schreiben: no impression was half so momentous as that of the epoch-making masterpiece of Mr. Leutze, which showed us Washington crossing the Delaware, in a wondrous flare of projected gaslight and with the effect of a revelation. Noch mehr Bewunderer wird das Bild haben, wenn es ab April 1852 in der Rotunde des Kapitols hängt. 1897 gelangt es in das Metropolitan Museum, wo es bis heute hängt.
 
Aber was ist das für ein Bild, das 2022 bei Christie's für 45 Millionen Dollar verkauft wurde? Es gibt da eine dritte Version, die viel kleiner ist als das Bremer Original und die Version des Metropolitan Museums. Sehr viel kleiner. Und das Bild ist auch nicht von Leutze, es ist ein Werk von Eastman Johnson. Der Schüler und Mitarbeiter Leutzes hatte 1851 eine kleine (101.6 cm mal 172.7 cm) Version angefertigt, die der Kunsthändler Adolphe Goupil gerne als Vorlage für die Anfertigung von Stichen und Drucken haben wollte. Das Bild tauchte 1973 zum ersten Mal im Kunsthandel auf, als es bei Sotheby Parke-Bernet für 260,000 Dollar an einen anonymen Sammler verkauft wurde. Das war damals die höchste Summe, die für ein amerikanisches Gemälde bezahlt worden war. Der anonyme Sammler stellte es dem Weißen Haus als Leihgabe zur Verfügung. Dort hat es von 1979 bis 2014 die Räume geziert. 1973 war es als ein Bild von Eastman Johnson, after Emanuel Leutze verkauft worden, bei der Auktion von Christie's war es jetzt ein Leutze. 

Das Auktionshaus sagte dazu: Christie’s consulted the recognized scholars in this field and their assessment is that Leutze created this painting with help from a studio assistant, just as Leutze did on the Metropolitan Museum version. The painting at Christie’s is signed by Leutze, was exhibited and sold under his name during his lifetime, and is correctly characterized as such. Der Name Eastman Johnson taucht hier überhaupt nicht auf. Das ist kunsthistorisch ein unseriöses Vertretergeschwätz. Aber bei dem Auktionshaus weiß man natürlich, dass man einen Leutze, der mal im Weißen Haus hing, für Millionen verkaufen kann. Einen Eastman Johnson nicht. Alles über die Entstehung des Bildes von Eastman Johnson können Sie auf dieser hervorragendenSeite lesen.

So präsentiert sich Leutzes Bild heute im American Wing des Metropolitan Museums. Es hing nicht immer da. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man moderne Kunst sehen, keine Historienschinken aus dem 19. Jahrhundert. 1950 lieh man das Bild Washington Crossing the Delaware an das Dallas Art Museum aus, 1952 wanderte es zum Washington Crossing State Park. Die hätten das Bild gerne behalten und waren in jahrelangen Verhandlungen mit dem Met Museum. Als die das Bild 1970 zurückgeben mussten, ließen sie eine→Kopie anfertigen. Die kann man da, wo Washington den Delaware überquerte, heute noch sehen. Das Bild, das Leutze und seine Freunde in einer Gemeinschaftsarbeit gemalt hatten, hatte beinahe hundert Jahre einen anderen, schlichteren Rahmen. Erst im Jahr 2007 fand man Photos von Mathew Brady aus dem Jahr 1864, die das Bild im Originalrahmen zeigten. Die Firma Eli Wilner & Company schuf nach dieser Vorlage den neuen Prunkrahmen. Ich habe dazu hier auch noch ein einstündiges Video. 2007 hatte man das Bild auch vier Jahre von der Wand genommen, um es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter zu restaurieren. Sie können alles dazu in dem Buch Washington Crossing the Delaware: Restoring an American Masterpiece bei Google Books lesen.

Der goldene Adler, der das Gemälde krönt, ist beinahe vier Meter breit. Unter seinen Krallen kann man lesen: First in war, first in peace, first in the hearts of his countrymen. Das hatte Henry Lee, der Vater von Robert E. Lee in seiner Grabrede auf Washington gesagt. Das kleine Bild von Eastman Johnson hat keinen Prunkrahmen, der würde das Bild zerstören. Der Käufer, der 45 Millionen Dollar für das Bild bezahlt hat, bleibt im übrigen anonym. Genauso anonym, wie der letzte Besitzer des Bildes, der es zur Auktion bringen ließ.

Anonym bleibt auch der Besitzer dieses Bildes. Leutze hatte es 1850 angefangen, aber nicht zu Ende gemalt. Das Bild war hier schon einmal in dem Post Emanuel Leutze zu sehen. Irgendwie ist es ja auch ein schönes Bild, konzentriert sich auf das Wesentliche, das reicht doch. Alles andere können wir uns vorstellen. Und die Wirklichkeit war Weihnachten 1776 sowieso anders. In allen Details ist Leutzes Bild eine Fälschung der historischen Wirklichkeit. Aber das ist bei den meisten Historienbildern des 19. Jahrhunderts so. Ich zitiere gerne noch einmal den Satz, der in dem Post Emanuel Leutze steht: Eine der Maximen von Leutzes Historienbildern (wahrscheinlich der Historienmalerei überhaupt) scheint diese 'willing suspension of disbelief ' zu sein, von der Coleridge gesprochen hat.

Dienstag, 21. Mai 2024

Gettysburg, wow


Donald Trump sitzt jetzt vier Tage der Woche im Gerichtssaal, meistens schläft er da. Wenn er nicht im Gerichtssaal ist, macht er Wahlkampf. Im letzten Monat war er in Schnecksville in Pennsylvania. Er hielt eine einstündige Rede, die Siehier lesen können. Wenn Sie wollen.

Ganz zum Schluss hatten ihm seine Ghostwriter noch etwas über die Bedeutung von Pennsylvania für die amerikanische Geschichte aufgeschrieben: Pennsylvania where our founding fathers declared American independence. So much history. I mean, you have so much history here. Just think of it. It’s where the Army weathered its brutal winter. We’re sort of weathering it right now, but I don’t think… Theirs was much worse. It’s where the Army weathered its brutal winter at Valley Forge, where General George Washington led his men on a daring mission across the Delaware, and where our Union was saved by the immortal heroes at Gettysburg. So weit, so gut. Aber jetzt, in der 56. Minute scheinen ihn seine geistigen Kräfte verlassen zu haben. Und was er jetzt über Gettysburg sagt, ist der abenteuerlichste Unsinn:

Gettysburg, what an unbelievable battle that was. It was so much, and so interesting, and so vicious and horrible, and so beautiful in so many different ways—it represented such a big portion of the success of this country. Gettysburg, wow—I go to Gettysburg, Pennsylvania, to look and to watch, And the statement of Robert E. Lee, who's no longer in favor—did you ever notice it? He's no longer in favor. 'Never fight uphill, me boys, never fight uphill.' They were fighting uphill, he said, 'Wow, that was a big mistake,' he lost his great general. 'Never fight uphill, me boys,' but it was too late." 

Robert E. Lee hat niemals Never fight uphill, me boys gesagt. ✺Fernsehkommentatoren und Historiker haben Trumps Unsinn auseinandergenommen. The Atlantic schrieb: The world still judges Lincoln by his Gettysburg Address. Now, it may judge Donald Trump the same way—but with strikingly different results. Es gibt Trumps Rede inzwischen schon als Buch und als Oper. Die zwei Minuten und siebenundvierzig Sekunden sollten Sie sich unbedingt ansehen.

Wenn Sie mehr über die Schlacht von Gettysburg wissen wollen, dann lesen Sie Gettysburg, Pennsylvania. Und wenn Sie wissen wollen, was Trump vor Jahren über Lincolns Gettysburg Address sagte, dann empfehle ich den Post Richtigstellung.

Montag, 20. Mai 2024

königlich


Dass ich mir eine King Seiko (KS56) gekauft habe, steht schon in dem Post Goldplättchen. Meine anderen Seikos finden sich in dem Post die goldene Seiko. Ein richtiger Seiko Sammler bin ich nicht, ich bin jetzt aber mit dieser fünfzig Jahre alten King Seiko in die Oberliga aufgestiegen. Die Firma Seiko hat seit 2020, dem hundertvierzigsten Jahrestag der Firma, das Modell King Seiko wieder im Programm. Diese neuen Uhren haben aber nicht mehr den Charme der siebziger Jahre. Sehen nicht mehr nach der Super Constellation, dem Flügeltüren-Mercedes, der geschrubbten Flunderausgehungerten Windhunden oder der Corvette Stingray von Joan Didion aus.

Dem Uhrensammler sagt die Abkürzung KS56 schon etwas. Das KS steht für das Modell King Seiko, die Zahl 56 steht für die Werkgruppe 5600, das beste Automatikwerk, das Seiko vor fünfzig Jahren baute. Das sich in den Modellen Grand Seiko und King Seiko findet. Diese Uhren wurden zwischen 1968 und 1975 gebaut und waren das Beste, das Seiko herstellte. Diese Uhren konnten mit besten Schweizer Erzeugnissen konkurrieren. Angefangen hatte man auf dem Weg nach ganz oben 1960 mit einem Handaufzugswerk für das Modell Grand Seiko, einem Armbandchronometer. Dies hier ist das verbesserte Kaliber 4402 von 1965. Die Uhr hatte 28 Steine, beinahe jedes Lager hatte eine Diafix Kappe, das ist ein gefederter Deckstein. Die Unruhe wird von einer Brücke gehalten, nicht von einem Kloben, das verspricht Stabilität. 

Seiko hat das mit der Brücke bei manchen Uhren beibehalten. Dies hier ist das Werk der Seiko 850 Alpinist, dem Zwilling von meiner SeahorseRolex macht das mit der Brücke als einer der wenigen Hersteller immer noch so. Die erste Grand Seiko von 1960 mit dem Kaliber 3180 hatte noch einen Unruhkloben gehabt.

Aber Unruhkloben wie hier bei der ersten Grand Seiko oder Brücke, es war egal. Beide Werke waren Chronometer. Wenn man bedenkt, dass Seiko noch fünf Jahre zuvor Uhrwerke aus der Schweiz von Moeris bezogen hat, dann stellt diese erste Grand Seiko einen Quantensprung dar. Und sie war die Basis für das, was Seiko wollte: Präzisionsuhren bauen, die alle leicht ein Chronometerzertifikat erhielten. Ob in Neuchâtel (wo Seiko seit 1963 Uhren zur Prüfung einreichte), Genf oder bei der Sternwarte von Kew. 

Eine Grand Seiko mit einem Automatikwerk gab es noch nicht. Mit den Automatikwerken hatte sich Seiko schwergetan. Ihre erste Automatik bezogen sie 1955 aus der Schweiz von Adolph Schild (Kaliber AS 1382). Das nächste Automatikwerk kam von der ETA oder war ein ETA Nachbau, das weiß man nicht so genau. Danach offerierte Seiko eine eigene Automatik mit einem magic lever. Das war aber nichts anderes als die Kopie der genial einfachen Konstruktion der Uhrenrohwerke Otto Epple Otero aus dem Jahr 1954. Die ihrerseits nichts anderes getan hatten, als den von Albert Pellaton für die IWC erfundenen Exzenterwechsel zu vereinfachen. Lesen Sie mehr zu den Automatikwerken in dem Post automatisch.

Im Jahre 1959 wird die Firma Seiko sich zweiteilen in die Produktionsstätten Suwa Seikosha und Daini Seikosha. Die beiden Fabriken sind jetzt in einem Konkurrenzwettbewerb. Wer wird die beste Uhr bauen? Das Ergebnis dieses Wettbewerbs sind die Grand Seiko und King Seiko mit dem 5600er Automatikwerk, die von 1968 bis 1975 gebaut werden. Suwa Seikosha stellte die Grand Seiko Uhren her, die Schwesterfabrik Daini Seikosha baute die King Seiko als Konkurrenz zur Grand Seiko. Die kostete etwas weniger, sollte aber genauso gut sein. Die Uhr hat 25 Steine und wie die Eternamatic Uhren einen kugelgelagerten Rotor, der in beide Richtungen aufzieht. Die Unruhe hat eine Feinregulierung und (was man hier unter dem Rotor nicht sehen kann) noch eine zweite Feinregulierung für die Spiralfeder. Auf dem Zifferblatt steht Hi-Beat, damit sind 28.800 Halbschwingungen pro Stunde der Unruhe gemeint. Das Experiment mit den 36.000 Halbschwingungen hatte man aufgegeben. 

Ich glaube, es ist ziemlich egal, ob da Lordmatic, Grand Seiko oder King Seiko auf dem Zifferblatt steht, Seiko hatte mit dem 5600er Werk ein Uhrwerk geschaffen, das mit den besten europäischen Uhren mithalten konnte. Es gibt unglaublich viele →Automatikwerke von Seiko, das Standardwerk für automatische Armbanduhren von Heinz Hampel widmet der japanischen Firma vierzig Seiten, voll illustriert. So gut das Uhrwerk mit der Datumsschaltung und der Stoppsekunde ist (und meine fünfzig Jahre alte King Seiko erreicht immer noch die Chronometernorm), es hat einen kleinen Konstruktionsfehler.

Wenn man bedenkt, welchen Anspruch man bei Seiko hatte, ist das ein richtig doofer Fehler. Das Schaltrad für Wochentag und Datum ist aus Plastik. Das hält kein halbes Jahrhundert. Auf meiner Seiko Sea Lion funktioniert nur noch das Datum, der Wochentag erscheint nicht mehr. Auf diesem Bild können Sie das Schaltrad sehen, das ist das kleine runde Teil mit vier Spitzen unter den beiden Zahnrädern. Obgleich Seiko dieses Problem hätte kennen können, haben sie noch dreißig Jahre lang Plastikräder in ihre Uhren eingebaut. Seriöse Händler tauschen das Plastikteil gegen eins aus Stahl und sagen das ihrem Kunden. Die Firma Tokei Japan, von der ich meine Uhr bei kleinanzeigen gekauft habe, hat das Plastikteil gegen ein neues Schaltrad der Firma VTA getauscht. 

Was die beiden konkurrierenden Seiko Firmen jetzt produzieren, bekommt ein Design von einem Mann namens Taro Tanaka, der 1962 ein Grammar of Design entwickelte. Eine Art ästhetischer japanischer Philosophie, wie Seiko Uhren aussehen sollen. Tanaka hat gesagt: As I looked in one of the showcases I saw many watches sparkling brilliantly. Then I looked on the other side and saw watches that had a rather uneven gleam; the difference was all too apparent. The brilliantly sparkling watches were Swiss and those with the duller finish were by Seiko. Er will erreichen, dass die Seiko Uhren auch brilliantly sparkle, deshalb werden sie viele hochglanzpolierte Flächen und scharfe Kanten haben. Klare Linien, keine Schnörkel. Bauhaus statt Gelsenkirchener Barock. Wenn Sie ein Bild von den King Seikos der siebziger Jahre haben wollen, dann klicken Sie dieses Video an. Aber etwas so Scheußliches wie die King Seiko Vanac Linie, die von 1972 bis 1974 hergestellt wurde, kann Taro Tanaka eigentlich nicht gemeint haben. Das ist eher Walt Disney als fernöstliche Philosophie. Viele Uhren dieser Vanac Linie sehen so aus wie die klobigen Klötze, die ich in dem Post was Fettes am Arm beschrieben habe.

Meiner Seiko King habe ich ein anderes Band spendiert. Diese handgemachten Bänder mit den Abnähern sind zwar gerade große Mode, passen aber nicht zu der Uhr. Die Uhr ist 36 Millimeter groß, wirkt aber kleiner. Weil das Zifferblatt nur 30 mm groß ist. Das Glas sitzt mit einem Sprengring in einem kleinen Rehaut über dem Gehäuse. Das hat sich Taro Tanaka mit seiner Designphilosophie so gedacht. Dadurch wirkt die Uhr cool und abgemagert, so wie die im ersten Absatz erwähnten ausgehungerten Windhunde. Die Uhr hat einen Schraubboden, die ersten KS Modelle hatten ein Monocoque Gehäuse (wie auch die Sea Lion). Hätte ich die Grand Seiko Tamago「たまご mit der Eierform nehmen sollen? Sam Wong von der Firma Tokei Japan in Stuttgart hatte mir einen guten Preis gemacht. Ich habe sie noch auf der Merkliste, gucke sie mir jede Woche mal an. Die King Seiko gab es noch als Chronometer, als Special oder mit dem Zusatz V. F. A. (Very Fine Adjusted). Mir reicht das KS auf dem Zifferblatt dieser völlig unauffälligen Uhr.

Sonntag, 19. Mai 2024

Pfingsten


Der Dichter Gustav Falke (hier auf einem Gemälde von Ernst Eitner, den man einmal den Monet des Nordens genannt hat) ist heute so gut wie vergessen. Er war einmal sehr berühmt. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag setzte die Hansestadt Hamburg ihm wegen seiner Verdienste um die deutsche Literatur einen lebenslangen Ehrensold von dreitausend Mark im Jahr aus, der zehn Jahre später auf fünftausend Mark erhöht wurde. Er konnte seinen Beruf als Klavierlehrer aufgeben und kaufte sich in Groß Borstel, das damals noch weit draußen lag, ein Grundstück mit einer kleinen Villa. Er machte sich Garten und Wiesen zu seinem kleinen Paradies: Wie hatte ich es nur solange in der Stadt aushalten können? Wo der Blick immer gegen Mauern prallt, und wo das vielfache Getöse des Tages, zu einem wirren, kaum mehr beachteten Lärm verschlungen, sich bis in die Nacht fortsetzt und uns wahnsinnig machen würde, wenn wir nicht dagegen abstumpften. Hier draußen war Friede und Stille, ein weiter Himmel, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, alle Jahreszeiten im sanften Wandel, hier war helles Grün des Sommers und leuchtender Schnee des Winters, war der violette Geist des erwachenden Frühlings und waren die tausend Farben des noch einmal beim lauschenden Abschiedsfest aufjubelnden Herbstes; hier war der ganze Kreis des holden Lebens geschlossen, und der Mensch, teilnehmend, leidend und wirkend, mitten darin.

Ich habe Gustav Falke aus dem Grabbelkasten der vergessenen Autoren geholt, weil er ein schönes Pfingstgedicht geschrieben hat, das sich in seinem Buch Hohe Sommertage findet. Wenn Sie den Titel anklicken, können Sie das ganze Buch lesen. Lesenswert ist auch seine Autobiographie Die Stadt mit den goldenen Türmen, die es auch beim Projekt Gutenberg gibt.

Pfingstlied

Pfingsten ist heut, und die Sonne scheint,
Und die Kirschen blühn, und die Seele meint,
Sie könne durch allen Rausch und Duft
Aufsteigen in die goldene Luft.

Jedes Herz in Freude steht,
Von neuem Geist frisch angeweht,
Und hoffnungsvoll aus Thür und Thor
Steckt´s einen grünen Zweig hervor.

Es ist im Fernen und im Nah´n
So ein himmlisches Weltbejah´n
In all dem Lieder- und Glockenklang,
Und die Kinder singen den Weg entlang.

Wissen die Kindlein auch zumeist
Noch nicht viel vom heiligen Geist,
Die Hauptsach spüren sie fein und rein:
Heut müssen wir fröhlichen Herzens sein.