Dienstag, 30. August 2022

vor zehn Jahren


Am 30. August 2012 hatten mich 10.414 Leser angeklickt. Seit dem Januar des Jahres war ich im Netz, man kannte mich noch nicht. Aber immerhin: zehntausend Leser in acht Monaten. Das wusste ich aber alles nicht, weil ich diese Seite mit der Statistik noch nicht entdeckt hatte. Am 30. August 2012 gab es hier ein Bild dieser Frau, die gerade vierzig geworden war; sie sieht heute bestimmt immer noch gut aus. Es gab aber in dem Post noch mehr. Nämlich ein Gedicht von e.e. cummings, das Cameron Diaz in dem Film In Her Shoes bei der Hochzeit ihrer Schwester vorträgt. Es ist ein schönes Gedicht, ich stelle es heute noch einmal hier hin.

i carry your heart with me (i carry it in
my heart) i am never without it (anywhere
i go you go, my dear; and whatever is done
by only me is your doing, my darling)
i fear
no fate (for you are my fate, my sweet) i want
no world (for beautiful you are my world, my true)
and it’s you are whatever a moon has always meant
and whatever a sun will always sing is you

here is the deepest secret nobody knows
(here is the root of the root and the bud of the bud
and the sky of the sky of a tree called life; which grows
higher than soul can hope or mind can hide)
and this is the wonder that's keeping the stars apart

i carry your heart (i carry it in my heart)

Der Post Cameron Diaz hatte vor zehn Jahren 658 Leser. Wenn dieser Post heute ein paar Leser mehr findet, dann habe ich die Zahl von fünfeinhalb Millionen Lesern erreicht.

Sonntag, 28. August 2022

С днем ​​рождения


Ich kaufe CDs, ich kaufe Oberhemden, ich kaufe Bücher. Ich kaufe mehr Bücher als Oberhemden. Dass ich viel lese, können Sie dem Post perlegi entnehmen. Vieles von dem, das ich lese, wandert in diesen Blog. Dies hier jetzt auch, ich habe mir nämlich nach langem Zögern die von der Kritik gefeierte Neuübersetzung von Krieg und Frieden gekauft (ich habe hier eine zwanzigseitige Leseprobe für Sie). Kostete mich bei Medimops vierundzwanzig Euro portofrei. Ich halte zwar nichts von den Firmen Momox und Medimops, das habe ich schon in dem Post Retouren gesagt, aber manchmal hat Medimops eben unschlagbare Preise. Ich lese jetzt Krieg und Frieden zum dritten Mal. Es sind 2.258 Seiten. 

Ich werde nicht alles lesen, nur das, was mir wichtig ist. Was vielleicht auch das ist, was Tolstoi wichtig war. Wie zum Beispiel die Geschichte mit dem Hauptmann Tuschin, der nichts Offizierhaftes an sich hat und eine Art Komplementärfigur zu Mütterchen Russland ist. Der seinen General, den Fürsten Bagration (der im Film genau so aussieht wie auf den Portraits, die es von ihm gibt), auf eine seltsame Weise grüßt: wobei er mit einer verlegenen, ungeschickten Bewegung, ganz und gar nicht in der Weise, wie Militärpersonen zu salutieren pflegen, sondern eher ähnlich wie Geistliche den Segen erteilen, drei Finger an den Mützenschirm legte. Er wird zum stillen Helden der Schlacht bei Schöngrabern: Wohin er feuern solle und mit welcher Art von Geschossen, darüber hatte Tuschin von niemandem Befehl erhalten; sondern er hatte sich mit seinem Feldwebel Sachartschenko, vor dessen Sachkenntnis er großen Respekt hatte, beraten und war zu der Ansicht gelangt, daß es zweckmäßig sei, das Dorf in Brand zu schießen. Der Hauptmann hat Respekt vor der Sachkenntnis des Feldwebels, in der Welt der Fürsten im Stabsoffiziersrang ist von Respekt für die Feldwebel nicht die Rede.

Ich bin spät im Leben zu Tolstois Roman Krieg und Frieden gekommen, aber als ich anfing ihn zu lesen, hatte ich schon ein halbes Dutzend Verfilmungen gesehen, natürlich auch den Film von Sergei Bondartschuk. Den habe ich inzwischen auf einer DVD (der Link führt Sie zum ersten Teil des Films, alle anderen Teile finden Sie an derselben Quelle). Und wenn Sie in einer Minute alles über den Film wissen wollen, dann klicken Sie diese Seite an.

Die Übersetzerin Barbara Conrad, der die Wikipedia keine Seite zugesteht, hat über ihre Übersetzung gesagt: Nun also nach langer Zeit eine neue Übersetzung, ein weiterer Versuch der Annäherung in einer Zeit, in der sich das (deutsche) Stilgefühl entwickelt und verändert hat, Regelverletzungen, sprachliche Manierismen eher akzeptiert werden. Tolstoi wollte auf keinen Fall so schreiben »wie alle«, und »alle, das ist Turgenjew, das ist flüssige, korrekte Rede, Tolstoi aber brauchte das Aufgerauhte, brauchte die Schattierungen, brauchte sogar das Vulgäre, Grobe, brauchte improvisierte, nicht literarisch geschleckte Satzgebilde«, wie Boris Eichenbaum in seiner großen Tolstoi-Monographie schreibt. Entsprechend verändert ist nun auch die Blickrichtung der neuen Übersetzung. Denn der Stil, eher: die Sprachen Tolstois sind keine Zufallsprodukte, wie sich schon an dem über den gesamten Text gespannten feinen Netz von Entsprechungen erkennen ließe, sie folgen vielmehr sorgfältigem Kalkül – wie es Tolstois Manuskripte deutlich zeigen. Gorki, dessen Erinnerungen an Tolstoi von seinem großen Verständnis für den Autor zeugen, hat das Bewusste, das Raffinierte dieser Sprache bei einem Gespräch so charakterisiert: »Sie glauben, es wäre ihm leichtgefallen, dieses Knorrige? Er konnte sehr gut schreiben. Er hat es bis zu neunmal durchgestrichen – und beim zehnten Mal endlich war es dann knorrig.«

Tolstoi hat heute (nach dem Julianischen Kalender) Geburtstag. In der Ukraine wird man das nicht feiern. Da gibt es jetzt keine Tolstoi-Straßen mehr, die U-Bahn Station Ploshcha Lva Tolstoho in Kiew wird einen anderen Namen bekommen. Und der stellvertretende ukrainische Bildungsminister Andrij Witrenko hat vor Monaten erklärt, dass alle Werke, die die russische Armee verherrlichen, wie etwa Tolstois Roman Krieg und Frieden, aus dem Lehrplan für ausländische Literatur gestrichen werden. Nun hat die Beschreibung der Verteidigung der russischen Heimat gegen Napoleon bei Tolstoi sehr wenig mit den Greueltaten von Putins Armee in einem anderen Land zu tun. David Walsh findet auf der Seite des World Socialist Web diese Haltung der ukrainischen Regierung ein wenig seltsam: Das Vorgehen der Ukraine ist sowohl böswillig wie auch absurd. Die Direktorin des Ukrainischen Buch-Instituts Oleksandra Koval hat erklärt, dass nach ihrer Schätzung mehr als 100 Millionen Exemplare sogenannter Propaganda Bücher aus den öffentlichen Bibliotheken der Ukraine entfernt werden müssen. Natürlich auch die Klassiker der russischen Literatur. Was macht man mit den Büchern? Verbrennen? Wir kennen das, wir hatten so etwas schon einmalDas war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen, heißt es bei Heinrich Heine.

In dem Post Roman Kutusow habe ich die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko zitiert, die gesagt hat, dass Tolstoi Schuld am Ukraine Krieg habe. Mathias Greffrath hat dieser Dummheit in der NZZ energisch widersprochen. Glücklicherweise. Ich schütte mir heute ein kleines Gläschen russischen Wodkas ein. Den habe ich einmal von einem Freund geschenkt bekommen, der in seinem Arbeitsleben Professor für russische Literatur war. Ich muss ihn mal fragen, wie er Rolle der russischen Literatur heute sieht. Vielleicht so wie der Autor von Oblomow, den Thomas Mann in Meerfahrt mit Don Quijote zitiert: Iwan Gontscharow wurde während eines Sturmes auf hoher See vom Kapitän aus seiner Kajüte geholt: er sei ein Dichter, er müsse das sehen, es sei großartig. Der Verfasser des 'Oblomow' kam an Deck, sah sich um und sagte: 'Ja, Unfug, Unfug!'

25.000 Ukrainer haben übrigens eine Petition an Volodymyr Zelensky unterschrieben, wonach die Statue der Kaiserin Katharina in Odessa durch ein Monument für einen amerikanischen schwulen Pornostar namens Billy Herrington ersetzt werden soll. Ja, Unfug, Unfug!



Samstag, 27. August 2022

Reigen


Wenn Sie die Posts Arthur Schnitzler, die richtigen Männer und Radetzkymarsch gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich Arthur Schnitzler mag. Und deshalb muss ich heute mal eben kurz erwähnen, dass am 27. August der Film Der Reigen von Max Ophüls nach dem Theaterstück von Arthur Schnitzler bei der Biennale in Venedig seine internationale Uraufführung hatte. Schnitzler hatte die erste Fassung des Stücks 1897 fertiggestellt. Die erste Aufführung fand 1912 in Budapest statt, in ungarischer Sprache. Die erste vollständige Aufführung mit der Zustimmung des Autors gab es Weihnachten 1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin. Es wurde einer der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts.

Der Kritiker Alfred Kerr schrieb: Darf man Stücke verbieten? – Nicht mal, wenn sie schlecht geschrieben sind und schlecht gespielt werden. Hier aber ist ein reizendes Werk, – und es wird annehmbar gespielt. Der Erfolg war gut; die Hörerschaft wurde nicht schlechter davon. Und die Welt ist, zum Donnerwetter, kein Kindergarten. […] Einen Augenblick Rast und Besinnung! Es wird auf die Dauer zu fad, von allen wichtigsten Begleitumständen der menschlichen Fortpflanzung sich tot zu stellen; sich dumm zu stellen. Eine langdauernde Hypnose. Die Einteilung ‚Altertum‘, ‚Mittelalter‘, ‚Neuzeit‘ ist im Grunde verfrüht. Reigen heißt hier Liebesreigen. Und Liebe heißt hier nicht platonische, sondern… Also: angewandte Liebe. Sie wird angewandt ohne Gröbliches, Lüsternes, Schmieriges zwischen zehn Menschenpaaren. Und zwischen allen Gesellschaftsklassen. Stets das Hinübergreifen von einer Schicht zur andren. Voltaire hat im „Candide“ Ähnliches vorgemacht. Die Reihenfolge bei ihm ist: Stubenmädel; Franziskaner; alte Gräfin; Rittmeister; Marquise; Page; Jesuit; Matrose des Columbus… Auch hier ist also von der so oft erstrebten Überbrückung der Klassenunterschiede wenigstens einiges durchgeführt. Die seelische Tragikomik des körperlichen Begebnisses hat ja auch der himmlische Hogarth in zwei Bildern unsterblich festgelegt: „Vorher“ und „Nachher“ benannt. Die Welt steht immer noch. Nicht Schmutzereien: sondern Lebensaspekte. Auch das Vergängliche des Taumels; das Komisch-Trübe des Schwinden des Trugs. Alles umhaucht von leisem, witzigem Reiz.

Schnitzler schrieb 1922: Unter den zahlreichen Affären meines Lebens ist es wohl diese letzte, in der Verlogenheit, Unverstand und Feigheit sich selbst übertroffen haben. Er bat den S. Fischer Verlag, keine weiteren Aufführungen des Stückes mehr zu genehmigen. Sein Sohn verlängerte nach seinem Tod dieses Aufführungsverbot. Erst ab dem 1. Januar 1982 war das Stück für das Theater freigegeben. Aber dann jagte eine Aufführung die andere, der Reigen wurde Schnitzlers erfolgreichstes Theaterstück. Es hat eine Vielzahl von Verfilmungen gegeben, aber der Film von Ophüls bleibt ein Klassiker. Ist heute hier zu sehen. Ist wahrscheinlich auch besser als das heutige Fernsehprogramm.

Donnerstag, 25. August 2022

Wetterbericht



Dieses schöne Buch habe ich bei booklooker für fünfundzwanzig Cent gekauft. Hardcover, neuwertig. Hinten im Buch war ein kleiner Klebezettel, auf dem Gratuliere zu diesem Buch stand. Den hatte die Verkäuferin da hineingeklebt. Der Lesetip zu Peter Webers Der Wettermacher kam von einem Leser. Irgendwann wäre ich vielleicht selbst darauf gekommen, denn in diesem Blog ist viel vom Wetter die Rede. Das fing 2010 mit dem Post Wetter an und hörte erstmal in diesem Jahr mit dem Nachruf auf F.C. Delius auf, der eine Dissertation mit dem Titel Der Held und sein Wetter geschrieben hat. Und dazwischen gab es die Posts Wintersonnenwende, Vulkane, SoFi, Weihnachtsgeschenke, Horace Walpole, Friedrich Halm, Parapluie, Regenschirme, Das Wetter von morgen, Otto Ludwig und Aurora, alle mit viel Wetter.

Als das Buch des Schweizer Autors 1993 erschien, kostete es 36 Euro. Zwei Wochen nach dem Erscheinen war es in der dritten Auflage. Unter dem Titel Wettern: Eine cholerische Klangmeteorologie für zwei Stimmen und behutsam instrumentalisiertes Klima gab es sogar ein Hörspiel. Der Autor wurde über Nacht zu einer Berühmtheit, man sah in ihm einen neuen Max Frisch. 1994 erhielt Weber den Förderpreis des Bremer Literaturpreises, die Laudatorin war Sibylle Cramer. Wahrscheinlich stand in ihrer Rede dasselbe, das 1993 in ihrer Rezension in der taz zu lesen war. Cramer war ein klein wenig kritisch und stimmte nicht in die allgemeine Lobhudelei ein. Sie können hier den informativen Bericht von Hajo Steinert über die Entstehung des Romans lesen. Was, zum Beispiel, wäre aus einem Buch wie 'Der Wettermacher', dem ersten Roman des Schweizer Autors Peter Weber, geworden, hätte es nicht diese Flut positiver Besprechungen gehabt? fragte Wolfgang Hilbig. Von dem Ruhm der Jahre 1993 und 1994 ist wenig übrig geblieben, Webers dritter Roman Bahnhofsprosa kassierte schon satte Verrisse. Und seine Büchr werden antiquarisch zu Ramschpreisen gehandelt.

Im Klappentext des Buches findet man diese Sätze: Dies ist die unsägliche Geschichte des August Abraham Abderhalden, dem es grundsätzlich und endgültig die Sprache verschlägt, der zugeknöpft wird, wiederholt auf den Mund fällt, sich die Zunge abbeißt, den Kiefer bricht, an seinem zwanzigsten Geburtstag aber Wettermacher wird. Dies ist die Geschichte des ersten Aprils neunzehnhundertneunzig, an dem das Wetter macht, was es will, mit der Sonne der Knopf aufgeht, der Wettermacher die Zeit zum Stillstehen bringt, der Welt den Kopf verdreht, zwischen Haus und Bahnhof seine Liebe sucht und findet. Dies ist die Geschichte der wundersamen Landschaft Toggenburg, die am Himmel festgemacht ist, durch die der Erzählfluß fließt, in die hinein die Brüder Freitag Melchior und August Abraham gepflanzt werden, aus der heraus die Familie Abderhalden kommt. Nicht nur am ersten April macht das Wetter, was es will, unser Autor macht mit der Sprache, was er will. Beim 'Wettermacher' ging es um Stilvielfalt, rhythmische Variationen, Wechselmut, Aprilwetter eben, hat er Autor in einem Intrview mit der NZZ gesagt. Ursprünglich lautete der Titel des Romans April

Es ist ein gigantischer erzählerischer Aprilscherz, den der Autor aus der wundersamen Landschaft Toggenburg, die am Himmel festgemacht ist, durch die der Erzählfluß fließt uns da serviert. Aber er ist nicht der erste Schriftsteller aus dem Toggenburg, denn da war einer, der gesagt hat: Die Welt ist zu klein für mich. Deshalb werde ich mir in meinem Kopf eine neue erschaffen. Das ist ein Satz, der auch das Motto des Romans Der Regenmacher sein könnte. Ulrich Bräker, der arme Mann aus dem Toggenburg, hat natürlich mit Toggenburg schon einen Post in diesem Blog. Auch den Titel Der Wettermacher hat es in der Literatur schon gegeben, so heißt eine Geschichte von Johann Peter Hebel aus dem Jahre 1819, eine der sieben Geschichten mit dem Zirkelschmied. Mein Freund Peter in Hamburg sagt immer, dass viel zu wenig Johann Peter Hebel in meinem Blog ist. Aber in dem langen kulturhistorischen Post Holländer kommt Hebel vor. Und in dem Post Heidegger habe  ich auf Robert Minders wichtigen Essay Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch hingewiesen. Und vielleicht schreibe ich irgendwann einmal über das Bergwerk von Falun, diese Geschichte, die Ernst Bloch die schönste Geschichte der Welt genannt hat.

Samstag, 20. August 2022

Die Liebe vom Zigeuner stammt


Die Oper Carmen gab es gestern bei mir vor der Tür. Der Blücherplatz war schon um sieben Uhr voll. Angenehme Temperaturen, nicht das Gewitter von vor vier Tagen. Es ist nicht das erste Mal, dass auf dem Platz eine Oper gespielt wird, Daniel Karasek ist da sehr rührig. Bevor die Oper um acht begann (sie wurde von der Aufführung auf dem Rathausmarkt hierher gestreamt), gab es für das Publkum eine kleine Einführung. Diese Hilfestellung, die wir geben, ist sehr sinnvoll, sagte Karasek. Und er sagt über die Oper, die von Liebe, Träumen, Eifersucht und Leidenschaft handelt: Sie muss tragisch und ein wenig schmutzig am Ende sein, sie muss kratzen. Die Oper ist ein Bereich, der uns konfrontiert mit den Sehnsüchten, die wir sonst nicht leben. Da ist natürlich die Musik der Träger schlechthin für diese unerfüllten Dinge, die wir in uns tragen. Nach der Vorstellung konnten die Zuschauer, wenn sie rechtzeitig zuhause waren, im ZDF noch die Carmen aus Verona sehen.

Bizets Oper ist nicht meine Lieblingsoper, ich mag sie eigentlich gar nicht. Ich habe zwar alles über die Oper gelesen, und ich lasse meine schöne Buchhändlerin unter der Dusche L'amour est un oiseau rebelle Que nul ne peut apprivoiser singen, aber damit hört es auch schon auf. Ich lasse meine schöne Buchhändlerin das natürlich auf französisch singen, nicht dieses deutsche Die Liebe vom Zigeuner stammt. Das geht nun gar nicht. Ich habe die Oper 1964 im Opernhaus Hannover gesehen. Das Erlebnis steht in dem Post NikolaustagIch erwähne die Oper nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die Sängerin kannte.

Ich habe hier eine sehr gute Zusammenfassung und noch eine Visualisierung der Handlung für Sie. Die Habanera darf nicht fehlen, es gibt sie hier einmal von der Callas und einmal von Anna Caterina Antonacci, die etwas weniger bekleidet ist als die Callas. Das Stück ist ja zu Tode genudelt worden. André Rieu hat es nicht ausgelassen, der Jazzmusiker Rolf Kühn, der zwanzig Jahre mit Judy Winter verheiratet war, hat es auch gespielt. Wenn Ihnen das alles zuviel ist, habe ich hier noch eine Version ohne Ton. Den Ernst Lubitsch Film Gipsy Blood von 1918 habe ich auch für Sie. Und den Softporno Die nackte Carmen aus dem Jahre 1984 kann ich auch noch anbieten. Das ist nun aber genug.

Freitag, 19. August 2022

die Postbotin


Gott, war das junge Mädchen hübsch. Sie mochte vielleicht zwanzig sein, hatte rote Haare und Sommersprossen. Und trug eine nagelneue Postuniform. Vielleicht war dies ihr erster Tag. Sie war schon mit den Nerven fertig, als sie klingelte, die Hälfte der Post fiel ihr auf den Boden. Wir hoben sie gemeinsam auf. Dann schleppte sie ihre gelbe Plastikkiste voller Post die Treppe rauf. Es war Sonnabend, halb vier. Das war neu, dass die Post um halb vier kam. Dass überhaupt an einem Sonnabend Post kam. Montags kommt ja nie mehr Post. Man gewöhnt sich dran. Das Mädchen brauchte lange, bis sie mit ihrer Plastikkiste durch die vier Stockwerke gekommen war. Ich wartete. Als sie die Treppe wieder herunterkam, reichte ich ihr eine Packung von Walkers Ginger Shortbread. Nervennahrung für unterwegs, sagte ich. Jetzt war sie wirklich am Heulen. Sie bedankte sich. 

Ich gewöhnte mich an die neuen Zeiten, meistens sah ich die Postboten nicht, die schmissen die Post, die nicht durch den Briefschlitz der Tür passte, einfach vor die Tür. Aber nicht die Hübsche, die klingelte immer. Und lächelte mich an. Gestern klingelte um halb zehn ein Postbote. Den kannte ich, er war früher immer unser Postbote. Jetzt ist er Springer, hat er mir erzählt. Wir reden immer miteinander, er kriegt auch manchmal einen Zehner. Jetzt hatte er den ganzen Arm voller Maxibriefe. Sie haben diese Woche keine Post bekommen, sagte er. Das hatte ich gemerkt. Meine Kollegin hat noch Schwierigkeiten, erklärte er mir. Vielleicht ist die Post nicht das Richtige für sie. Wenn ich François Truffaut wäre, dann würde ich ihr eine Hauptrolle in einem Film anbieten, aber leider bin ich nicht François Truffaut, der wusste, dass die ganze Filmkunst daraus bestand de faire de jolies choses à de jolies femmes. Die Kunst des Lebens auch.

Dienstag, 16. August 2022

Beate


Sie hieß Beate, aber so wollte sie nicht heißen. Mit dem Namen Beate macht man keine Karriere als Schauspielerin, dachte sie sich. Sie verknallte sich in einen Regisseur. Der hatte sie im Bett, da war sie erst sechzehn. War das Sex mit Minderjährigen? Doch was bei Polanski den Staatsanwalt herbeiruft, kümmert hier niemanden. Der Regisseur gab ihr nie gute Rollen und sagte ihr, dass sie eine schlechte Schauspielerin sei. Aber er war ihr Svengali. Sie blieb sieben Jahre bei ihm. Ich verstehe es nicht. Ich habe sie mal auf einer Party getroffen. Das war dieselbe Party, bei der mir eine angeschickerte Preußenprinzessin ins Ohr flüsterte: Ihr könnt uns ja wiederhaben, ihr braucht das nur zu wollen

Ich habe letztens das Buch Das wilde Ufer: Ein Theaterbuch von Peter Zadek gekauft. Kostete bei ebay einen Euro, so preiswert ist Zadek geworden. Ich kannte das Buch nicht, Zadeks Autobiographie My Way besitze ich. Allerdings steht die bei mir in der zweiten Reihe, weil ich Zadek nicht mag. Die Autobiographie kann man bei booklooker für 1,99 € bekommen, war auch mal teurer. In seinem Theaterbuch aus dem Jahre 1994 sagt Zadek viel über seine Zeit in Bremen. Erwähnt er seine siebenjährige Liebesgeschichte mit Beate? Mit keinem Wort.

In seiner Autobiographie hat er einiges über Beate zu sagen, die sich jetzt Judy Winter nannte und schnell im Filmgeschäft war: 1966 trennte ich mich von Judy Winter. Es war eine harte Trennung. Es war aber auch lange genug gewesen, muss ich sagen, für beide. Es war höchste Zeit, dass sie einen jüngeren Mann fand, und es war höchste Zeit, dass ich vielleicht auch einen anderen Partner haben sollte. Der Urlaub war gewissermaßen vorüber. Die sieben Jahre mit Judy Winter waren wie ein ungeheuer genüsslicher Urlaub gewesen, eine wunderbare Zeit meines Lebens und ich hoffe, auch ihres Lebens.

Natürlich ist es immer kompliziert, mit einer Schauspielerin befreundet zu sein. Ich habe das ein paarmal gemacht. Bei Judy kam noch dazu, dass sie zwar ein paarmal ganz gut bei mir gespielt hat, ihre Art zu schauspielern aber eigentlich mit meiner Art Regie relativ wenig zu tun hatte. Sie ist auf ihre Weise ein Fernsehstar geworden, auch auf eine sehr gute Weise. Zum ersten Mal auf der Leinwand war Judy 1970 in dem seltsamen Film Die Weibchen (The Females), einem Film über feministische Vampire. Uschi Glas spielte da auch mit. Kam ein Jahr vor dem Bestseller Liebe ist nur ein Wort ins Kino. Das Bild hier ist nicht aus dem feministischen Vampirfilm, das ist aus Wolfgang Petersens Tatort Reifezeugnis (1977).

In dem Jahr war sie auch ein bisschen nackt in Das gelbe Haus am Pinnasberg zu sehen. Das Lexikon des internationalen Films urteilte über den Film: Eine plumpe Komödie, die sich durch ihren satirischen Tonfall zwar vom üblichen Sexfilm-Ramsch abgrenzen will, aber letztlich doch in den Niederungen des Genres endet. Das beste am Film war wahrscheinlich die Musik von Rolf Kühn (der hier schon einen Post hat). Offenbar muß man durch diese Niederungen, wenn man nach oben will.

Das hier ist Beate in dem Theaterstück Die Unberatenen, das in Bremen ein Publikumsrenner war. Du könntest mal mit Anne dahingehen, sagte unser Hausarzt, der ein Freund der Familie war. Ich mochte Anne, sie war sehr nett, aber ich guckte mir das Stück nicht an. Wer guckt sich als Schüler schon ein Theaterstück über Schüler an? Zadek hat aus dem Theaterstück von Thomas Valentin und Robert Muller (der ihm auch die Drehbücher für die Van der Valk Filme schrieb) dann noch den Film Ich bin ein Elefant, Madame gemacht. Aber in  dem Film war keine Hauptrolle für Beate vorgesehen. Wahrscheinlich war sie Zadek mit fünfundzwazig zu alt für eine Schülerin. Auf diesem Photo ist sie neunzehn, so habe ich sie in Erinnerung. Von dieser Party, die man nicht vergisst. Wegen der blonden Beate und der Preußenprinzessin. 

Das Drehbuch zu Ich bin ein Elefant, Madame schrieben Robert Muller und Wolfgang Menge. Menge war nicht gut genug für Zadek: Er schrieb zwar einige schöne Teile des Buchs, aber am Ende verfasste ich mit Robert Muller das Drehbuch doch selbst. Bei der Wahrheitsliebe des egomanischen Autors Zadek wird das heißen, dass Zadek ein Dutzend Wörter von Menges Text geändert hat. Den Film habe ich natürlich gesehen, ich war sogar bei der Premiere. Beate nicht. Aber mein Schulkamerad Hermann Rademann war da, der eine kleine Rolle im Film und eine große Rolle in der Bremer Revolution hatte. YouTube hat den Film vor dem Vergessen bewahrt. Das Beste am Film waren Margot Trooger und Günther Lüders. Und der Soundtrack von Velvet Underground mit Lou Reed und Nico.

Musik hat Beate, die jetzt ja Judy Winter war, auch gemacht. Also neben Theater, Boulevard, Musical, Hörspiel und Film, manche Schauspielerinnen können ja nicht genug kriegen. 1980 hatte sie mit Nicolas eine Single auf dem Markt. Das ungarische Chanson hatte ihr ihr Ehemann Rolf Kühn eingerichtet. Sie hat hübsche Klamotten an und bewegt sich gut. Aber zur gleichen Zeit sang Sylvie Vartan Nicolas, die war bei RCA, das brachte Umsätze. Judy Winters Version ist noch auf der CD Kultur SPIEGEL My Generation: CD 9 Kitsch & Kult erhältlich.

Um sich in Dietrich-Stimmung zu bringen, sprüht Judy Winter etwas 'Obsession' von Calvin Klein auf den Schwanenmantel, schreibt die B.Z zu diesem Photo. Da hatte Judy Winter das Kleidungsstück gerade wieder angezogen. Calvin Kleins Parfum kommt hier in dem Blog schon vor, aber auch eine ganz andere Obsession, nämlich der Filmklassiker Ossessione. Doch Filmklassiker gehören nicht zu Judy Winters Leben, also so richtig große Filme. Simmel Verfilmungen wie Und Jimmy ging zum Regenbogen und Liebe ist nur ein Wort sind kein großes Kino. Sie war nach der Trennung von Zadek in vielen Filmen zu sehen, die aber nicht für die Leinwand, sondern für das Fernsehen gedreht wurden. Hatte viele Auftritte in Serien wie Sonderdezernat K1, Derrick oder Ein Fall für zwei. Und dem Tatort Reifezeugnis, der Furore machte, weil Nastassja Kinski darin ein wenig nackt war. Mit Petersen hatte sie zuvor schon Van der Valk und die Reichen gedreht.

Der Schwanenpelz von Marlene Dietrich ist ihre Berufskleidung geworden, von 1998 bis 2011 stand sie damit über sechshundert Mal auf der Bühne. Es war die Rolle ihres Lebens. Aber nach dreizehn Jahren war Schluss: Ich wollte nicht als Marlene sterben, ich wollte andere Erfolge. Aber es ist schwer, diesen Erfolg zu toppen. Doch nach drei Jahren Pause war die Siebzigjährige wieder ganz in weiß: Ach, es gibt einfach nicht so viele tolle Rollen. Und das hier ist schon ein sattes Pfund. Und wenn Sie wissen wollen, was sie heute macht, dann gucken Sie sich hier Über Nacht bei Judy Winter an, ist noch bis zum Januar 2023 in der Mediathek.

Ich habe, um das hier zu schreiben, meine einzige Judy Winter CD aufgelegt. Sie heißt Judy Winter singt Bob Lenox, Sie können alle Songs bei YouTube hören. Die CD war bei mir in der Exotenecke. Da, wo die LP von Klaus Löwitsch mit den Liebesliedern ist, und die Bellmann CD von Harald Juhnke. Judy Winter ist nett zu hören, man kann es auch zwei- und dreimal hören, aber so ganz richtig gut ist sie als Sängerin nicht. Ihr Englisch ist auch nicht so doll. Juliette Gréco kann ich den ganzen Tag hören, Judy Winter nicht.

Als Peter Zadek starb, musste Judy Winter in der Boulevardzeitung B.Z. unbedingt einen Nachruf veröffentlichen. Wir sind im Show Business, da muss man so etwas wohl schreiben: 

Gott, Peter! Was soll ich sagen? Als ich von deinem Tod hörte, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ganz wund irgendwie. Meine erste Reaktion: Ich hoffe, du hast nicht gelitten. Ich hoffe, du bist in Frieden gegangen. Ich hoffe, du warst nicht allein.
     Ich bin in Gedanken bei dir, bei deinen Kindern, deinen Lieben. Und ich denke an unsere Zeit zurück. An meine Aufgeregtheit, als ich – gerade mal 16 Jahre jung – in Ulm auf der Bühne stand. Vorsprechen für Peter Zadek. 'Kaufmann von Venedig'. Trotz meiner Größe kriegte ich die Rolle der Jessica. Und nicht nur das. Ich kriegte den Zadek gleich mit.
     Die Liebe kam blitzartig. Logisch, ich war groß, blond und sexy. Und du? 17 Jahre älter als ich, eigentlich ein alter Mann. Aber faszinierend. Ein Guru. Ein Mann, der die Menschen um sich scharte. Eine Persönlichkeit, der man verfiel. Du hast mich geformt. Und ich habe gelernt. Auch das, was ich besser sein lassen sollte. Denn für dich war ich immer eine schlechte Schauspielerin. Das sagtest du, da nahmst du kein Blatt vor den Mund. Zum Glück hast du mich ganz selten besetzt.
      Dennoch bereue ich nicht einen Tag. Sieben Jahre dauerte unsere Beziehung, von 1960-67, wir zogen zusammen von Ulm nach Bremen. Ich wurde die 'Second Mom' deiner Kinder Michele und Simon, die ich sehr liebte. Und ich habe deinen Vater Paul ganz unbeschreiblich geliebt. Was für ein wunderbarer Mann! Von Opa Paul habe ich die Weichheit gelernt, die mein eigener Vater nie zeigte – er war ein strenger Offizier.
     Es waren sieben aufregende Jahre. Ich habe spannende Menschen durch dich kennengelernt. Ich habe gelesen wie verrückt und ansonsten meine Fresse gehalten, zugehört und einfach gelernt. Mit dir stirbt einer der sensibelsten, fantasievollsten und offensten Theaterkünstler der Nachkriegszeit. Bei deinen Inszenierungen bekomme ich regelmäßig schweißnasse Hände – so aufregend sind die.
     In den letzten Jahren haben wir uns nur sporadisch gesehen. Am Rande von Premieren. Wir lächelten uns zu.
     Take care, Peter, wo immer du auch bist.
Merde und Love, Judy

Ich habe Zadek niemals für den sensibelsten, fantasievollsten und offensten Theaterkünstler der Nachkriegszeit gehalten. Bis auf Die Unberatenen habe ich all seine Bremer Inszenierungen gesehen. Meine Eltern hatten ein Abonnement, aber sie mochten Zadek nicht, also saß ich das Abo ab. Dass die Hamlet Aufführung für mich lebensgefährlich wurde, steht schon in dem Post Richard Lester. Die Inszenierung von Die Räuber behält man natürlich wegen des Szenenbilds von Wilfried Minks im Gedächtnis. Die Aufführung von Torquaro Tasso kann ich mir immer wieder auf der DVD anschauen, sie hat hier mit giftgrün einen Post. Zum ersten Mal wurde Zadek in dem Post Gisela von Stoltzenberg erwähnt, weil er der Baronin die Schafe abgeschwatzt und sie in Hamburg auf die Bühne mit dem grünen Slime gestellt hat. Die Schafe haben das glücklicherweise überlebt.

Auf dieser Fanseite hat eine Verehrerin eine Filmographie von Judy Winter zusammengetragen, und auf dieser Seite habe ich 169 Bilder der Actrice. Und die CD Judy Winter singt Bob Lenox lege ich jetzt noch mal auf, dann kommt sie wieder in die Exotenecke.

Sonntag, 14. August 2022

Googles Zahlenwerk


Ich traue ihnen nicht, diesen Zahlen von Google, aber was soll ich mich ärgern. Es ist Sommer, es ist schönes Wetter, und ich trage dieses rattenscharfe Hemd. Made in Italy, aus vielen unterschiedlichen blauen Streifen zusammengesetzt. Nachdem ich mich in dem Post der Juli ein wenig über den Leserschwund beklagt hatte, habe ich viele tröstende E-Mails erhalten. Ich kann alle Leser beruhigen: die Zahlen sind seit einigen Tagen wieder da, wo sie immer waren. Am 29. Juli waren es 503 Leser, am 30. Juli 500, am 31. Juli 639. Der August begann mit 571 Lesern. Und nun werfen wir mal eben einen Blick auf die letzten Tage: 10. August: 1.455, 11. August: 1.303, 12. August: 1.329

Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast, soll Churchill gesagt haben. Ich gucke da jetzt nicht mehr hin. Das einzige, was mich bei den Zahlenspielereien ärgert, ist die Tatsache, dass ich längst die magische Zahl von 5,5 Millionen Lesern erreicht hätte. Ich hatte den Sekt schon kaltgestellt. Dass der Zeichner Sempé vor drei Tagen im Alter von neunzig Jahren gestorben ist, schrieb mir ein Freund. Aber ich hatte es schon gemerkt, weil die Leser plötzlich nur noch die Posts Jean-Jacques Sempé und Sempé anklickten. Ich beginne heute den schönen Augusttag mit diesem schrillen Hemd, das mich fünf Euro bei ebay gekostet hat. Und ich habe ein Gedicht für Sie, es ist von Bert Brecht und heißt Vergnügungen. Ein Freund schickte es mir in der letzten Woche, es sollte wohl ein Trost für den Leserschwund sein.

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.

Donnerstag, 11. August 2022

Uwe Seeler ✝


Es ist schon ein paar Jahre her, da sagte mein Freund Götz: Komm, wir gehen heute Nachmittag zum HSV. Heute? Es war mitten in der Woche. Wo spielen die denn? fragte ich. Waldwiese, sagte Götz. Das ist ein idyllisch gelegener kleiner Sportplatz in Kiel, aber der HSV hätte da früher freiwillig nie gespielt. Es waren auch nur die Alten Herren des HSV, angeblich sollte Uwe Seeler auch kommen. Er kam leider nicht, aber die anderen, die kannte ich beinahe alle noch. Aus der Zeit, als der HSV noch am Rothenbaum spielte. Der Gegner der Hamburger war eine Landesauswahl von Schleswig-Holstein. Alle viel, viel jünger als die Herren, deren gute Zeit schon Jahrzehnte zurücklag. Sie konnten schnell laufen. Heute wird immer schnell gelaufen, aber wohin führt es? Langweiligem Fußball. Die Hamburger liefen nicht so schnell, aber sie hatten immer noch die sichere Ballbeherrschung drauf. Und hatten ein Auge für den Mitspieler. Und fußballerische Intelligenz. Das ist heute selten geworden. Am Ende haben die Hamburger hoch gewonnen, ich weiß nicht mehr, mit wie vielen Toren, aber ich glaube, es hieß 5:2 für den HSV. Mit Uwe wären es noch mehr Tore gewesen.

Als ich Uwe Seeler das erste Mal sah, wusste niemand im Bremer Weserstadion, wie er hieß. Aber alle sagten: Aus dem wird noch einmal was. Das war das Spiel Schüler Hamburg gegen Schüler Bremen, das Vorspiel zu dem Freundschaftsspiel von Werder Bremen gegen die Bolton Wanders. Es ist etwas aus dem kleinen Dicken geworden. Ich habe ihn noch häufig gesehen. Auch bei dem Spiel, das Uwe Seeler als das denkwürdigste seiner Laufbahn bezeichnet hat, war ich zwei Tage nach Weihnachten 1957 unter den Zuschauern im Weserstadion. Die Geschichte steht schon in dem Post Hannover 96

Uwe Seeler war immer in diesem Blog, zum ersten Mal 2010 in dem Post Goalies. Nun ist er tot, aber für viele ist er noch lebendig. Weil man ihn nicht vergessen wird. Nie. Zu seinem fündundachtzigsten Geburtstag im letzten Jahr konnte man in der taz eine Ode an Uwe Seeler lesen, die ich hier gerne noch einmal hinstelle:

Dem Trainer war’s durchaus bewusst:
'Zwei Seeler sind in meiner Brust.
Ich glaub, es wird das Beste sein,
ich bringe Uwe von Beginn
und wechsle Dieter später ein.
Doch, doch, ich glaube, das macht Sinn.'

Fallrückzieher, Scherenschlag –
Uwe übte Tag für Tag.
Am Spieltag dann, zu guter Letzt,
ward das Trainierte umgesetzt.

Und doch kam’s vor:
Es zielte Seeler
vorbei am Tor.
Und wusste gleich: Das war ein Fehler.

Als würd’ sich so ein Titel schicken:
Der Volksmund nannte ihn den 'Dicken'!
Den Nationalelfkapitän!
Und Uwe? Nahm es souverän.

Nie Chelsea, nie Real und nie Torinos Juve,
bei jedem Angebot dasselbe:
Treu blieb dem HSV uns Uwe,
treu blieb er Hafen, Alster, Elbe.

Weltmeister nie und nie Europas Bester,
nur eine Gattin und nur eine Schwester,
doch torgefährlich stets und nicht ein Mal geschieden.
Und Uwe Seeler war’s zufrieden.


Es sind schöne Reden bei der Trauerfeier im Volksparkstadion gehalten worden. Eine hielt Olli Dittrich, der als kleiner Junge ein Autogramm von Uwe erbettelt hatte und seinen Helden später in der Sendung Dittsche auftreten ließ. Uwe Seeler hat immer von sich gesagt, dass er stinknormal sei. Viele Redner haben diese Normalität betont. Es ist eine Normalität, die uns verloren gegangen ist, wenn wir an die pompös protzige Hochzeit von Christian Lindner oder den Dienstwagen von Frau Schlesinger denken. Man kann vom Fußball etwas lernen. Albert Camus hat gesagt: Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball. 


Im Blog SILVAE steht nicht nur etwas über italienische Hemden, Marcel Proust oder John Constables Wolken. Hier steht auch viel über Fußball. Schauen Sie doch einmal in die Posts: Uns UweUwe SeelerHSVFußballmannschaftFußballpoesie, Bert Trautmann, Bert Trautmann ✝Belfast Boy, Wundliegen, Schickssalspiel, Farbsymbolik, Stil1954Neo Rauch, Gauland (kariert), Erwin Kostedde,  EM, Endspiel, Island, Arkadien, Werder, Geisterspiele


Dienstag, 9. August 2022

La Divina Commedia

Am 9. August 1854 ist der sächsische König Friedrich August von Sachsen in Tirol bei einem Kutschenunfall gestorben. Sein Bruder Johann folgte ihm als König nach. Dieser Johann hat noch ein zweites Leben, unter dem Pseudonym Philalethes (Freund der Wahrheit) war der Prinz Übersetzer gewesen. In den Jahren 1827 bis 1849 hat der Prinz an einer Übersetzung von Dantes Divina Commedia gearbeitet. 1821 war er zum ersten Mal in Italien gewesen, der Heimat seiner früh verstorbenen Mutter Caroline von Bourbon-Parma. In Pavia erwatb er ein Exemplar von Dantes Divina Commedia: Es wurden hier für die Studenten auf allen Gassen Bücher in Buden verkauft. In einer solchen Bude kaufte ich im Vorübergehen einen Dante in der Ausgabe von Biagioli. Das war der Anfang meiner Vorliebe für diesen Dichter, denn von da an las ich täglich während des Fahrens einen oder ein paar Gesänge mit Hilfe eines sehr unvollkommenen Handdictionaires und des gute Anleitung gebenden Commentars und brachte bis zum Schluß der Reise das ganze 'Inferno' fertig.

Es werden mehr als zwanzig Jahre vergehen, bis die dreibändige Gesamtausgabe Metrisch übertragen und mit kritischen und historischen Erläuterungen versehen von Philalethes bei der Arnoldischen Buchhandlung in Dresden und Leipzig erscheint. Der Prinz hatte Freunde und Helfer bei seiner Übersetzung, sein Dante Kränzchen, aus dem die Accademia Dantesca hervorging, trifft sich seit 1827. Zu dem Kreis gehören der Übersetzer Wolf Heinrich von Baudissin und der Dichter Ludwig Tieck. Immer dabei ist der Arzt und Maler Carl Gustav Carus, der auch der Leibarzt des Prinzen ist und der wohl die Übersetzung angeregt hatte. 

In dem verflossenen Winterhalbjahr hatte ich auch begonnen, einen Kreis geistreicher und gelehrter Männer um mich zu versammeln. Bei einer Tasse Caffee und einem Glas Negus kamen wir Abends bei mir zusammen. Es wurden in freier Unterredung die mannigfaltigsten Gegenstände besprochen und discutirt und von manchen Fachmännern interessante Mitteilungen entgegen genommen. Die Stunden gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen und sie gewähren mir zugleich den Vorteil, auf dem leichtesten Wege gewissermaßen die Blüte von manchem mir fremden wissenschaftlichen Kreis zu pflücken ... Zuweilen wurden auch Durchreisende Notabilitäten zu diesen Abenden eingeladen, z.B. Alexander von Humboldt, Friedrich von Raumer u.a.m. Um diese Zeit fing ich auch an, die Übersetzung des Dante wieder aufzunehmen. Nachdem die ersten zehn Gesänge des 'Inferno' vollendet waren, teilte ich sie einigen Personen, insbesondere Breuer und Förster mit, verbesserte manches nach ihrer Critik und kam bald auf den Gedanken, dieselben gewissermaßen als Probe, jedoch nur als Manuscript drucken zu lassen. 1828 erscheinen in einem auf eigene Kosten gedruckten Quartbändchen die ersten zehn Gesänge.

Die Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen: Eigene Aufzeichnungen des Königs über die Jahre 1801 bis 1854 sind von Hellmut Kretzschmar 1958 bei Vandenhoeck & Ruprecht neu herausgegeben worden. Der Schriftsteller und ehemalige Politiker Ingo Zimmermann hat das interessante kleine Buch Johann von Sachsen - Philalethes: Die Zeit vor der Thronbesteigung verfasst, das man noch preiswert antiquarisch finden kann. Im Internet gibt es eine schöne kleine Seite von Claudia Roch zu unserem adeligen Übersetzer.

Dantes Divina Commedia ist schon häufig in diesem Blog erwähnt worden, unter anderem auch in einem Post über deutsche Tatorte, der Nackt heißt. Aber das nur am Rande. Meine erste Begegnung mit Dante verdanke ich einem Nachbarn. Der Professor Hohnholz sagte mir: Dschunge, ich hab' gehört, Du liest so viel, gab mir einen kleinen Karton mit Büchern in die Hand und sagte: Musste mal sehen, ob Du was damit anfangen kannst. Es waren Bücher von Benedetto Croce und Karl Vossler. Ich konnte was damit anfangen. So habe ich Dantes Göttliche Komödie in der Übersetzung von Karl Vossler gelesen, über den Hugo Friedrich schrieb: Der hochgewachsene Schwabe mit dem bäuerlich kräftigen Kopf eines spanischen Caballero und den auffallend buschigen Augenbrauen blieb bis ans Ende den Erbtümern seiner Heimat treu: einem Idealismus, der hütet, was schön und nobel ist, und einer Nüchternheit, die alles Verstiegene, Übergescheite, Herausgeputzte mit dem Dolch des Sarkasmus erledigte. Das habe ich schon in dem Post über Leo Spitzer zitiert.

Hugo Friedrich war in der NSDAP, Karl Vossler, Träger des Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste, nicht. Der ehemalige Frontoffizier war national gesinnt, hatte aber mit den Nazis nichts am Hut. 1930 schrieb er: Für mich als Nichtjuden hat die Judenfrage nur diese einzige Beunruhigung: wie werden wir die Schande des Antisemitismus los, das sind so Sätze, die die Nazis nicht gerne hören, Vossler wurde 1937 zwangsemeritiert. 1945 holte ihn seine Universität aus dem Ruhestand zurück und machte ihn zum Rektor. Ich habe mit dem Romanisten Hugo Friedrich gewisse Schwierigkeiten, das habe ich in dem Post Gerhard Neumann (Dichter) gesagt, aber sein Buch über Montaigne aus dem Jahr 1949 verdient uneingeschränkte Anerkennung.

Auf diesem Bild von Delacroix sind Dante und Vergil in der Hölle. Und da müssen wir hin, denn hier beginnt die Göttliche Komödie. Die Übersetzung von Karl Vossler, die mir vertraut ist, findet sich hier im Volltext zusammen mit dem italienischen Original. Auf der Seite von operone finden wir auch eine Inhaltsangabe des Werkes von dem Bremer Bürgermeister und Übersetzer Otto Gildemeister und eine Auflistung der Übersetzungen. Die Übersetzung des Prinzen Johann ist leider nicht dabei, aber die hat das Projekt Gutenberg im Volltext. Hier werden allerdings die Vorrede des Verfassers und die zahlreichen Anmerkungen des Prinzen Johann weggelassen, aber die habe ich hier in dieser Ausgabe des Teubner Verlags aus dem Jahre 1904. Dem Teubner Verlag in Leipzig erteilte Johann, mittlerweile König von Sachsen, 1865 die Erlaubnis für eine neue, durchgesehene und berichtigte Ausgabe. Sie ist auch die Basis für die Ausgabe von 1904. Man kann sie noch antiquarisch kaufen. Oder hier lesen. Kann man immer noch gut lesen. Man wird den Philalethes aus Sachsen nicht vergessen. Der Dichter Jean Paul hat, nachdem er dem König vorgestellt worden war, gesagt: Die Welt muß Einem immer lieber werden, da es Prinzen giebt von solchem Geist, sanften Kenntnissen und Gesinnungen wie ich heute Einen kennen gelernt habe.

Sonntag, 7. August 2022

Wagner, Wacken und La Périchole


Gestern sendete die ARD Wagners Götterdämmerung, die auch schon in drei Teilen in der Mediathek zu sehen ist. Die Inszenierung wurde vom Publikum ausgebuht. Kann ich verstehen, mir reichten schon zehn Minuten von dem fünfstündigen Spektakel. Dann spielte ich mit der Fernbedienung und landete in Wacken, das Open Air Metal Festival ist leider nicht in der Mediathek. Ich guckte mir auch zehn Minuten davon an, ist nicht meine Welt, war aber interessanter als der Bayreuther Wagner. Meine Leser wissen, dass ich nicht unbedingt ein Wagner Fan bin. Auf jeden Fall, die Leser, die die Posts Richard Wagnerbêtes noir und Bayreuth gelesen haben. Wenn Sie den Namen Richard Wagner in das kleine Suchfeld eingeben, werden Sie überrascht sein, wie häufig der Komponist in meinem Blog vorkommt.

Ich bin die Posts einmal durchgegangen und landete bei dem Post Jacques Offenbach. Ein Post, in dem ich beklagte, dass es keine DVD von der Jérôme Savary Inszenierung aus dem Jahre 1999 in der Opéra Comique mit der wunderbaren Elise Caron als Périchole gäbe, die ich bei arte gesehen hatte. Aber Jahre später besaß ich doch eine DVD, das können Sie dem Post La Périchole aus dem Jahre 2017 entnehmen. Ich vergass Wagner und Wacken und begann zu suchen. Und fand, dass jemand namens Achille Pontsablé am 31.12.2019 Savarys Inszenierung bei You Tube eingestellt hatte. Man muss Monsieur Pontsablé dafür dankbar sein, dass man jetzt ✺La Chanteuse et le Dictateur bei YouTube sehen kann. Zwei Stunden und achtzehn Minuten, keine fünf Stunden wie die Götterdämmerung, aber viel, viel besser als das, was Bayreuth in diesem Jahr zu bieten hat.

Elise Caron, die in Savarys spectacle musical d’après Jacques Offenbach die Hauptrolle hatte, war keine Opernsängerin. Sie kommt eher vom Jazz, 2010 wurde sie mit den Victoires du Jazz als beste Sängerin des Jahres geehrt. Sie musste für die Périchole eine neue Stimme finden. Prends pas ta voix de bourgeoise! hatte Savary ihr gesagt, Caron orientierte sich nicht mehr an der Bourgeoisie, sondern an den Fischweibern vom Markt. Sie ist auf jeden Fall das langbeinigste Fischweib, das die Rolle der Périchole gesungen hat. Ob in diesem grünen Bikinikostüm im Absatz da oben oder im Glitzerkleid. Und sie ist ja auch wunderbar vulgär, professionelle Opernsängerinnen hätten damit Schwierigkeiten. Sie hat als Sängerin interessante Sachen gemacht. Sie hat die Gedichte von ✺Dylan Thomas gesungen, und ich finde ihre CD ✺Eurydice Bis ganz wunderbar. So hat der Abend, der mit der scheußlichen Götterdämmerung aus Bayreuth begann, doch noch etwas gebracht.

Samstag, 6. August 2022

in vino veritas


Die Dame am Telephon hörte nicht auf zu reden. Sie hatte mich mit meinem Doktortitel angeredet und als langjährigen und geschätzten Kunden ihres Hauses begrüßt, dem sie einige italienische Spitzenweine anbieten könne. Es brachte sie ein klein wenig aus der Fassung, dass ich ihr sagte, dass ich noch nie etwas von ihrer Firma gehört hätte. Und dass ich überhaupt keinen Wein tränke. Aber sie redete weiter und zählte, mit gekonnter Aussprache, eine Reihe von italienischen und französischen Weinen auf, die offenbar ganz besondere Okkasionen darstellten. Nur für mich. Ich wiederholte meinen Satz mit der Weinabstinenz, sagte ihr aber, dass ich gerade in meinem Blog über eine Bremer Weinhandlung geschrieben hätte. Den Wein, den meine Gäste bei der Geburtstagsfeier trinken, bekomme ich von Tiemann bei mir um die Ecke. Den Wein der Fremdenlegionäre, den mir Hans Fander geschenkt hat, habe ich noch nicht angerührt. Wenn ich Wein im Versandhandel bestellen wollte, dann würde ich ihn bei der Bremer Firma Reidemeister und Ulrichs bestellen, wo schon mein Vater kaufte. Nach fünfzehn Minuten des Anpreisens allermöglichen Weine, gab die Dame auf. Ich empfahl ihr die Lektüre meines Blogs, sie gab mir die Adresse ihrer Firma.

Wein, egal ob weiß oder rot, ist nicht mein Ding. Den in den fünfziger Jahren in der Bourgeoisie ausgebrochenen Kult mit den angeblichen Weinkenntnissen, wo erstmal bei jeder gesellschaftlichen Zusammenkunft eine Stunde pseudo-fachmännisch über den Wein geredet wurde, machte ich nicht mit. Denn die da so fachmännisch redeten, kauften doch alle ihren Wein im Bremer Ratskeller und vertrauten darauf, dass die Qualität stimmte. Denn zum Ratskeller, den ein Freund von mir letztens als Frittenbude im Tiefparterre bezeichnete, gehört eine Weinhandlung. Da dufte man mit dem Auto hinten, wo die Plastik mit den Stadtmusikanten steht, ans Rathaus heranfahren und aus dem Kontor die Kartons mit den Weinflaschen einladen.

Im 19. Jahrhundert mag es in Bremen richtige Weinkenner gegeben haben, aber jetzt? Niemand, der seinen Karl Lerbs gelesen hat (und damit wächst man in Bremen auf) wird die wunderbare Anekdote vergessen, wo zwei gewichtige alte Herren nach einem männermordenden Festessen (und da fügt Lerbs ein ach, es ist lange her ein) mit einer Brasil im Mund jene sachte Anhöhe am Stadttheater hinuntertrudeln die der Bremer mit überschwenglicher Selbstironie Theaterberg nennt. Und dann folgt dieser Monolog:

Essen – war dscha gut; will ich nix gegen sagen. Weine – waren dscha tadellos. Aber dass er uns zu’n Käse den 78er Latour gibt, wo ich doch ganz genau weiß, dass er den 81er Lafitte in’n Keller hat – nu bitt ich Sie, was soll das?!

Das findet sich in der Geschichte Kritik, und zu meiner großen Überraschung habe ich im Projekt Gutenberg gefunden, dass dort die beiden Bände von Der lachende Roland  und der Roman Manuel im Volltext zu lesen sind. Und der Lebenslauf von Karl Lerbs findet sich dort auch: Geboren am 22. April 1893 in Bremen als Sohn des Großkaufmanns Johann Friedrich Lerbs und Frau Hedwig, geborenen Grimm, einer Nachfahrin der »Märchen-Grimms«, war mein Leben immer bestimmt durch zwei entscheidende Dinge: Die hanseatische Haltung und einen schweren Körperschaden, der mich von jeher auf einen rein geistigen Beruf und Ehrgeiz festlegte. 1912 Abitur am Alten Gymnasium in Bremen; es folgten zwei Jahre Lehrzeit im Ladenbuchhandel; 1914 redaktionelle Schulung durch Theodor Etzel, den unvergeßlichen Freund, bei der Volkszeitschrift »Die Lese« in Stuttgart. 1915–1917 Redakteur an der »Wochenschau« in Essen; sodann Feuilletonist und Theaterkritiker am »Bremer Tageblatt« und der »Weser-Zeitung«. Seit 1925 freier Schriftsteller mit einer Unterbrechung: 1933–1935 Dramaturg am Bremer Schauspielhaus. Seit 1917 durch Eintritt in die Loge »Herder« in Bremen Freimaurer, auch nach der gewaltsamen Auflösung der Logen; daher keine ideelle und praktische Verbindung mit dem Nationalsozialismus. 1936 verheiratet mit der Schauspielerin und Schriftstellerin Renate Lienau; zwei Kinder. 1941 Übersiedlung nach Untertiefenbach bei Sonthofen.
     Arbeitsgebiete: Kurzerzählung (besonders Anekdote); Roman; Dramatisches; Film und Funk; Sammelbücher; Übersetzungen und Bearbeitungen, besonders aus dem Englischen und Französischen; Theater- und allgemeine Kulturpolitik, Glosse.

Jeder kennt Karl Lerbs als den Autor von Der lachende Roland und dem Völkerspiegel, aber nur wenige kennen Karl Lerbs als Übersetzer, dabei ist seine Leistung erstaunlich. 1913, kurz nach dem Abitur und dem gerade begonnenen Volontariat in einer Bremer Buchhandlung, hatte er sich beim Leipziger Insel Verlag beworben. Er bekam eine Absage, aber zwei Jahre später nahm man ihn doch als Übersetzer. In zwanzig Jahren hat er für den Insel Verlag siebzehn Bücher übersetzt. Das meiste davon waren Erstübersetzungen. Ein Würdigung seiner Tätigkeit findet sich in STiNT: Zeitschrift für Literatur 1987-2006. Der Verfasser ist Jan Osmers, der auch schon Konrad Weichberger und Carl Jonas Love Almqvist vor dem Vergessen bewahrt hatte.

Lerbs hat Herman Melville übersetzt (Bartleby der Schreiber), D.H. Lawrence und Virginia Woolf (Orlando und Die Fahrt zum Leuchtturm), seine Übersetzung von Duff Coopers Talleyrand steht bei mir im Regal. Im Wikipedia Artikel zu Lerbs findet sich eine Auswahl seiner Übersetzungen. Was nicht erwähnt wird, ist die Tatsache, dass Lerbs der erste deutsche Übersetzer von Sherwood Anderson gewesen ist. Das ist jener amerikanische Schriftsteller, den William Faulkner am Anfang seiner Karriere um Rat gefragt hatte. Und der hatte ihm gesagt: You have to have somewhere to start from: then you begin to learn. It dont matter where it was, just so you remember it and aint ashamed of it. Because one place to start from is just as important as any other. You’re a country boy; all you know is that little patch up there in Mississippi where you started from. Und das wird Faulkner tun, er wird that little patch up there in Mississippi auf die Landkarte der Weltliteratur schreiben.