Samstag, 30. April 2022

ein letztes Gedicht

Das hatte nicht gewollt, jeden Tag im Poetry Month zu schreiben. Habe ich im letzten Jahr gemacht. War zuviel Arbeit. Das machst Du nie wieder, habe ich mir gesagt. Und nun ist es doch passiert. Der letzte Tag des Monats, ein letztes Gedicht. Ich suchte im Internet nach einem letzten Gedicht und fand in der NZZ eins, das so heißt und fand dieses:

Ich bin / das letzte / Gedicht dieser Nacht. / Wenn du nebenan / im Dunkeln / schläfst / wirst du mich / vergessen / wie alles / andere; / du mit deinem / blöden halb- / offenen Mund / während du im / Tiefschlaf / schnarchst. / Ich aber / werde hier / warten, unsterb- / lich, und wenn / du tot bist / und der schwarze / Himmel ein / letztes Mal / für dich rot / aufblitzt / werden deine / dumpfen Gebeine / nur noch Staub / wert sein. Und / ich lebe weiter.

Das Gedicht von Charles Bukowski ist wahrscheinlich nicht vollständig, es stammt aus dem Band Letzte Meldungen, den Bukowskis deutscher Übersetzer und Freund Carl Weissner herausgegeben hat. Bukowski ist schon mehrfach hier erwähnt worden, und in dem Post Porsche gibt es ein schönes Gedicht von ihm. Auf dieser Seite finden Sie ganz viele Bukowski Gedichte, und eins davon nehme ich mir heute: 

How Is Your Heart?

during my worst times
on the park benches
in the jails
or living with
whores
I always had this certain
contentment–
I wouldn’t call it
happiness–
it was more of an inner
balance
that settled for
whatever was occurring
and it helped in the
factories
and when relationships
went wrong
with the
girls.

it helped
through the
wars and the
hangovers
the backalley fights
the
hospitals.

to awaken in a cheap room
in a strange city and
pull up the shade–
this was the craziest kind of
contentment
and to walk across the floor
to an old dresser with a
cracked mirror–
see myself, ugly,
grinning at it all.

what matters most is
how well you
walk through the
fire.

Freitag, 29. April 2022

Hitchcock


Heute vor zweiundvierzig Jahren ist Alfred Hitchcock gestorben. Der Regisseur war schon häufig in diesem Blog. Ich glaube, die letzten beiden Posts sind Happy Birthday, Vera Miles und Vögel. Die gefallen mir immer noch. Hitchcock und Gedichte? Gibt es welche? Ja, es gibt da etwas, nämlich den Amerikaner Peter Swanson. Der hat am Trinity College und der University of Massachusetts in Amherst studiert und vom Emerson College einen Master of Fine Arts bekommen. Obgleich der akademische Grad für Poetry war, schreibt er wenig Gedichte, er schreibt Romane. Er musste beinahe zehn Jahre warten, bis er einen Verleger für seinen ersten Roman fand. Jetzt ist er ein Autor von Bestsellern, die in dreißig Sprachen übersetzt sind. Er schreibt Kriminalromane. Und er hat eine Vielzahl von Gedichten über Hitchcock Filme geschrieben, von denen nehme ich mir mal Psycho. Und wenn Sie fragen, was diese junge Dame hier soll: das ist Marli Renfro, das Körperdouble von Janet Leigh in der Duschszene.

Psycho

Undressed she looks fresh-plucked, her flesh
As white as boiled hens. How easily
She exists within her nakedness,
How unaware she is of what I see.

She changes to a dressing gown,
So shiny that a giant crow would snatch
Her up to line his nest. I make no sound.
My mind is quiet too, not even a scratch.

The bad thoughts will gather soon, I suppose.
My mind won’t shake her birdy skin
But with those private traps, those animal parts.

We all look so much realer in our clothes.
That’s my hobby, see. It’s stuffing things.
I don’t really know all that much about birds.


Donnerstag, 28. April 2022

arrivederci Roma


Am 28. April 1937 hat Benito Mussolini die Filmstadt Cinecittà eingeweiht. Das Hollywood on the Tiber hat hier schon mit Cinecittà und die Mode einen schönen kulturhistorischen Post. Deshalb lassen wir Cinecittà mal weg. Mussolini auch, obgleich der erstaunlicherweise in der deutschen Literatur belesen war. Bei der deutschen Literatur wollen wir heute einmal bleiben. Ich habe zwei Gedichte, die Schriftsteller nach ihrem Besuch der ewigen Stadt geschrieben haben. Wir sind bei dem Thema der deutschen Italiensehnsucht, eine Sehnsucht, die sich immer wandelt. Wandlungen der Italiensehnsucht war der Untertitel des Buches Das Klassische Land des Kunsthistorikers Wilhelm Waetzoldt. Der 1927 schon konstatierte, dass das Italien, von dem die Väter träumten, nicht mehr existiere: Es ist zu nah gerückt, zu bekannt und zu verwandt geworden. Distanz und Pathos sind aus dem Verhältnis der nordischen Menschen zum Süden verschwunden. Ja, das Erlebnis der Italienreise ist banalisiert worden.

Es ist ein langer Weg zwischen Goethes italienischer Reise und den fünfziger Jahren, als Carl Borgward in Bremen seine Automodelle Isabella und Arabella nennt, und die Nation die Caprifischer oder Komm' ein bisschen mit nach Italien singt. Es gibt heute nichts aus Goethes italienischer Reise, und die Römischen Schlendertage von Hermann Allmers sind auch nicht dabei. Und auch den Hass von Rolf Dieter Brinkmann auf Rom lasse ich mal weg: Dieses Arkadien ist die reinste Lumpenschau. Seien es die modischen Lumpen oder die antiken Lumpen, ein Mischmasch, das so weit von Vitalität entfernt ist. Tatsächlich, das Abendland geht nicht nur unter – es ist bereits untergegangen, und nur einer dieser kulturellen Fabrikanten taumelt noch gefräßig und unbedarft herum, berauscht sich an dem Schrott.

Ich beginne einmal mit einem Gedicht, das vielleicht das älteste deutsche Romgedicht ist. Es wurde und von dem Barockdichter Andreas Gryphius 1650, drei Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien, veröffentlicht:

Als Er auß Rom geschieden​

Ade' begriff der welt' Stadt der nichts gleich gewesen /
Vnd nichts zu gleichen ist / In der man alles siht
Was zwischen Ost vnd West / vnd Nord vnd Suden blüht,
Was die Natur erdacht / was je ein Mensch gelesen.
Du / deren Aschen man / nur nicht vorhin mit Bäsen
Auff einen hauffen kährt / in der man sich bemüht
Zu suchen wo dein grauß / (fliht trüben Jahre! fliht /)
Bist nach dem fall erhöht / nach langem Ach / genäsen.​

Ihr Wunder der gemäld / ihr prächtigen Palläst /
Ob den die kunst erstarrt / du starck bewehrte Fest /
Du Herrlichs Vatikan / dem man nichts gleich kan bawen;
Ihr Bücher, / Gärten / grüfft; Ihr Bilder / Nadeln / Stein /
Ihr / die dies vnd noch mehr schliß't in die Sinnen eyn /
Ade! Man kan euch nicht / satt mit zwey Augen schawen.​

Gryphius hatte 1644 als Hofmeister den jungen pommerschen Adligen Wilhelm Schlegel auf seiner Kavalierstour, also dem, was man im 18. Jahrhundert die Grand Tour nennen wird, durch halb Europa begleitet. 1645 ist die Gruppe in Rom, vielleicht kehren sie noch ein zweites Mal dahin zurück. Das weiß man nicht so genau, das Reisetagebuch der dreijährigen Reise, das Gryphius geführt hatte, ist verloren gegangen. Ich habe zu dem Romgedicht von Gryphius hier einen interessanten Aufsatz von Jörg Robert, der den Titel Leichenwissen und Katakombenpoesie: Andreas Gryphius und die Roma sotterranea hat.

Im nächsten Jahrhundert wird jedermann in Rom sein, Schriftsteller und Maler. Goethe wird eine ganze Epoche der Italienbegeisterung prägen. Eine deutsche Malergruppe in Rom wird man die Deutschrömer nennen. Es sind auch große Mengen von Engländern in Rom, aber die haben nicht die Krankheit der Italiensehnsucht, die offenbar nur Deutsche befällt. Die sind da, um sich von Batoni oder Mengs malen zu lassen. Um Gemälde von Claude Lorrain (es ist kein Zufall, dass Lorrains Tiberbrücke im ersten Absatz in englischem Besitz ist) zu kaufen. Und natürlich, um antike Statuen zu erwerben, die man zuhause in den Landschaftsgarten stellen kann. Goethe verspottet die Reiselust der Engländer ein wenig, wenn er Mephisto sagen läßt:

Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch-dumpfen Stellen;
Das wäre hier für sie ein würdig Ziel.

Die Eisenbahn wird den Romtourismus verändern, Italien ist nah gerückt. Niemand geht mehr zu Fuß über die Alpen wie der romantische Maler Carl Philipp Fohr, der beim Baden im Tiber ertrinken wird. Nur der Romantiker Eichendorff, der immer wieder Italien heraufbeschwört, wird nie dort gewesen sein. Die Engländer wenden sich von Rom ab, die entdecken die Rheinromantik oder fahren nach Venedig. Aber die Deutschen, die kommen immer wieder nach Rom. Auch Theodor Fontane, der 1874 in Rom mit seiner Frau die Silberhochzeit feiern will. Die Gattin muss er allerdings erst von der Reise überzeugen: Ich rechne auf Deine Zustimmung und während der Reise selbst auf Deine Entschlossenheit und gute Laune. […] Ich rechne also auf Dein Ja-Wort, wie am Altar. Emilie Fontane wird wie ihr Mann ein Reisetagebuch führen, aber sie fühlt sich bei den vielen Besichtigungen nicht glücklich: Auf, morgen nach Rom, der ewigen Stadt. Eigentlich ginge ich nun gern wieder ein bischen 'heeme' denn mein armer Grips reicht nirgends aus. Fontane gefällt Italien auch nicht wirklich. Selbst Venedig nicht: Es ist interessant von Schritt zu Schritt, landschaftlich zauberhaft, poetisch durch und durch, aber es repräsentirt doch nicht die Form der Schönheit, die ich dauernd vor Augen haben möchte. Dazu ist mir, rund heraus gesagt, die ganze Geschichte doch zu schmutzig.

Man kann die Spuren der Italienreise noch in dem Stechlin spüren, wo er den Adligen Gnewkow sagen lässt: 'Ja', nahm Gnewkow, der aus Langerweile viel gereist war, seinen Urgedanken, daß solcher Park eigentlich ein Glück sei, wieder auf. 'Ich finde, was Molchow da gesagt hat, ganz richtig; es kommt drauf an, daß man reingezwungen wird, sonst weiß man überhaupt gar nichts. Wenn ich so bloß an Italien zurückdenke. Sehen Sie, da läuft man nu so rum, was einen doch am Ende strapziert, und dabei dieser ewige pralle Sonnenschein. Ein paar Stunden geht es; aber wenn man nu schon zweimal Kaffee getrunken und Granito gegessen hat, und es ist noch nicht mal Mittag, ja, ich bitte Sie, was hat man da? Was fängt man da an? Gradezu schrecklich. Und da kann ich Ihnen bloß sagen, da bin ich ein kirchlicher Mensch geworden. Und wenn man dann so von der Seite her still eintritt und hat mit einem Male die Kühle um sich rum, ja, da will man gar nicht wieder raus und sieht sich so seine funfzig Bilder an, man weiß nicht wie. Is doch immer noch besser als draußen. Und die Zeit vergeht, und die Stunde, wo man was Reguläres kriegt, läppert sich so heran'.

Literarisch trägt Fontanes fünfzigtägige Reise wenig Früchte, nur ein Artikel mit dem Titel Ein letzter Tag in Italien ist 1874 in der Vossischen Zeitung erschienen. Der fängt mit den Sätzen an: Es ging wieder heim. Der 'ewig blaue Himmel Italiens' lag unverändert über der Landschaft, aber diese Landschaft selber lag im Schnee. Eine tiefe Sehnsucht nach Teppich und Doppelfenster fröstelte mir durchs Herz ... Und dann gibt es neben den vielen Briefen und dem Reisetagebuch noch eine Ballade über den Markuslöwen und dies wunderbare kleine Gedicht:

Welches von beiden

Rom im Siebenhügelkranz, –
Cremmen, Schwante, Vehlefanz.

Nemi-See, Genzano-Sträußchen, –
Stralau, Treptow, Eierhäuschen.

Blick auf Forum, Ara Celi, –
Tasse Kaffee bei Stehely,

Lockt auch Fremde, Schönheit, Pracht, –
Glücklicher hat mich die Heimat gemacht.

Mittwoch, 27. April 2022

Michelangelo


Heute vor einhundertvierzig Jahren starb Ralph Waldo Emerson, Philosoph und Schriftsteller, Hauptvertreter des amerikanischen Transzendentalismus. Er hat auch Gedichte geschrieben, aber das sind Gedichte, mit denen ich nicht viel anfangen kann. Wenn man bedenkt, dass zur gleichen Zeit Walt Whitman (dessen Talent Emerson würdigte) und Herman Melville schreiben, dann fallen Emersons Gedichte doch stark ab. Ich bin auch nicht der Einzige, der dieser Meinung ist. In den dreißiger Jahren hat der Dichter und Literaturkritiker Yvor Winters gesagt: Emerson had talent, which was badly damaged by foolish thinking. Bösartiger geht es nicht. Emerson (der hier schon einen Post hat) selbst war natürlich anderer Meinung: I am born a poet, of a low class without doubt yet a poet. This is my nature and vocation, schrieb er an Lydia, die seine zweite Frau wurde.

Ich habe heute Emersons Übersetzung des Sonetts 151 von Michelangelo als Gedicht des Tages. Wie gut er Italienisch konnte, weiß ich nicht, aber er konnte Latein, weil er Theologie studiert hatte. Er ist auch in Italien gewesen, und die Europareise hatte sein Denken verändert, er gab die Kirche auf und wurde Schriftsteller und Redner. Michelangelos Sonett 151 ist von manchen Kritikern als das beste seiner mehr als dreihundert Sonette bezeichnet worden:

Non ha l’ottimo artista alcun concetto 
c’un marmo solo in sé non circonscriva
col suo superchio, e solo a quello arriva
la man che ubbidisce all’intelletto.
Il mal ch’io fuggo, e ’l ben ch’io mi prometto,
in te, donna leggiadra, altera e diva,
tal si nasconde; e perch’io più non viva,
contraria ho l’arte al disïato effetto.
Amor dunque non ha, né tua beltate
o durezza o fortuna o gran disdegno,
del mio mal colpa, o mio destino o sorte;
se dentro del tuo cor morte e pietate
porti in un tempo, e che ’l mio basso ingegno
non sappia, ardendo, trarne altro che morte.


Bei Emerson liest sich das Gedicht so:

Never did sculptor's dream unfold 
A form which marble doth not hold 
In its white block; yet it therein shall find 
Only the hand secure and bold 
Which still obeys the mind. 
So hide in thee, thou heavenly dame, 
The ill I shun, the good I claim; 
I alas! not well alive, 
Miss the aim whereto I strive. 
Not love, nor beauty's pride, 
Nor Fortune, nor thy coldness, can I chide, 
If, whilst within thy heart abide 
Both death and pity, my unequal skill 
Fails of the life, but draws the death and ill. 

Eine andere Übersetzung hat 1877 der englische Schriftsteller John Addington Symonds vorgelegt, die von Emerson ist keineswegs schlechter. Ich kann noch eine deutsche Prosaübersetzung anbieten, die sicherlich nützlich ist. Und ich habe Teile der Übersetzung von Gottlob Regis aus dem Jahre 1842, dieses deutsche Übersetzergenie des 19. Jahrhunderts habe ich schon in dem Post anonymous erwähnt. Rainer Maria Rilke hat viele der Sonette übersetzt, aber dieses leider nicht. Ich kann aber zum Schluss eine deutsche Übersetzung vorstellen:

Nichts kann der beste Künstler denken sich,
Das nicht in einem einz’gen Marmorsteine
Umschrieben wäre, und dies ergreift alleine
Die Hand, die seinem Geist dient williglich.
Das Übel, das ich flieh‘, das Gut, das ich
Ersehn‘, in Dir, Anmut’ge, Hohe, Reine,
Ruht’s eben so; zuwider ist nur meine
Kunst dem erwünschten Zweck, und tötet mich.
So hat nicht Liebe Schuld an meinen Schmerzen,
Nicht Deine Schönheit, Hochmut, große Strenge,
Nicht mein Geschick noch Los darf ich verklagen,
Wenn du trägst Lieb‘ und Tod in Deinem Herzen
Zugleich, und meinem schwachen Geist gelänge
Nur Tod mir glühend d’raus hervorzuschlagen.

Die Übersetzung ist von dem Romanisten Hugo Friedrich aus seinem Buch Epochen der italienischen Lyrik. Rilke als Übersetzer mochte Professor Friedrich überhaupt nicht, seine Michelangelo Übersetzungen hat er als das Abseitigste seiner Dichtung abgetan. Hugo Friedrich hat hier in dem Post Montaigne en allemand einen längeren Absatz, die wunderbare Rabattmarken Anekdote ist auch da drin. Das letzte ist vielleicht nicht so wichtig, aber sein Montaigne Buch aus dem Jahre 1949 (dritte Auflage 1993), das ist wichtig.

Dienstag, 26. April 2022

Liebestaumel


Am 26. April des Jahres 1336 hat Petrarca den Mont Ventoux bestiegen. Sagt er. Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdient Ventosus, den Windumbrausten, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig von der Begierde getrieben, diese ungewöhnliche Höhenregion mit eigenen Augen zu sehen. Wir wollen ihm mal glauben, obgleich es Stimmen gibt, die die Beschreibung der Besteigung als dichterische Phantasie bezeichnen. Doch um Petrarcas Kletterpartie soll es heute nicht gehen, zu dem Thema gibt es schon die Posts Mont Ventoux und Vietsen.

Der italienische Dichter Francesco Petrarca war vom Anfang an in diesem Blog, weil er eine Formel für die Liebesdichtung erfunden hat, die sich für Jahrhunderte in Europa halten wird. In dem Post Petrarca schrieb ich 2010: Der große Ernst Robert Curtius, der in seinem Buch Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter die Formelhaftigkeit der Lyrik untersucht hat, spricht hier ganz lapidar, von der Pest des Petrarkimus. Die breitet sich jetzt über ganz Europa aus. Dichter machen es sich leicht, griffige Formeln ersparen es, über Frauen und Schönheit nachzudenken. Außer William Shakespeare, der macht im Sonett 130 den ganzen Petrarkismus lächerlich. 

Und vor zwei Jahren stand hier in Petrarca (ancora una volta): Der Dichter war schon häufig in meinem Blog, ich nenne nur einmal die Posts Petrarca, Zähmung, Laura und Mont Ventoux; und wenn Sie heute etwas Zeit haben sollten, weil Sie wegen der Coronakrise zuhause bleiben müssen, dann hätte ich noch etwas für Sie. Nämlich eine Seite, die man die ultimative Seite zu Petrarca, dem Petrarkismus und dem Anti-Petrarkismus nennen könnte.

Das soll heute genug an Petrarca sein, aber wir bleiben bei Liebesgedichten. Und da habe ich eins von Arno Holz, der heute Geburtstag hat; ein Gedicht, das garantiert frei von Petrarcas Zauberformeln ist. Es heißt Erfüllung:

Dann
losch das Licht,
und
durch die Stille,
fiebernd, verlangend, erwartungsbang,
nur noch:
unser zitternder Herzschlag!
Trunken … stammelnd,
meine
Lippen … süß dein … Aufschrei!

Seligkeit!
……………

Im
Garten, frühauf, pfiff ein Vogel, von tausend Gräsern troff der Tau,
der
ganze Himmel … stand in Rosen.
Lieber! … Liebe!

Und
wieder:
Kuß … auf … Kuß!

Und
nichts als … wir, nichts … als wir!
………………..

Was
kann die Welt,
an Glück, an Glanz, an
Rausch,
an Wonne, an
Taumel,
Erdenlust … und … Herrlichkeit,
uns … jetzt noch … schenken … uns jetzt … noch
bieten … uns jetzt noch … bringen?!

Montag, 25. April 2022

Retouren

Ich hatte bei einem ebay Händler dieses Hemd für fünf Euro ersteigert, ein blasses Pink, Kragen und Manschetten mit einem Paisley Muster unterlegt. Das Hemd hieß Curtis, was eine modische Nebenlinie der Firma Hawes & Curtis ist. Die über hundert Jahre alte Firma war in den zwanziger Jahren der Schneider des Prince of Wales. Also des Prinzen, der seinen Thron aufgeben wird. Und Cary Grant, Clark Gable, Bing Crosby, Lord Mountbatten, Frank Sinatra und Fred Astaire waren einmal Kunden von Hawes & Curtis. Heute ist das mit der Firma, die seit Jahren eine Filiale in Köln hat, nicht mehr so toll. Das Hemd kam an, war aber das falsche, drei Nummern zu klein, anderes Muster. Dem Händler war das schrecklich peinlich, er hat sich entschuldigt und geschrieben, ich brauche das Hemd nicht zurückzusenden, ich könne es verschenken. Rücksendungen sind Ressourcenverschwendung stand in der Mail, und das ist wahr.

Das ist nur vernünftig, und es steht in völligem Gegensatz zu einem Riesen im Second Hand Geschäft, bei dem die Rücksendungen zum Geschäftsmodell gehören. Die Firma heißt Momox Fashion, hieß vorher Ubup (used but precious): sie hat noch einen Zwillingsbruder, der Medimops heißt. Medimops handelt mit Büchern und CDs, es gibt bei den Angeboten nur die Beschreibung des Zustands. Sonst nix. Keine Auflistung der Stücke auf der CD. Keine Angaben über die Seitenzahlen des Buches oder zur Auflage. Alles, was einem Antiquariat heilig ist, nämlich die genaue Beschreibung des Gegenstandes, fällt bei ihnen weg. Das ist bei Momox für die Klamotten nicht anders. Bei Oberhemden findet man nur die Kragengröße, was überhaupt nichts über die Größe des Hemdes aussagt. 

Wenn man danach fragt, bekommt man Sätze wie diesen zu hören: Dass Sie ergänzende Angaben zu dem gewünschten Artikel erfragen, können wir absolut nachvollziehen. Momentan können wir Ihnen nur die Informationen mitteilen, die Sie in der Artikelbeschreibung vorfinden. Und warum auch genaue Angaben, es kommt ja portofrei und man kann es ja kostenlos zurückschicken: Entspricht ein Artikel nicht deinen Vorstellungen, nehmen wir ihn innerhalb von 30 Tagen zurück. Der Rückversand ist innerhalb Deutschlands ebenfalls kostenlos. Bitte nutze dazu unser Retourenportal. Der Satz Rücksendungen sind Ressourcenverschwendung ist bei ihnen noch nicht angekommen. Die Firma bekommt im Internet auch vernichtende Kritiken. Momox wirbt mit einem angeworbenem Model und dem Wort nachhaltig. Aber nachhaltig ist bei dem Geschäftsmodell, das von Retouren lebt, gar nichts.  

Der Händler, der mir das falsche Hemd geschickt hatte, sandte drei Tage später das richtige, blaßrosa, mit viereckigen rosa Knöpfen und Paisley Muster. Und das Hemd bringt mich zu meinem heutigen Gedicht, das einfach Shirt heißt. Es ist von Robert Pinsky, einem in Amerika berühmten Dichter. Er war einmal Poet Laureate, hat viele Preise bekommen und den Ehrendoktor von einem halben Dutzend Universitäten. In Deutschland ist er erstaunlicherweise so gut wie unbekannt. 

Pinskys Gedicht Shirt, das 1989 im New Yorker erschien, handelt von den anonymen Näherinnen, die weltweit Hemden nähen. Es hat etwas mit Thomas Hoods Gedicht Song to the Shirt zu tun, das 145 Jahre früher erschien, es geht letztlich um die Ausbeutung von Frauen. Hawes & Curtis Hemden werden nicht mehr in der Jermyn Street genäht, sie kommen aus der Türkei. Und das hat einen einfachen Grund; die türkische Fabrik gehört Touker Suleyman (Bild), der vor zwanzig Jahren die bankrotte Firma Hawes & Curtis gekauft hatte. So bleibt das alles sozusagen in der Familie.

Das Gedicht Shirt fängt harmlos an, mit den Einzelteilen eines Hemds (the back, the yoke, the yardage. lapped seams), kommt dann zu den Näherinnen, die sich in einer Pause unterhalten (Koreans or Malaysians gossiping over tea and noodles on their break), aber dann kommt es, das Schreckliche: junge Mädchen stürzen sich aus dem neunten Stock eines Hochhauses in den Tod. Geht hier die Phantasie des Dichters durch? Nein, the infamous blaze at the Triangle Factory in nineteen-eleven, das hat es gegeben. Eine Katastrophe, bei der mehr als hundertzwanzig ganz junge Mädchen in den Flammen umkamen oder in den Tod sprangen. Aber der Brand der Triangle Shirtwaist Factory wiederholt sich immer wieder auf der Welt. Hundert Jahre nach der Katastrophe in New York haben wir den Brand der Ali Enterprises in Pakistan, das Tazreen Fashions Feuer in Bangladesch (wo auch C&A produzieren ließ) und den Einsturz des Rana Plaza Building in Bangladesch. Was wir am Körper tragen, ist einen langen Weg gegangen, häufig einmal um die Welt. Unter welchen Bedingungen es enstanden ist, wissen wir selten. Und damit sind wir beim Thema des Gedichts Shirt:

The back, the yoke, the yardage. Lapped seams,
The nearly invisible stitches along the collar
Turned in a sweatshop by Koreans or Malaysians

Gossiping over tea and noodles on their break
Or talking money or politics while one fitted
This armpiece with its overseam to the band

Of cuff I button at my wrist. The presser, the cutter,
The wringer, the mangle. The needle, the union,
The treadle, the bobbin. The code. The infamous blaze

At the Triangle Factory in nineteen-eleven.
One hundred and forty-six died in the flames
On the ninth floor, no hydrants, no fire escapes—

The witness in a building across the street
Who watched how a young man helped a girl to step
Up to the windowsill, then held her out

Away from the masonry wall and let her drop.
And then another. As if he were helping them up
To enter a streetcar, and not eternity.

A third before he dropped her put her arms
Around his neck and kissed him. Then he held
Her into space, and dropped her. Almost at once

He stepped to the sill himself, his jacket flared
And fluttered up from his shirt as he came down,
Air filling up the legs of his gray trousers—

Like Hart Crane’s Bedlamite, “shrill shirt ballooning.”
Wonderful how the pattern matches perfectly
Across the placket and over the twin bar-tacked

Corners of both pockets, like a strict rhyme
Or a major chord. Prints, plaids, checks,
Houndstooth, Tattersall, Madras. The clan tartans

Invented by mill-owners inspired by the hoax of Ossian,
To control their savage Scottish workers, tamed
By a fabricated heraldry: MacGregor,

Bailey, MacMartin. The kilt, devised for workers
To wear among the dusty clattering looms.
Weavers, carders, spinners. The loader,

The docker, the navvy. The planter, the picker, the sorter
Sweating at her machine in a litter of cotton
As slaves in calico headrags sweated in fields:

George Herbert, your descendant is a Black
Lady in South Carolina, her name is Irma
And she inspected my shirt. Its color and fit

And feel and its clean smell have satisfied
Both her and me. We have culled its cost and quality
Down to the buttons of simulated bone,

The buttonholes, the sizing, the facing, the characters
Printed in black on neckband and tail. The shape,
The label, the labor, the color, the shade. The shirt.

Es gibt im Internet Interpretationshilfen, um das Gedicht besser zu verstehen, hier ist eine davon. Und dann habe ich hier noch ein Interview mit Robert Pinsky, in dem man sehr viel über das Gedicht erfährt. Ein Jahr nach der Katastrophe von 1911 gab es The Crime of Carelessness im Kino zu sehen, produziert von der Thomas A. Edison Incorporation. Und bezahlt vom Verband der Unternehmer. 1950 hat Jack Armold, der ansonsten auf SF Filme und Horror spezialisiert war, den Film With These Hands gedreht. Der Dokumentarfilm war eigentlich nur für die Mitglieder der International Ladies' Garment Workers' Union gedreht worden, wurde aber trotzdem für einen Oscar nominiert; die Brandkatastrophe kommt allerdings nur randständig in dem Film vor. 1979 erschien das Ganze mit dem Triangle Factory Scandal als Spielfilm, aber den Schrecken der Wirklichkeit gibt das alles kaum wieder.

Sonntag, 24. April 2022

nicht ganz ernst


Heute vor achtundfünfzig Jahren hat eine Gruppe von Vandalen der kleinen Meerjungfrau in Kopenhagen den Kopf abgesägt. Der Hauptakteur war wohl ein gewisser Jørgen Nash, der sich hinterher Mermaid Killer nannte. Das Ganze war ein Happening einer Künstergruppe; was es sollte, weiß niemand. Man hatte der lille Havfrue ja schon einiges angetan, sie bunt bemalt oder sie mit einem BH bekleidet, aber geköpft worden war sie noch nicht. Man hat den Kopf nie wiedergefunden, ihn aber nach dem Originalguss von Edvard Eriksen nachmodelliert. Die Untat von 1964 hatte Folgen, 1984 wurde ihr der rechte Arm abgesägt, 1998 wurde sie zum zweitenmal enthauptet und 2003 vom Sockel gesprengt. Man kann sie sich für 82.000 Euro auch nachgegossen kaufen und sich ins Wohnzimmer stellen, sie ist ja nicht sehr groß.

Hans Christian Andersens kleine Meerjungfrau gab es hier schon in dem Post Meerjungfrauen + Waldnixen. Und für all ihre Schwestern, ob sie Rheinnixen, Waldnixen oder Loreley heißen, gab es hier schon die Posts: LurleyLoreleyRheinromantikdie schöne Frau Lore Ley und Rheinnixen. Mein Gedicht heute habe ich auf der Seite mermaidmania gefunden, wo eine Vielzahl von Nixengedichten versammelt ist. Friedrich Theodor Vischers Herr Olaf ist dabei, Herrn Winfreds Meerfahrt von Strachwitz allerdings nicht. Das Gedicht heute heißt schlicht Die Nixe und stammt aus dem Buch Die lachende Nixe von Willi Schönherr. Der schreibt lustige Bücher, bei denen immer das Wort lachen im Titel vorkommt. Anspruch auf Weltliteratur hat das nicht, muss aber auch mal sein.

Die Nixe ist ein Wassergeist,
der obenrum zwar Sex verheißt,
jedoch gleicht diese Meerjungfrau
dann untenrum dem Kabeljau,
was sicherlich die Herrenwelt
im Ernstfall vor Probleme stellt,
denn in den Sagen steht geschrieben,
dass Nixen junge Männer lieben
und sich mit Zauberkraft bemüh'n,
sie in ihr Wasserbett zu ziehen.
Wie sich die beiden Hübschen lieben,
wird in den Sagen nicht beschrieben.


Samstag, 23. April 2022

was zu zeigen ist


Es gab hier in diesem Monat schon einmal Rolf Dieter Brinkmann, aber ein zweites Gedicht von ihm kann an seinem Todestag nicht schaden, diesen Dichter kann man immer lesen. Das Gedicht hat den Titel Revolution, aber es geht nicht um etwas Revolutionäres. Das Gedicht findet sich, ebenso wie die Gedichte Die Ferne, blau und weißWirf... und Vage Luft 1972 in dem von Hans Peter Keller und Günter Lanser herausgegeben Band Satzbau: Poesie und Prosa aus Nordrhein-Westfalen. Heinrich Böll ist da drin, aber auch Hannelies Taschau, es ist eine interessante Sammlung. Man wünschte sich nur, dass das Vorwort länger wäre als eine Seite, und dass da mehr drin stände als der Satz: Das Ensemble macht klar, daß Nordrhein-Westfalen in der gesamtdeutschen Literatur der Gegenwart einen vernehmlichen Part spielt. Das Buch scheint die einzige Quelle für Brinkmanns Gedicht Revolution zu sein, das man im Internet vergeblich sucht. Jetzt ist es hier:

Ich stehe auf einem 
wackeligen Suhl und
habe Mühe, die zehn

Jahre alte Tapete
von der Wand zu
kriegen, was eine

Menge Arbeit ist,
nicht nur an einem
warmen Tag, der mich

von einer Hängematte
träumen läßt, wo kein
Ruß ist und Bier im

Schatten eines Mädchens
das sich die Haare aus
dem Gesicht streift,

in die Sonne blinzelt
sagt. 'gib mir auch'n
Schluck!', den Rock
hebt und zeigt, was

zu zeigen ist,
mehr nicht.



Freitag, 22. April 2022

sweatshirts

Ich habe das hier schon mal gesagt, dass meine Bekleidung beim Schreiben aus gelben Chinos, einem italienischen Luxushemd und Sweatshirts besteht. Ich habe immer Sweatshirts getragen, früher beim Sport, beim Jogging und beim Hallentennis. Ich habe mit der Zeit ein halbes Dutzend Sweatshirts angehäuft, aber gute Sweatshirts sind schwer zu bekommen. Kapuzenshirts, die Hoodies heißen (Standardkleidung für Bankräuber) massenhaft. Richtig gute Sweatshirts aus Baumwolle eher selten, die aus Fleece und Polyester sind keine Mangelware. Viele kleine Firmen, die früher Qualitätsware herstellten, sind untergegangen oder unbezahlbar geworden. Ich weiß nicht, weshalb Stone Island so teuer geworden ist. Wahrscheinlich, weil die englischen Hooligans das inzwischen tragen. Man ist ja immer auf der Suche. Nach den schönsten Frauen, nach den besten Jeans, nach dem besten Oberhemd, nach den guten Sweatshirts. Letztens fand ich eins von Christian Dior bei ebay, dreißig Euro, neu und ungetragen. Ist 'ne Fälschung, sagten meine Freunde. Warten wir es ab, sagte ich. Ich machte mich im Internet schlau, was diese Dinger so kosten. Ich konnte es kaum glauben, dass ein Sweatshirt mit dem Aufdruck Christian Dior Atelier 1.200 Euro kosten soll. 

Das Sweatshirt kam an, es war neu, und es passte gut. Aber es hatte kein Christian Dior Etikett. Doch es besaß eine Handvoll eingenähter Etiketten, die auf eine ganz andere Firma verwiesen, die Staff International heißt. Das ist eine Firmentochter eines kleinen Luxuskonzerns mit dem Namen OTB. Steht für Only the Best. OTB hieß früher einmal Only the Brave; damals als Renzo Russo seine Jeansmarke Diesel gründete, die ihn zum Millionär machte. Und in den letzten zwanzig Jahren hat er sich noch ein paar Firmen dazugekauft.  Maison Margiela, Marni, Amiri und Viktor & Rolf. Im letzten Jahr hieß der Neukauf Jil Sander, und Russo hat angedeutet, dass er noch andere Firmen kaufen wird. Beteiligungen an anderen Firmen wie zum Beispiel John Galliano, DsquaredN21 und Trussardi hat er schon genug. Und offenbar hat er, wie ein Etikett im Sweatshirt ausweist, auch einmal eine Dior Lizenz gehabt. Vielleicht macht er auch die anderen mit den echten Christian Dior Etiketten, die Hoodies von Mike Amiri, die er herstellt, kosten auch über 1.000 Euro.

Es ist schwer, bei ebay ein gutes Sweatshirt zu finden, noch schwerer ist es, ein Gedicht mit Sweatshirts zu finden. Ich habe ein Gedicht von John Updike, in dem auf jeden Fall das Wort Sweatshirt drin vorkommt. Updike war schon häufig in diesem Blog, zuerst in dem Post Nationalstolz, dann in John Updike und zuletzt in Hopper is saying, I am Vermeer. Das Gedicht heute heißt Flight into Limbo, er hat es beim Warten auf sein Flugzeug im John F. Kennedy Flughafen geschrieben. Im Schwebezustand, in limbo, auf seinen Flug wartend. Flugzeuge waren für ihn der ideale Ort zum Schreiben: writing in airplanes is a great poetry-writing time. Er hatte die erste Fassung auf seiner Bordkarte geschrieben, die aber im Flugzeug liegengelassen. Aber US Airways hat die Karte gefunden und ihm zugeschickt. Sonst hätten wir dies Gedicht nicht:

Flight to Limbo

(At What Used to Be Called Idlewild)

The line didn’t move, though there were not
many people in it. In a half-hearted light
the lone agent dealt patiently, noiselessly, endlessly
with a large dazed family ranging
from twin toddlers in strollers to an old lady
in a bent wheelchair. Their baggage
was all in cardboard boxes. The plane was delayed,
the rumor went through the line. We shrugged,
in our hopeless overcoats. Aviation
had never seemed a very natural idea.

Bored children floated with faces drained of blood.
The girls in the tax-free shops stood frozen
amid promises of a beautiful life abroad.
Louis Armstrong sang in some upper corner,
a trickle of ignored joy.
Outside, in an unintelligible darkness
that stretched to include the rubies of strip malls,
winged behemoths prowled looking for the gates
where they could bury their koala-bear noses
and suck our dimming dynamos dry.

Boys in floppy sweatshirts and backward hats
slapped their feet ostentatiously
while security attendants giggled
and the voice of a misplaced angel melodiously
parroted FAA regulations. Women in saris
and kimonos dragged, as their penance, behind them
toddlers clutching Occidental teddy bears,
and chair legs screeched in the food court
while ill-paid wraiths mopped circles of night
into the motionless floor.


Donnerstag, 21. April 2022

fremde Mädchen


Der deutsche Maler Albert Weisgerber wurde am 21. April 1878 geboren, heute vor zehn Jahren gab es hier schon den Post Albert Weisgerber. Zu meiner großen Überraschung ist der einige tausend Male angeklickt worden. Wahrscheinlich lag das daran, dass der Maler Albert Weisgerber nicht so bekannt ist. Obgleich sich die Weisgerber Stiftung, die hier eine sehr schöne Seite hat, bemüht, ihn bekannter zu machen. Dies Bild von ihm, das nicht zu seinen besten Werken gehört, hat etwas mit einem Gedicht zu tun. Es ist eine Skizze zu einem größeren Bild, eine Illustration zu Friedrich Schillers Gedicht Das Mädchen aus der Fremde. Und das nehme ich heute als Gedicht des Tages.

In einem Tal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen, schön und wunderbar.

Sie war nicht in dem Tal geboren,
Man wußte nicht, woher sie kam,
Und schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm.

Beseligend war ihre Nähe,
Und alle Herzen wurden weit,
Doch eine Würde, eine Höhe
Entfernte die Vertraulichkeit.

Sie brachte Blumen mit und Früchte,
Gereift auf einer andern Flur,
In einem andern Sonnenlichte,
In einer glücklichern Natur.

Und teilte jedem eine Gabe,
Dem Früchte, jenem Blumen aus,
Der Jüngling und der Greis am Stabe,
Ein jeder ging beschenkt nach Haus.

Willkommen waren alle Gäste,
Doch nahte sich ein liebend Paar,
Dem reichte sie der Gaben beste,
Der Blumen allerschönste dar.

Schiller Zeitgenosse Christian Felix Weiße hat im Vorwort einer Ausgabe von Schillers Gedichten geschrieben: Die Sammlung wird mit einer kleinen Allegorie voll Anmuth eröffnet, die ihr statt der Vorrede dient. Die Klarheit und Heiterkeit der Darstellung, die zarteste Anspruchslosigkeit und der geheimnißvolle Schleyer selbst, welcher den Sinn umhüllt, haben dem Mädchen aus der Fremde auch das Herz derer gewonnen, die jenen Schleyer nicht zu lüften wußten. (…) Das Mädchen aus der Fremde ist die Poesie. Herbeygerufen durch die Innigkeit des Gefühls, welches die Blüthe und Anmuth der Natur zu wecken pflegt, tritt sie zuerst unter den einfachsten und unschuldigsten Kindern der Natur auf, die sie durch ihre Gegenwart beglückt und über die enge Sphäre ihres Daseyns erhebt. Niemand weiß, von wannen sie kömmt oder wohin sie geht, und ihr geheimnißvoller göttlicher Ursprung kündigt sich durch die edle Würde an, mit der sie sich von allem, was gemein und sterblich ist, entfernt. Sie beglückt die Menschen durch ihr heiteres Daseyn und durch die Gaben, die sie ihnen mittheilt; Gaben, die sie selbst in überirdischen Gegenden, in dem Lande der Ideale, gesammelt hat. Sie sind von der mannigfaltigsten Art, obgleich alle erfreulich und schön. Die einen, reizende Spiele der Phantasie und – gleichsam die Blumen der Dichtkunst – ergötzen durch ihre Anmuth: die anderen sind von ernsterer Art und den Früchten vergleichbar, nach denen das Alter vorzugsweise greift, während die Jugend sich mehr an jenen erfreut. Jeder hat Anspruch auf ihre Gunst; aber vor allen der Liebende. Denn die Liebe ist die Poesie des Lebens und es giebt keine Poesie ohne Liebe!

Schillers Gedicht ist von Franz Schubert vertont worden, Sie können es hier von Dietrich Fischer-Dieskau gesungen hören.

Mittwoch, 20. April 2022

windig


Ich wollte eigentlich in diesem Poetry Month nicht täglich schreiben, aber jetzt tue ich es doch. Ich glaube, ich mache einmal eine kleine Pause. Aber ein Gedicht soll es heute trotzdem geben. Es heißt Windy Day und ist von Charles Simic. Der in Belgrad geborene Dichter ist in den USA, seit er sechzehn ist. Er hat dort studiert und ist dort Literaturprofessor gewesen. Seine Gedichte haben ihm viel Lob eingetragen, und 2007 wurde er Poet Laureate der USA. Das Gedicht Windy Day ist im letzten Jahr im New Yorker erschienen, für dieses Magazin schreibt er gerne. Das Gedicht ist kurz, verlangt nach keinen Interpretationshilfen, es ist eine kleine Liebesgeschichte, die auf der Wäscheleine hängt:

Two pairs of underwear,
One white and the other pink,
Flew up and down
On the laundry line,
Telling the whole world
They are madly in love.


Dienstag, 19. April 2022

Iphigenie

Am 19. April 1774 wurde in Paris die Oper Iphigénie en Aulide (Iphigenie in Aulis) von Christoph Willibald Gluck aufgeführt, Beinahe hundert Jahre später malt der deutsche Maler Anselm Feuerbach diese Iphigenie. Dies Bild von 1871 ist die zweite Fassung des Bildes, die Frau im weißen Kleid ist immer dieselbe Frau. 
Es ist allerdings diesmal nicht die Römerin Anna Risi, die Feuerbachs Muse und seine Geliebte gewesen war, die hatte ihn schon verlassen. Das steht schon in dem Post che gelida mani, der von dem Bild Feuerbachs handelt, das in der Bremer Kunsthalle hängt. Als Anna Risi drei Jahre später in einem katzenjämmerlichen Zustand bettelnd bei ihm auftauchte, hat er sie abgewiesen. So wird es allen gehen, die sich an meinem Genie versündigen, schreibt er an seine Mutter. Seine neue Muse heißt Lucia Brunacci: Ab 1866/7 fand er Ersatz in Lucia Brunacci, die Anna sehr ähnlich war, und die auch ihren Mann für ihn verließ. Lucia übernahm nun die Rolle der Anna Risi, aber ohne deren Ausstrahlung zu haben, mimte sie lediglich wie eine Statistin mythologische Frauengestalten, wie die Iphigenie und die Medea und war nun auch nackt zu sehen im Urteil des Paris und als ruhende Nymphe. Die Staatsgalerei Stuttgart schreibt über dieses Bild: Wie eine antike Statue ist das Modell Lucia Brunacci in großer Pose platziert, wie Goethes Iphigenie 'das Land der Griechen mit der Seele suchend'. Grau in grau mit wenigen Akzenten erinnert die Farbigkeit an antike Fresken. Inszeniert wie auf einer Bühne, wurde dieses Bild der unerfüllten Sehnsucht zum charakteristischen und häufig reproduzierten Motiv einer ganzen Epoche.

Schiller hat Euripides übersetzt. Goethe hat ein Theaterstück über Iphigenie geschrieben. In dem wir lesen können: Denn ach, mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem Ufer steh ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Das 19. Jahrhundert ist von Agamemnons Tochter wie besessen, es gibt nach Schiller und Goethe noch ein Dutzend deutscher Theaterstücke. Ich könnte ja jetzt ein paar Verse von Goethe oder Schiller nehmen, aber irgendwie gehen mir dies ganze Land der Griechen mit der Seele suchend und die kitschigen Bilder von Anselm Feuerbach auf den Keks. Das scheint auch dem Amerikaner Jack Conway, der Professor am English Department der University of Massachusetts in Dartmouth ist, so gegangen zu sein. Auf jeden Fall hatte er vor zehn Jahren beim Wergle Flomp Humor Poetry Contest 2012 ein Gedicht über Agamemnon eingereicht, das eine Honorable Mention erhielt und mit fünfundsiebzig Dollar prämiert wurde. In The Agamemnon Rag macht sich der Dichter einen Spaß mit der antiken Mythologie, spielt mit der Sprache, ist frech, witzig und ein klein bisschen unanständig:

The Agamemnon Rag

Atlas, you’re Homer. I am so glad you’re Hera.
Thera so many things to tell you. I went on that
minotaur of the museum. The new display centaurs
on how you can contract Sisyphus if you don’t use
a Trojan on your Dictys. It was all Greek to me, see.
When I was Roman around,
I rubbed Midas against someone. “Medea, you look like a Goddess,”
he said. The Minerva him! I told him to
Frigg off, oracle the cops. “Loki here,” I said.
“In Odin times men had better manners.” It’s best to try
and nymph that sort of thing in the bud. He said he knew
Athena two about women like me, then tried to Bacchus
into a corner. Dryads I could, he wouldn’t stop.
“Don’t Troy with my affections,” he said.
“I’m already going to Helen a hand basket.”
I pretended to be completely Apollo by his behavior.
If something like that Mars your day, it Styx with you
forever. “I’m not Bragi,” he said. “But Idon better.”
Some people will never Lerna. Juno what I did?
Valhalla for help. I knew the police would
Pegasus to the wall. The Sirens went off.
Are you or Argonaut guilty, they asked.
He told the cops he was Iliad bad clams.
He said he accidentally Electra Cupid himself
trying to adjust a lamp shade. This job has its
pluses and Minos. The cops figured he was Fulla it.
He nearly Runic for me. I’m telling you,
it was quite an Odyssey, but I knew things would
Pan out. And oh, by the way, here’s all his gold.
I was able to Fleece him before the museum closed.

Montag, 18. April 2022

Saxifraga


Diese Pflanze brauche ich mal eben, sie heißt Saxifraga. Vom Lateinischen saxum (Fels) und frangere (zertrümmern), der Steinbrech frisst sich durch den Stein. Andere Pflanzen  können das nicht, Orchideen schon gar nicht. Die Pflanze kommt in meinem heutigen Gedicht vor, das Lachlan MacKinnon (der Ehemann von Wendy Cope) im September 2017 im Guardian veröffentlicht hat. Das Gedicht hat den Titel WCW, was für William Carlos Williams steht. Der amerikanische Arzt und Dichter hat hier mit William Carlos Williams schon einen Post, und im Post Max Oertz findet sich auch ein schönes Gedicht von ihm. In diesem Monat gab es hier sein bekanntestes Gedicht This is just to say. Das soll für den Augenblick genug WCW sein, wir schauen einmal auf Lachlan MacKinnon:

WCW 
 
Saxifrage, said William Carlos Williams, was his flower 
because it split stone. Yesterday, in a pot, a clump of it, 
weedy red petals, stems robust as peasant legs. 

It would survive a summer’s rage for decking, 
rost memory, meltwater gush, black August. 
It wouldn’t last a weekend in the jungle, 

being a flower of the far north, temperate at best. 
Williams was a doctor, and he could listen to his language 
for the slightest sign, like a stethoscope.
 
Saxum is stone, frag the root of frangere, to break. 
Latin names for northern things. Ghosts of empire. 
Williams had time for the patient ones, men, women, children
 
who hang on, who pull through, saxifrage splitting stone.

Um das Gedicht richtig zu verstehen, brauchen wir ein anderes Gedicht. Nämlich das, auf das sich MacKinnon bezieht. Literaturwissenschaftler sprechen hier von Hypertextualität. Wir kennen das aus vielen Werken, James Joyces Ulysses hat seine Basis in Homers Odyssee. Und MacKinnons Gedicht hat seinen Ursprung in diesem Gedicht von Williams:

A Sort of a Song

Let the snake wait under
his weed
and the writing
be of words, slow and quick, sharp
to strike, quiet to wait,
sleepless.

—through metaphor to reconcile
the people and the stones.
Compose. (No ideas
but in things) Invent!
Saxifrage is my flower that splits
the rocks.


In einer Tonbandaufzeichnung aus dem Jahre 1951 im Haus seines Freundes Kenneth Burke hat Williams sein Gedicht kommentiert: I can’t reconstruct the situation but saxifrage is my flower, Saxifrage is a very inconspicuous little flower and it grows.. Saxifrage means.. Saxi.. it breaks the rocks. yes that’s it exactly.
       And it’s the idea that the poet and all that he stands for is absolutely insistent and will prevail in the end, although it’ll be a long time. And it’s a very inconspicuous little flower, that, by its roots, does finally end by splitting the rocks. And it doesn’t matter how long it takes, and it isn’t by anyone’s concern, any poet’s concern, but it is his intention to be completely revolutionary and to knock down all opposition, in the end if it takes him forever, he’s gonna win in the end, and it’s a celebration of that, and it’s to say that.
       He’s going to wait, he’s a snake. he’s saxifrage, he’s determined, and you must do it and the the invention – that is the metaphor is juxtaposition of those two things – the people and the stone there they are people stone, people, stone stones are actually a metaphor, they are and they won’t be beaten down, and they won’t be wiped out (although saxifrage will certainly go in there and open them up!)

Ein kleines Gedicht, zwölf Zeilen. Und eine ganze Dichtungstheorie: Compose. (No ideas but in things) Invent!

Sonntag, 17. April 2022

Ostern

Osterjubel

Jetzt ist der Himmel aufgetan,
jetzt hat er wahres Licht!
Jetzt schauet Gott uns wieder an
mit gnädigem Gesicht.
Jetzt scheinet die Sonne
der ewigen Wonne!
Jetzt lachen die Felder,
jetzt jauchzen die Wälder,
jetzt ist man voller Fröhlichkeit.

Jetzt ist die Welt voll Herrlichkeit
und voller Ruhm und Preis.
Jetzt ist die wahre, goldne Zeit
wie einst im Paradeis.
Drum lasset uns singen
mit Jauchzen und Klingen,
frohlocken und freuen;
Gott in der Höh sei Lob und Ehr.

Jesus, du Heiland aller Welt,
dir dank ich Tag und Nacht,
daß du dich hast zu uns gesellt
und diesen Jubel bracht.
Du hast uns befreiet,
die Erde erneuet,
den Himmel gesenket,
dich selbst uns geschenket,
dir, Jesus, sei Ehre und Preis.

Mit diesem Gedicht von dem Barockdichter Angelus Silesius möchte ich all meinen Lesern ein frohes Osterfest wünschen.


Samstag, 16. April 2022

Higgledy-piggledy


Heute ist der hundertste Geburtstag des englischen Schriftstellers Kingsley Amis. Er war ein Freund von Philip Larkin, dessen Gedichte viel besser sind als seine. Das wusste er auch. Sein Sohn Martin Amis hat über seinen Vater gesagt, dass er jeden Tag zwei oder drei Gedichte von Larkin lesen würde. Sie finden Gedichte von Amis in dem langen Post Kingsley Amis, und in dem Post Women are really much nicer than men ist noch ein schönes Gedicht von ihm. Aber heute gibt es kein Gedicht von ihm. Das Gedicht heute ist von einer Frau, die Kingsley Amis ihre Karriere verdankt, ohne dass er etwas dazu getan hat. Die Dichterin Wendy Cope hatte ihrem ersten Gedichtband den Titel Making Cocoa for Kingsley Amis gegeben. Das war auch der Titel dieses Gedichts: 

It was a dream I had last week
And some kind of record seemed vital.
I knew it wouldn't be much of a poem
But I loved the title. 

Kingsley mochte den Titel auch, er kam sogar zu der Party, mit der das Buch im vornehmen Faber & Faber Verlag vorgestellt wurde. Ihre Freundin Valerie Grove hatte das arrangiert: Her first collection, in 1986, was called 'Making Cocoa for Kingsley Amis', a bold move since she had never, at the time, met him, a man not hard to vex. It was I who brazenly rang him on her behalf, to find out what he thought of her stuff. Luckily he thought it bloody good. He admired her adherence to traditional metres ("She might never have heard of Ezra Pound," he said approvingly) and, to her amazement, turned up to her launch party. Wendy Cope hasste es, immer als Dichterin von light verse bezeichnet zu werden, aber wir sollten ihr dafür dankbar sein, dass sie so etwas schreibt. Das Gedicht heute heißt Emily Dickinson, es fällt auch unter die Kategorie light verse, eine Form der Literatur, die seit Edward Lear und Lewis Carroll fest in englischer Hand ist:

Higgledy-piggledy
Emily Dickinson
Liked to use dashes
Instead of full stops.

Nowadays, faced with such
Idiosyncrasy,
Critics and editors
Send for the cops.

Ich habe mit der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson meine Schwierigkeiten, das können Sie dem langen Dickinson Post entnehmen, aber ich finde dies Gedicht ganz wunderbar. Wendy Cope, die mehrfach als poet laureate im Gespräch war, ist mit dem schottischen Dichter Lachlan MacKinnon verheiratet. Der wird hier in den nächsten Tagen auch noch auftauchen.

Freitag, 15. April 2022

Karfreitag


Christ Carrying the Cross

Two crosses on the hill await a third.
A crowd stands in a circle as other townsfolk
swarm slowly up the hill to join them. Where's Christ?
They frolic, gossip, rear the horses, laugh.
Even the soldiers celebrate. They sport
red jackets as they keep some order here.
Not too much. It's an execution, after all.
Where's Christ? There are the thieves. In a horse cart,
one prays, one stares into the sky and howls.
Where's Christ? There's a small town,
there's a crag with a black windmill, rickety, on top.
And there's Christ, hard to see, right in the center.
He's fallen beneath his huge cross. Can he rise?
The revelers kick and taunt him. At church we sing,
Where were you when they crucified my Lord?
A crow perched on a torture-wheel looks off
into the distance. Christ staggers, falls, stays down.
Eternity's a long walk, Lord. Get up!

In meinem ersten Jahr als Blogger stand dieses Gedicht von Andrew Hudgins in meinem Blog. Den amerikanischen Dichter hatte ich entdeckt, weil ich mehrere seiner Gedichtbände im Antiquariat Eschenburg fand. Hans-Jürgen Heise, dem Hudgins sie geschickt hatte, hatte sie dahin getragen. Ich hatte zuvor noch nichts von dem Dichter gehört, wusste nicht, dass er einmal beinahe den Pulitzer Preis und einmal beinahe den National Book Award bekommen hätte, aber ich wusste, dass dies gute Lyrik war. Ich bestellte mir noch mehrere seiner Gedichtbände, schrieb über ihn und schickte ihm das zu. Das war der Beginn einer wunderbaren E-Mail Brieffreundschaft. Seine neuesten Bücher schickte er mir mit Widmung, aber die werde ich natürlich nicht zu Eschenburg tragen.

Donnerstag, 14. April 2022

baisers volés


Der französische Photograph Robert Doisneau wurde heute vor hundertundzehn Jahren geboren, er ist einer der berühmtesten französischen Photographen gewesen. Er hat Picasso photographiert und Georges Braque. Juliette Gréco hat er auch photographiert, Jacques Prévert, dessen Lieder Juliette sang, auch. Als er zu photographieren begann, war er zu schüchtern, Menschen zu photographieren, er lichtete erst einmal Pflastersteine ab. Menschen machten ihm Angst. 

Er begann seine Karriere als Werksphotograph von Renault in Billancourt. Autos zu photographieren ist nicht so schwer. Aber er hat es mit der Zeit gelernt, Menschen zu photographieren. Auf dem Bild im ersten Absatz hat er seine Freundin Sabine Azéma photographiert, die photographierte er gerne. Sie hat auch 1992 einen kleinen Dokumentarfilm über ihn gedreht. Seine Enkelin Clémentine Deroudille hat auch einen Film über ihn gedreht. Kann man leider nicht im Internet sehen, da gibt es nur einen Schnipsel, aber man kann Robert Doisneau: Das Auge von Paris als DVD kaufen. Es gibt natürlich auch schöne Bücher mit seinen Photographien, wie zum Beispiel der Band Mein Paris bei Schirmer/Mosel.

Sein berühmtestes Photo ist dieser Kuss vorm Pariser Rathaus. Was hier aussieht wie ein zufälliger Schnappschuss, ist das Ergebnis von einem halben Tag Arbeit mit zwei jungen Schauspielschülern. Sie können einige Sekunden davon in dem Video da oben sehen. Und in dem Post Straßenphotographie steht auch einiges zu diesem Bild. Bei einem Photo wie diesem ist es klar, dass es heute ein Gedicht über das Küssen geben muss. Es heißt Kuß, noch in dieser Schreibung, denn es ist 150 Jahre älter als das Photo von Doisneau.

Auf die Hände küßt die Achtung,
Freundschaft auf die offne Stirn,
Auf die Wange Wohlgefallen,
Sel'ge Liebe auf den Mund;
Aufs geschloßne Aug' die Sehnsucht,
In die hohle Hand Verlangen,
Arm und Nacken die Begierde,
Übrall sonst die Raserei.


Mittwoch, 13. April 2022

Leserschwund


Da ist er wieder, der Leserschwund. Am siebten April waren es 2.725 Leser, am nächsten Tag noch knapp achthundert. Solche Einbrüche bei den Leserzahlen kommen ja immer wieder vor, ich habe schon mal darüber geschrieben. Ich glaube, ich mach' mal ein bisschen Pause, ich wollte eh nicht jeden Tag im Poetry Month schreiben. Das habe ich zwar im letzten Jahr gemacht, aber das war richtige Arbeit. Zwei kleine Gedichte sollen es heute doch sein, sie haben mit den Lesern zu tun. Sie sind von dem Barockdichter Friedrich von Logau, der schon mit kurzen Epigrammen (von denen er tausende geschrieben hat) zweimal in meinem Blog war.

Das erste Gedichte hat den Titel An den Leser:

O Leser, dir steht frey zu urtheln über mich,
Und andren stehet frey zu urtheln über dich.
Wie du dein Urthel nun von andren dir begehrest,
So sihe, daß du mir mein Urthel auch gewehrest.


Logau hat viele Spruchgedichte an seine imaginierten Leser geschrieben, ein sehr kurzes ist dieses hier:

Leser, wie gefall ich dir?
Leser, wie gefellst du mir?

Und ich verabschiede mich heute mit den Versen:

Sind dir, Leser, meine Sachen mißgefällig wo gewesen,
Kannst du sie am besten strafen mit dem sauren nimmerlesen.



Dienstag, 12. April 2022

anonymous

Der englische Aristokrat Edward de Vere wurde am 12. April 1550 geboren. Er erbt den Titel eines Earl of Oxford, einen der ältesten Adeltitel Englands. Er erbt auch den Titel eines Lord Great Chamberlain. Und er schreibt Gedichte. Das tun nun viele am Hof von Elizabeth, das wäre nicht weiter bemerkenswert. Er schwängert eine Hofdame der Königin und wandert in den Tower. Da sind in dieser Zeit viele für einige Zeit zu Gast, auch die Königin war dort einmal gefangen. Sie zwingt den Adligen, die Affaire mit der Hofdame zu beenden und zu seiner Frau zurückzukehren. Das alles wäre Stoff für einen Roman, aber unser Edward de Vere bekommt noch eine ganz andere Berühmtheit. Vor hundert Jahren schreibt ein englischer Lehrer namens Thomas Looney das Buch Shakespeare Identified in Edward De Vere, the Seventeenth Earl of Oxford, in dem er behauptet, de Vere habe das ganze Werk Shakespeares geschrieben.

Diese wirre Theorie, die immer mal wieder Konjunktur hatte, hat den Namen Oxfordian theory bekommen. Edward de Vere war ein gebildeter Mann, er hatte Latein und Französisch gelernt und eine Bildungsreise, den Vorläufer der Grand Tour, nach Italien gemacht. Shakespeare war nie aus England herausgekommen, Latein und Französisch waren ihm fremd, small Latin and less Greek habe er, hat Ben Jonson über ihn gesagt. Aber Jonson hat auch gesagt: he was not of an age but for all time. Die neueste Biographie von de Vere, streng der Oxfordian theory verpflichtet, ist Shakespeare by Another Name von dem amerikanischen Journalisten Mark Anderson. In dem Buch werden auch alle Daten zu Shakespeares Werken von Mark Anderson korrigiert. Das musste er auch tun, denn Shakespeares Sonnets erschienen, als de Vere schon fünf Jahre lang tot war. Und aus den Sonnets möchte ich eins nehmen. Es ist das Sonett XXX, dessen zweite Zeile zum Titel der englischen Übersetzung von Prousts Recherche geworden ist:

When to the sessions of sweet silent thought
I summon up remembrance of things past,
I sigh the lack of many a thing I sought,
And with old woes new wail my dear time’s waste:
Then can I drown an eye, unused to flow,
For precious friends hid in death’s dateless night,
And weep afresh love’s long since cancell’d woe,
And moan the expense of many a vanish’d sight:
Then can I grieve at grievances foregone,
And heavily from woe to woe tell o’er
The sad account of fore-bemoaned moan,
Which I new pay as if not paid before.
But if the while I think on thee, dear friend,
All losses are restor’d and sorrows end.

Ich habe eine Übersetzung von dem Gedicht, die schon sehr alt ist. Deutsche Übersetzungen gibt es en masse, seit Johann Joachim Eschenburg (der 56 der 154 Sonette übersetzte) haben sich mehr als sechzig Übersetzer an den Sonetten versucht, der Bremer Otto Gildemeister ist auch dabei. Mein Text heute ist von Johann Gottlob Regis. 1836 veröffentlicht, hat er heute immer noch Bestand. Beim Reclam gibt es ihn in Buchform, bei mir gibt es ihn hier:

Wenn ich in schweigender Gedanken Rat
Erinnrung des Vergangnen traulich lade,
Beseufzend was entflohn mir nie mehr naht,
Neu klagend alte Weh’n versunkner Lebenspfade:
Dann netz’ ich wohl versiechte Augenlider
Um teure Freund’ in Todesnacht gehüllt;
Es weinen, längst erstickt, der Liebe Schmerzen wieder,
Der Gram um manch dahingeschwunden Bild.
Dann kann ich leiden um vergangnes Leid,
Die trübe Summe vorbeklagter Klagen
Von Weh zu Weh ziehn mit Betrübsamkeit,
Sie zahlend wie noch niemals abgetragen.
Doch, teurer Freund! gedenk’ ich dein dabei,
Ersetzt ist alles, und ich atme frei.

Und ich habe noch ein kleines Schmankerl zu Schluss. Vor Jahren ist der Regisseur von schrottigen Katastrophenfilmen Roland Emmerich, der dem Trash Kino eine neue Dimension gegeben hat, auf die Oxfordian theory gestossen und hat gleich einen Film daraus gemacht: Anonymous (hier zu sehen). Über diesen Film schrieb der amerikanische Filmkritiker David Walsh (der Emmerichs The Patriot verrissen hatte): Emmerichs ‚dunkler‘ Film ist vor allem ein äußerst perfides Werk. […] Am dümmsten und anstößigsten ist die Darstellung von Shakespeare. Wenn man behaupten will, dass der Autor der berühmten 37 Stücke der Earl of Oxford oder jemand anderes sei, muss man deshalb wirklich den anerkannten Autor als halbgebildeten Angeber, Säufer und… Mörder hinstellen? Wo 'Anonymus' nicht unangenehm und laut ist, ist er langweilig und voller Klischees.