Sonntag, 8. April 2018

verschwindende Leser


In Saloniki weiß ich einen
der mich liest
Und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.

Als Günter Eich das kleine ironische Gedicht Zuversicht 1966 veröffentlicht, ist er schon beinahe vierzig Jahre im Geschäft. 1929 war sein erster Gedichtband erschienen. 1950 hatte er den Preis der Gruppe 47 erhalten, 1959 den Georg-Büchner-Preis. Und doch haben Dichter immer Zweifel: wer liest mich? 1989 hat Hans Magnus Enzensberger die Leser von Gedichten gezählt und die Enzenbergersche Konstante in die Welt gesetzt: die Zahl von Lesern, die einen neuen, einigermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen, lässt sich empirisch ziemlich genau bestimmen. Sie liegt bei ±1354. Ich weiß nicht, ob das wirklich ernstzunehmen war.

Der Soziologe ↝Lars Clausen hat 1974 eine Umfrage veranstaltet, die Was liest der Kieler Bürger und warum? hieß. Der Kieler Bürger las alles mögliche, die ADAC Motorwelt, Magazine über den Gartenbau, aber kaum Gedichte. Vielleicht stimmt die Enzenbergersche Konstante doch. Als ich 2010 in diesem Blog den Poetry Month einführte, kannte ich meine Leserzahlen noch nicht, weil ich die Statistikseite noch nicht gefunden hatte. Google offeriert dem Blogger diese Statistikseite, damit er sehen kann, wer ihn wo auf der Welt wann liest. Wunderbares Spielzeug. 2011 blieben die Leser im April weg, in den Folgejahren gewöhnten sich meine Leser an den Lyrikmonat.

Wenn die Zahlen stimmen. Ich habe mich schon in dem Post Statistiken darüber echauffiert, dass Googles Zahlen für die Blogstatistik nicht ganz stimmen können. Plötzlich hatte ich ganz viele englische Leser, eine Neuheit für diesen Blog. Und dann waren die Franzosen wieder in großer Zahl da.

Sie sind alle wieder weg. Von einem Tag auf den anderen. Da hat offensichtlich bei Google jemand an der Schraube für die Algorithmen gedreht. Die ersten drei Monate des Jahres hatte ich jeden Tag zwischen 2.000 und 3.000 Leser, jetzt komme ich auf 1.000. Wenn's hoch kommt. Pfuscht mir Cambridge Analytica ins System? Ich nehme das Ganze nicht mehr ernst. Wenn ich die unscheinbaren Wörter meine Leser bei Google eingebe, lande ich erstaunlicherweise auf Platz acht der Ergebnisse. Gebe ich sie bei der interessanten Suchmaschine DuckDuckGo ein, komme ich sogar auf Platz drei. Warum? Bin ich so berühmt, dass zwei Wörter mich an die Spitze der Suchergebnisse befördern? Das Ergebnis der Suche heißt übrigens Mein Blog, meine Leser, eine Seite, die weit mehr als 20.000 Mal angeklickt wurde.

Sind es diese Zahlen, die einen weit nach oben bringen? Silvae (lat. f. pl.): ‚Wälder‘, wird von lateinischen Dichtern und in ihrer Nachfolge als Titel für Gedichtsammlungen bzw. als Bezeichnung einer Publikationsform von Gelegenheitsliteratur verwendet, steht in dem Wikipedia Artikel zu Silvae. Daher kommt der Titel meines Blogs, Publius Papinius Statius hat den Titel Silvae lange vor mir verwendet. Aber der römische Dichter kommt als Suchergebnis nicht auf Platz 1. Auf Platz 1 bin ich. Ist schon komisch, aber da spielen die Millionen Klicks, die mein Blog erhalten hat, vielleicht eine Rolle. Und natürlich die Algorithmen. Ja, wir wollen Algorithmen transparenter machen. Es muss klarer erkennbar sein, nach welchen Programmcodes Unternehmen wirklich vorgehen, hat Katarina Barley gerade im Facebook Skandal gesagt. Ein frommer Wunsch. Das Internet besteht doch nur aus Lug und Trug. Mundus vult decipi, ergo decipiatur, wie der Lateiner sagt. Google denkt ja gar nicht daran, seine geheimgehaltenen Algorithmus bekanntzumachen.

Die Bundesregierung hat übrigens im letzten Jahr 4,98 Millionen Euro für Anzeigen bei Facebook, Instagram und Twitter ausgegeben. Weshalb tut sie das? Warum schickt sie das Geld nicht gleich zu
Cambridge Analytica, die auf ihrer Homepage den Satz stehen haben: Cambridge Analytica uses data to change audience behavior?

Ich habe für meine zwei Leser heute neben dem Gedicht Zuversicht von Günter Eich noch ein Gedicht, es heißt Der Leser und findet sich zuerst im Jahre 1909 in einem Gedichtband von Felix Braun. Es ist ein Gedicht aus einer Zeit, als es noch keine Computer gab und man Texte noch in Büchern las:

Sag: ist das nicht ein wunderliches Leid:
um fremde Menschen trauern, die nicht leben,
und über Dinge, die sich nie begeben,
voll Sehnsucht träumen in der Einsamkeit?

Geheimnis, dessen Sinn ich nie verstand:
sich über Worte atemlos zu neigen
und zu vernehmen in gespanntem Schweigen,
was einer dachte, träumte und empfand.

Wenn dann die letzte Zeile still verrinnt,
sich weit zurück im weichen Sessel lehnen,
die Arme breiten, lächeln unter Tränen
und wieder müßig blättern wie ein Kind.

Und stundenlang wie tief im Nebel gehn
und Verse summen, die wie Glocken läuten,
die tiefstes Glück und tiefstes Leid bedeuten
und dennoch langsam in den Wind verweh'n.

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