Samstag, 8. Februar 2025

Schwarz-Weiß-Film


Vor hundertzwanzig Jahren war Thomas Dixon, Jr. in Amerika ein berühmter Mann. Er war der bekannteste Baptistenprediger des amerikanischen Südens, und auch im Norden bewunderte man seine rhetorische Begabung: He can whirl words and ideas at an audience as few men can ... He spoke on the 'New America' before an audience that nearly filled the opera house. The people held their breath and listened, they clapped their hands, they laughed and sometimes some of them cried a little, and when the lecturer ... after a magnificent close, bowed himself off the platform, they felt wronged that they had paid fifty cents apiece to hear so short an address; then they looked at their watches to find that they had been listening two hours. Heute kennt ihn, wie man umgangssprachlich so schön sagt, kein Schwein mehr. Und diejenigen, die mit dem Namen etwas anfangen können, haben nur Spott und Verachtung für den Rassisten aus dem Süden übrig.

Als ihm die Wake Forest University einen Ehrendoktortitel verleihen wollte, hat er das abgelehnt und stattdessen einen Freund aus seinen Studientagen an der Johns Hopkins Universität vorgeschlagen. Den Namen Woodrow Wilson hatte damals noch niemand gehört. Dem wird Dixon später auch seinen Roman The Southener widmen: dedicated to our first southern-born President since Lincoln, my friend and collegemate Woodrow Wilson. Es ist für ihn wichtig, dass Wilson aus dem Süden kommt, denn Thomas Dixon ist auf der Welt, um die Ehre des Südens zu retten. Die Ehre des Süden basiert nach Mark Twain auf exzessiver Lektüre von Sir Walter Scott. Für Dixon ist die Ideologie des Lost Cause zur Religion geworden. Wir sollten vielleicht noch erwähnen, dass sein Vater Sklavenhalter und Ku Klux Klan Mitglied war.

Als er noch Prediger war, hatte er einmal Uncle Tom's Cabin auf einer Bühne gesehen. Für ihn war das eine Beleidigung des Südens: Finally, when the performance was over, he rose with tears in his eyes and vowed bitterly that he would someday tell the 'true story' of the South. Die einzig wahre Geschichte des amerikanischen Südens steht nach Meinung von Dixon, der im vorletzten Jahr des Bürgerkrieges geboren wurde, in seiner Trilogie von Romanen. Die The Leopard's SpotsThe Clansman und The Traitor heißen. Amazon bietet die drei Romane heute als The Reconstruction Trilogy an, das klingt unverfänglich. Der Titel von The Leopard's Spots bezieht sich auf Jeremiah 13:23: Can the Ethiopian change his skin, or the leopard his spots? then may ye also do good, that are accustomed to do evil. Und für Dixon bedeutet das - und das ist die Botschaft des Baptistenpredigers und seine true story of the South - dass alle Schwarzen Untermenschen sind: .. no amount of education of any kind, industrial, classical or religious, can make a Negro a white man or bridge the chasm of centuries which separate him from the white man in the evolution of human nature.

Wir lassen solch rassistischen Aussagen einmal unkommentiert, sie würden wahrscheinlich auch noch heute in manchen Teilen Amerikas auf Zustimmung stoßen. Ich bleibe mal einen Augenblick bei dem Romanautor Dixon. Der gar kein wirklicher Romanautor sein will, das Schreiben von Romanen ist für ihn nur ein Vehikel, um seine Botschaft ans Volk zu bringen. I have made no effort to write literature. I had no ambitions to shine as a literary gymnast. My sole purpose in writing was to reach and influence the minds of millions. I had a message and I wrote it as vividly and simply as I could. Millionen von Amerikanern werden Dixon lesen, The Clansman kann man heute noch kaufen oder hier beim Project Gutenberg (die auch noch andere Werke von Dixon gespeichert haben) lesen. Nicht, dass es sich lohnen würde, das zu tun. Viele von den Bestsellern dieser Zeit sind heute zu Recht vergessen. Owen Wisters The Virginian, der Teddy Roosevelt gewidmet war, hat überlebt. Edith Whartons The House of Mirth auch. Wie eben erstaunlicherweise auch The Clansman, das Dixon seinem Onkel gewidmet hatte: My Uncle, Colonel Leroy Mcafee Grand Titan of the Invisible Empire Ku Klux Klan.

Ich hätte darauf verzichten können, Thomas Dixon aus seiner literarischen Gruft hervorzuholen, wenn nicht heute vor einhundertzehn Jahren der Film The Birth of a Nation von David Wark Griffith in Los Angeles vor 2.500 Zuschauern aufgeführt worden wäre. Der Film sollte zuerst The Clansman heißen, weil Dixons Roman die Basis für den Film war. Der, so ideologisch katastrophal wie er ist, eines der größten Filmkunstwerke des 20. Jahrhunderts ist. He achieved what no other known man has achieved. To watch his work is like being witness to the beginning of melody, or the first conscious use of the lever or the wheel; the emergence, coordination and first eloquence of language; the birth of an art: and to realize that this is all the work of one man, hat James Agee nach dem Tod von Griffith 1948 in The Nation geschrieben. 1992 entschied die Library of Congress, dass der Film culturally, historically, or aesthetically significant sei und nahm ihn in die National Film Registry auf. 

Der dreistündige Film war der erste Blockbuster Hollywoods und der erste Film, der im Weißen Haus gezeigt wurde. Für den Präsidenten Woodrow Wilson (dem sein Freund Thomas Dixon diese Aufführung vermittelt hatte) war es like writing history with lightning. Es ist aber etwas umstritten, ob er das wirklich gesagt hat. Für einen Teenie aus Atlanta namens Margaret Mitchell war der Film die Keimzelle für ihren Roman Gone with the Wind. Der Film wurde umgehend in einzelnen Bundesstaaten der USA verboten. Und der Regisseur David Wark Griffith nahm sich die Proteste so zu Herzen, dass er sofort den Film Intolerance drehte. 

Der Regisseur David Wark Griffith kam wie Thomas Dixon aus dem Süden, sein Vater war Colonel in der Südstaatenarmee gewesen, ein paar Sklaven hatte die Familie auch gehabt. Griffith konnte sich noch an einige erinnern. Aber die Familie ist arm, der Ex-Colonel ist ein Säufer. Die Familie Griffith ist das, was man bösartig als poor white trash bezeichnet. Teile von dem, was ideologisch im Kopf von Dixon vorging, wird Griffith auch im Kopf gehabt haben. Also, diese Sache mit dem lost cause des Südens. Den Bestseller der Südstaaten When Knighthood Was in Flower hatte Griffith auch schon in einem Kurzfilm verarbeitet. Dass er mit The Birth of a Nation, den er in vier Monaten gedreht hatte, Ärger haben würde, wusste Griffith. Verschiedene Versionen des Films zeigten am Anfang eine Tafel mit diesem Text: A plea for the Art of the Motion Picture: We do not fear censorship, for we have no wish to offend with improprieties or obscenities, but we do demand, as a right, the liberty to show the dark side of wrong, that we may illuminate the bright side of virtue—the same liberty that is conceded to the art of the written word—that art to which we owe the Bible and the works of Shakespeare and if in this work we have conveyed to the mind the ravages of war to the end that war may be held in abhorrence, this effort will not have been in vain.

Der Literaturkritiker Leslie A. Fiedler hat in seinem Buch The Inadvertent Epic (1979) Thomas Dixon in einen größeren Zusammenhang gestellt. Für Fiedler sind die Romane Dixons Teil eines nationalen Epos: understood as a single work, composed over more than a century, in many media, and by many hands, these constitute a hitherto unperceived Popular Epic. Die anderen Bestandteile dieses synthetischen Epos sind neben Dixons Romanen und Griffith' Film, Harriet Beecher Stowes Uncle Tom's Cabin, Margaret Mitchell Gone with the Wind und Alex Haleys Roots und die gleichnamige Fernsehserie. Dieser originelle Gedanke ist von Fiedler in den prestigeträchtigen Massey Lectures vorgetragen worden, und Fiedler zeigt sich hier als the wild man of American literary criticism wieder einmal von seiner besten Seite. Ich habe Thomas Dixon gelesen, ich würde es kein zweites Mal tun. Den Film von Griffith (der auf DVD erreichbar ist) würde ich mir aber jederzeit wieder ansehen. Schauen Sie sich hier einmal den Film an, das ist aufregendes Kino, wenn man bedenkt, dass The Birth of a Nation hundertzehn Jahre alt ist. In dem Film ist alles drin, die Schlacht von Gettysburg, die Kapitulation von General Lee und die Ermordung von Präsident Lincoln. Und die bösartigen Schwarzen sind alle schwarz angemalte weiße Schauspieler.

Woodrow Wilson, der erste amerikanische Präsident, der The Birth of a Nation im Weißen Haus sah, äußerte sich sein Leben lang rassistisch über Schwarze. Als Präsident von Princeton sorgte er dafür, dass kein farbiger Student einen Studienplatz bekam. Als Präsident der USA sorgte er dafür, dass kein Farbiger einen Spitzenjob in der Verwaltung erhielt. Rassentrennung und die Verbreitung des Mythos vom lost cause waren das größte Ziel des ersten Präsidenten aus den Südstaaten seit dem Bürgerkrieg. In seinem Buch A History of the American People fand er großes Verständnis für den Ku Klux Klan: The white men of the South were aroused by the mere instinct of self-preservation to rid themselves, by fair means or foul, of the intolerable burden of governments sustained by the votes of ignorant negroes and conducted in the interest of adventurers; (…) Every country-side wished to have its own Ku Klux, founded in secrecy and mystery like the mother ‘Den’ at Pulaski, until at last there had sprung into existence a great Ku Klux Klan, an ‘Invisible Empire of the South’, bound together in loose organization to protect the southern country from some of the ugliest hazards of a time of revolution. Solche Zitate sind als Bildtafeln in den Film hineingewandert. Das sind natürlich Sätze, die Griffith gefallen haben, der über seinen Film sagte: ... the Civil War was fought fifty years ago. But the real nation has only existed in the last fifteen or twenty years . . . The birth of a nation began . . . with the Ku Klux Klan, and we have shown that. Auf jeden Fall. Der Ku Klux Klan, den man schon vergessen glaubte, bekam nach dem Film neue Konjunktur. Der Rassenhass auch.

A Hundred Years Later, 'The Birth of a Nation' Hasn’t Gone Away betitelte 2015 die Historikerin Allyson Hobbs ihren kurzen Artikel im New Yorker. Nein, der Film geht nicht weg. Da kann man mit Lady Macbeth ausrufen: Out, damned spot! Out, I say! Was Allyson Hobbs nicht im Traum eingefallen wäre, ist die Tatsache, dass Donald Trump, gerade wenige Monate im Amt, den Film am Osterfest 2017 vor dem Weißen Haus gezeigt hat. Und dazu gesagt hat: It is a great film about our great country. It’s a great way to celebrate our Christian heritage. Was der erste Satz mit dem zweiten zu tun hat, weiß ich wirklich nicht. Über den rassistischen  Präsidenten, der diesen Film 1915 im Weißen Haus zu sehen bekam, sagte Trump: Wilson was a winner, and when he was president America was winning. And I’m a winner too, so now that I’m president we will win again too. Bigly. Und über den rassistischen Inhalt des Films hatte Trump auch etwas zu sagen: I am the least racist person there is. Nobody respects minorities more than me. Wer würde ihm widersprechen?

Dienstag, 4. Februar 2025

The Gulf of Mexico


Heute heißt Country Music nicht mehr Johnny Cash, sondern Taylor Swift. Aber die muss jetzt vorsichtig sein, Donald Trump hasst sie. I hate Taylor Swift, konnte man in den asozialen Medien lesen. Es gab eine schnelle Antwort von Ana NavarroDonald Trump has lost what little sanity he had left. Taylor Swift broke him. Kaum hatte Swift sich für Kamala Harris ausgesprochen, da tauchte in den Medien dieses Bild auf. Die Lügenmaschine der Trump Fans war wieder bei der Arbeit gewesen. Für so etwas ist Künstliche Intelligenz gut, wahrscheinlich für nichts anderes. Da wir beim Thema Musik sind: Donald Trump spielt im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger (lesen Sie mehr in I hear America Singing) kein Instrument. Aber er liebt Country Music, vor allem, was der 82-jährige Lee Greenwood singt. Dessen Lied God Bless the USA hatte Trump ja schon in seine Bibel aufgenommen, wahrscheinlich wird es demnächst die Nationalhymne der USA. Bei Trumps Amtseinführung sang die Country Sängerin Carrie Underwood das Lied America the Beautiful, aber von beautiful konnte bei ihrem Gesang keine Rede sein. Wäre Kamala Harris Präsidentin geworden, hätte wahrscheinlich Taylor Swift im Weißen Haus gesungen. Bei der Gala für Jimmy Carter im Januar 1977 hatte Aretha Franklin God Bless America gesungen, die Crème de la Crème von Pop und Country war an diesem Abend da. Auch bei Joe Bidens Inauguration gab es viel musikalische  Exzellenz. Donald Trump hat nur diesen Greenwood und den traurigen Rest der Country Music.

Country & Western Musik war von Anfang an in diesem Blog, das begann 2010 mit dem Post Grand Ole Opry, die anderen Posts liste ich mal da unten auf. Über diese amerikanische Musik habe ich schon vor dreißig Jahren zwei Aufsätze in der Zeitschrift Studies in the Western von Peter Bischoff geschrieben. Ich hatte schon eine Menge C&W im Kopf, bevor ich zu bloggen begann. Ich bin dank AFN und BFN mit amerikanischer Musik aufgewachsen, meine Heimatstadt Bremen war amerikanisch besetzt. Die ersten Jahre im Gymnasium hatte ich dank eines Austauschprogramms einen amerikanischen Englischlehrer. Dass John und Alan Lomax Amerikas Lieder aufgezeichnet haben, das wusste ich schon früh. Dass Moses Asch das Label Folkways gegründet hatte, wusste ich auch. Freunde in Amerika schickten mir die LPs zu. Für die ich 1960 beim Hauptzollamt Bremen immer argwöhnisch angeguckt wurde: genügt Dir denn die deutsche Musik nicht, dass Du sowas importieren musst? 

Als der junge Moses Asch in den dreißiger Jahren ein Interview mit Albert Einstein mit seinem Tonbandgerät aufnehmen sollte, sagte der Mathematikstudent in der Kaffeepause des Interviews, dass er eigentlich viel lieber die Volksmusik Amerikas aufzeichnen sollte;  es wäre doch ein schönes Unternehmen, das alles mit der neuen Technik aufzuzeichnen. Und da sagt Einstein: ... mach das, das Gerät, das Du da hast, das ist die Zukunft. Arbeitslose Mathematiker gibt es schon genug. Und er fügt hinzu: You're exactly right. Americans don't appreciate their culture. It'll be a Polish Jew like you who will do the job. Nach dem Tode von Asch im Jahre 1986 wird die Smithsonian Institution das Label Folkways kaufen, so dass das nationale musikanische Erbe Amerikas gesichert ist. Heute heißt Folkways Folkways/Smithsonian. Aus dem kleinen Label von Moses Asch ist ein riesiges Museum amerikanischer Folklore geworden.

Es gibt kleinere Labels wie Rounder Records, die mal Blues, Blues-Rock, Stringbands und Bluegrass anfingen, sie haben heute tausende von Titel im Programm. Auch sie sind schon ein kleines Museum amerikanischer Folklore. Und dann gibt es solche Labels, die sich auf die Wiederveröffentlichung spezialisiert haben und sehr schöne Zusammenstellungen herausbringen. Wie Bear Family Records (die erstaunlicherweise nicht in Nashville oder Bakersfield sitzen, sondern in der Nähe von Bremen ihre Heimat haben). Heute gibt es hier bei mir Clint Black, denn der hat heute Geburtstag. Er war in den neunziger Jahren ein Star, hatte dreizehn Titel auf Platz Eins der Billboard Country Songs. Sein Lied The Gulf of Mexico war auf seiner zweiten Platte Put Yourself In My Shoes, die 111 Wochen in den Charts war.

The Gulf of Mexico

The Texas coastline hold her
Close just like a lady
And in their time they've
Weathered a storm or two.
The river feed her waters like
I feed your memory.
The deeper I go the more I'm turning blue.
The sandy beaches drift in time
And the changing tide I know
Won't bring me back to yesterday
And the Gulf of Mexico.
The sails out on the water will
Come take you away.
When your ship comes in I know its time to go
And the waves along the seawall
Tell me nothings here to stay
And no man is an island but I'm still all alone.
I'm weighing anchors from the past
As the south winds start to blow
Sailing out of yesterday
And the Gulf of Mexico.
I'll be sailing out of yesterday
And the Gulf of Mexico.

Ja, damals durfte man noch Lieder über den Golf von Mexiko singen. Rod Stewart und Bruce Springsteen haben das auch getan. Heute heißt der Golf nicht mehr so. Hat Donald Trump gesagt. All diese schönen Popsongs wird irgendwann keiner mehr verstehen, titelte die Welt zu diesem Thema. Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum schlug nach Trumps Namensänderung vor, den Süden der USA América Mexicana zu benennen. So hieß er einmal auf den Weltkarten des 17. Jahrhunderts: Warum nennen wir es nicht mexikanisches Amerika? Klingt gut, nicht wahr? Wir warten mal ab, was daraus wird. Und lassen einmal Dolly Parton ein patriotisches Lied singen. Das hat nur eine Strophe, aber Donald Trump hat das noch nie hingekriegt.

Lesen Sie auch: Emmylou, Emmylou Harris, Jackson, Traumpaare, Grand Ole Opry, All I NeedTownes van Zandtein anderes Amerika, Jessi Colter, Jessi, Waylon Jennings, Country Roads, Kris Kristofferson ✝, Patsy Cline, Johnny Cash, Richard Nixon, The One on the Right Is on the Left, Volver, volver, Hank Williams, The Yellow Rose of TexasWarren Oates

Sonntag, 2. Februar 2025

Mina Loys Ulysses


Am 2. Februar 1922 erschien der Roman Ulysses von James Joyce. Wenn Sie den Romantitel mit dem Pfeil und dem irischgrünen Feld anklicken, sind Sie schon drin in Dublin, denn ich habe einen englischen Volltext für Sie. Der Penguin Verlag bietet hier auf 85 Seiten eine Leseprobe der deutschen Übersetzung von Georg Goyert aus dem Jahre 1927 an, das ist immerhin ein Zehntel des Romans. Und hier können Sie den Anfang des Romans in der Übersetzung von Hans Wollschläger aus dem Jahre 1973 lesen. Wollschlägers Übersetzung gibt es bei ebay ab 3,33€. Sie ist fehlerhaft und umstritten, aber eine korrigierte Version durfte dank einer Krimiautorin, die die Rechte an dem Text besitzt, nicht veröffentlicht werden. Sie können aber hier das Vorwort zu diesem nicht zugänglichen Text lesen. Und das erste wichtige Buch zum Ulysses von Stuart Gilbert aus dem Jahre 1930 habe ich hier auch noch im Volltext für Sie.

Den Tag des Erscheinens seines Romans hatte Joyce selbst bestimmt, es war sein vierzigster Geburtstag. Er feierte seinen Geburtstag am Abend mit Nora Barnacle (die er immer noch nicht geheiratet hatte) in dem italienischen Restaurant Ferrari's. In Richard Ellmans →Biographie (hier auch im Volltext) können wir lesen: He had brought with him a package containing his copy of 'Ulysses', and placed it under his chair. Nora remarked that he had thought about the book for sixteen years, and spent seven years writing it. Everyone asked to see it opened, but he seemed to shrink from producing it. After the dessert he at last untied the parcel and laid the book on the table. It was bound in the Greek colours - white letters on a blue field - that he considered lucky for him, and suggesting the myth of Greece and Homer, the white island raising from the sea. There was a toast to the book and its author which left Joyce deeply moved. 

Es gab an dem Abend erst zwei Exemplare des Buches, die vorab gedruckt und gebunden waren. Der Drucker Maurice Darantiere
hatte sie mit dem Schnellzug von Dijon nach Paris geschickt. Die anderen 998 Bücher waren noch nicht gedruckt. Sylvia Beach hatte die Bücher am Bahnhof abgeholt. Eins schickte sie mit dem Taxi zu James Joyce, das andere legte sie in das Schaufenster ihres Ladens. Eine Erstausgabe mit der Signatur von Joyce kostet heute 300.000 Euro. Zur Hundertjahrfeier des Ereignisses gab  es in diesem Blog am 2. Februar 2022 den Post Hundert Jahre 'Ulysses'. Auf dem Photo von Gisèle Freund im oberen Absatz trägt Joyce eine Armbanduhr, aber ich weiß nicht, von welcher Firma die Uhr ist. Angeblich soll Joyce immer mehrere Uhren bei sich gehabt haben, die alle verschiedene Zeiten anzeigten. Im Text von Ulysses findet sich der Satz: Very strange about my watch. Wristwatches are always going wrong. Wahrscheinlich trägt er deshalb eine Armbanduhr. Was bedeutet dem Genie schon Zeit? Er hätte sich für das Ereignis eine neue Uhr kaufen können, so etwas hätte ich getan. Aber er kauft sich einen neuen Ring. Auf den Photos von Gisèle Freund kann man seine Ringe sehen.

Heute habe ich zur Feier des Tages ein Gedicht von Mina Loy (hier im Bild), das den Titel James Joyce's Ulysses hat. Wenn man will, kann man den Titel auch als James Joyce is Ulysses lesen. Die Modernisten sind gut mit kleinen Wortspielen, James Joyce zeigt uns das auf jeder Seite. In einem Interview aus dem Jahre 1965 wird die 83-jährige Mina Loy sagen: I knew Joyce quite well, this was the time—I don’t know how they managed to get any printed. I’ve forgotten all that story. [Isn’t that the Sylvia Beach story? Yes, and . . . ] He had a terrible wife. Das mit dem terrible wife hat James Joyce nicht so gesehen, für ihn war Nora Barnacle seine Muse, auch wenn er siebenundzwanzig Jahre brauchte, um sie zu heiraten. Er hat sie als Molly in den Ulysses geschrieben.

Mina Loy, die Joyce auch gezeichnet hat, hat noch ein zweites Gedicht auf Joyce geschrieben, das Apology of Genius heißt. Sie und James Joyce haben sich nicht häufig getroffen. Aber sie standen sich nahe mit dem, was sie wollten und waren immer in Verbindung: What was Joyce like? He had a nice gentle smile, and I don’t know what basis our friendship was on, wird sie im Alter sagen. Sie hatte ihn 1965 beinahe vergessen. Aber dass sie das Gedicht James Joyce's Ulysses geschrieben hatte, das wusste sie noch, sie hat es in dem Interview vorgelesen (klicken Sie hier die Nummer 42 an).

Der in Paris privat gedruckte Roman Ulysses war sofort im Heimatland von Joyce (und in den USA) verboten. D.H. Lawrence wird mit seinem Roman  Lady Chatterly's Lover sechs Jahre später Ähnliches erleben. Aber es gab in England schon erste Rezensionen, so konnte man 1922 im Guardian lesen: No book has ever been more eagerly and curiously awaited by the strange little inner circle of book-lovers and littérateurs than James Joyce’s Ulysses. It is folly to be afraid of uttering big words because big words are abused and have become almost empty of meaning in many mouths; and with all my courage I will repeat what a few folk in somewhat precious cénacles have been saying – that Mr James Joyce is a man of genius. I believe the assertion to be strictly justified, though Mr Joyce must remain, for special reasons, caviar to the general. I confess that I cannot see how the work upon which Mr Joyce spent seven strenuous years, years of wrestling and of agony, can ever be given to the public. Es wird einige Zeit dauern, bis die Welt erkennt, was da am 2. Februar 1922 erschienen ist. Mina Loy hatte das sofort erkannt, James Joyce's Ulysses ist eine Buchrezension in Form eines Gedichts:

James Joyce's Ulysses

The Normal Monster
sings in the Green Sahara

The voice and offal
of the image of God

make Celtic noises
in these lyrical hells

Hurricanes
of reasoned musics
reap the uncensored earth

The loquent consciousness
of living things
pours in torrential languages

The elderly colloquists
the Spirit and the Flesh
are out of tongue

The Spirit
is impaled upon the phallus

Phoenix
of Irish fires
lighten the Occident

with Ireland’s wings
flap pandemoniums
of Olympian prose

and satinize
the imperial Rose
of Gaelic perfumes—
England
the sadistic mother
embraces Erin

Master
of meteoric idiom
present

The word made flesh
and feeding upon itself
with erudite fangs
The sanguine
introspection of the womb

Don Juan
of Judea
upon a pilgrimage
to the Libido

The press
purring
its lullabies to sanity

Christ capitalized
scourging
incontrite usurers of destiny
in hole and corner temples

And hang
The soul’s advertisements
outside the ecclesiast’s Zoo

A gravid day
spawns
gutteral gargoyles
upon the Tower of Babel

Empyrean emporium
where the
rejector-recreator
Joyce
flashes the giant reflector
on the sub-rosa



Noch mehr James Joyce in diesem Blog: Hundert Jahre 'Ulysses'Bloomsday, Abendgesellschaft, Quark, Dublin, The Lass of Aughrim, Parnell, Versäumtes, Stephen Dedalus, Molly

Freitag, 31. Januar 2025

der Januar 2025

Wird's besser? Wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich! hat Erich Kästner geschrieben. Der erste Monat des Jahres ist herum. Amerika hat einen neuen Präsidenten, wir werden jetzt jeden Tag neue Nachrichten von Donald Trump und Elon Musk aus Washington bekommen. Sollen wir darauf hören? Der Januar fing für diesen Blogger gut an, 38.694 Leser haben SILVAE angeklickt. Ich gucke immer mal in die Statistik, es ist für mich interessant, was die Leser lesen. Otto & Sohn ist die Nummer Eins der letzten Woche. Aber der meistgelesene Post der letzten vier Wochen ist mein kleiner Nachruf auf meinen Studienfreund Dr Hartmut Krüger. Sein Sohn hat einen Kommentar geschrieben, in dem steht, dass dieser Text seinem Vater gefallen hätte. Das hat mich sehr gerührt.

Auch wenn es von den Leserzahlen her ein guter Monat war, es gab kleinere Zwischenfälle im Bereich der Technik. Da war der kleine Computerabsturz, ein Fachmann musste eine Viertelstunde mit Hilfe des TeamViewer in meinem Computer herumwühlen, bis er den Fehler gefunden hatte. Und ich hatte sieben Tage kein Fernsehen, aber das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Inzwischen läuft alles wieder. 

Ich habe mir im Januar eine Uhr gekauft, das hätten Sie sich vielleicht schon gedacht. Es war aber doch eher ein Zufall als ein geplanter Kauf. Die Uhr wird irgendwann hier im Blog auftauchen. Es ist wieder eine Seiko, dieses Handaufzugsmodell ist wahrscheinlich die beste Uhr, die Seiko Ende der sechziger Jahre gebaut hat. Das Uhrwerk dieses King Seiko Chronometers war auch in der Grand Seiko zu finden. Und es war 1969 das einzige japanische Werk, das bei dem letzten Chronometerwettbewerb in Neuchâtel auf die vorderen Plätze kam. Das war ein ziemlicher Schock für die Schweizer Hersteller. Der noch größer wurde, als Seiko wenige Monate später die erste kommerzielle Quarzuhr auf den Markt brachte. 

Aber das lassen wir jetzt mal beiseite und kommen zu etwas Anderem. Heute ist der Geburtstag von Franz Schubert, einem Komponisten, der immer in diesem Blog war. Wahrscheinlich häufiger als die Uhren von Seiko. Zum ersten Mal wird Schuberts Name im Januar 2010 in dem Post Kurze Geschichte der amerikanischen Literatur genannt. Das mag jetzt etwas irritieren, aber es hat seinen Grund. Im November 1828 schreibt er an seinen Freund Schober: 
Ich bin krank. Ich habe schon elf Tage nichts gegessen und nichts getrunken, und wandle matt und schwankend vom Sessel zu Bett und zurück. Doktor Rinna behandelt mich. Wenn ich auch etwas genieße, so muß ich es gleich von mir geben. Sei also so gut, mir in dieser verzweiflungsvollen Lage durch Lektüre zu Hilfe zu kommen. Von Cooper habe ich gelesen: 'Den letzten der Mohikaner', den 'Spion', den 'Lotsen' und die 'Ansiedler'. Solltest Du vielleicht noch was von ihm haben, so beschwöre ich Dich, mir solches bei der Frau v. Bogner im Kaffeehaus zu depositieren. Mein Bruder, die Gewissenhaftigkeit selbst, wird solches am gewissenhaftesten mir überbringen. Oder auch etwas anderes. 
Dein Freund Schubert.
Das Krankenbett wird sein Totenbett sein, er hat die Winterreise fertig, hat den halben Cooper gelesen und verlangt nach mehr von Amerikas bekanntestem Schriftsteller.

Ich habe die Schubert Posts einmal zusammengestellt, von denen manche erstaunliche Leserzahlen erreicht haben. Der Post Tränenregen hat zum Beispiel mehr als fünftausend Leser, und Hans Peter Blochwitz kommt auf dreitausend Leser. Wenn man die Posts alle zusammenfügt, wäre das schon ein kleines Schubert Buch:


Montag, 27. Januar 2025

Otto & Sohn

Den Kalender links auf dem Bild hat mir meine Cousine Hannelore zu Weihnachten geschenkt. Er enthält Bilder aus dem Buch Vegesack - Leben am Fluss in den 50er und 60er Jahren, das der Buchhändler Martin Marder und Kai Rücker, der Sohn des Photographen Helmut Schröder zusammen gestaltet haben. Es ist exklusiv bei der Buchhandlung Otto & Sohn in Vegesack erhältlich. Dass dieses Buch im Entstehen war, weiß ich, weil mir Martin Mader (der schon mehrfach in diesem Blog erwähnt wurde) einige Photos aus den fünfziger Jahren geschickt hatte, die ich noch nie gesehen hatte. 

Das Buch mit den nostalgischen Photos wird das letzte Buch der Firma Otto & Sohn sein, die vor vier Jahre Fritz Theodor Overbecks Büchlein Vegesack Du schönes Städtchen wieder aufgelegt hatte. Im Sommer des Jahres wird Martin Mader die Buchhandlung in der Breiten Straße, die es seit achtundneunzig Jahren gibt, schließen. Als Mader die Buchhandlung 1992 übernahm, war sie schon nicht mehr im Familienbesitz der Ottos. Aber es gab damals noch eine Buchhandlung Otto im Ort, nämlich die von Conrad Claus Otto. Das Adreßbuch für den deutschsprachigen Buchhandel vermerkte 1958, dass es hier zu Verwechslungen kommen könnte. Die Buchhandlung von C.C. Otto habe ich schon in dem Post Catch-22 erwähnt. Der junge Conrad Claus Otto (1931-2007) hatte 1955 in der Bismarckstraße (die heute Sagerstraße heißt) eine ganz andere Buchhandlung aufgemacht, die beste des Ortes. 

Es war eine erstaunliche Buchhandlung für so ein kleines Nest wie Vegesack, sie lebte natürlich von der Persönlichkeit des jungen Buchhändlers. Der auch noch die schönste Frau unserer Schule geheiratet hatte, kaum dass die achtzehn war. Sie hatten sich bei den Proben zu Hindemiths Oper Die Harmonie der Welt kennengelernt, bei denen unser Schulchor mitwirkte (wie sie hier lesen können). Seine Frau Doris hat aus Liebe zu ihm in Lübeck eine Buchhändlerausbildung gemacht. Conrad Claus Otto war für Bremen-Nord so etwas wie Eckart Cordes in Kiel, obgleich der Kieler Kulturpreisträger vielleicht noch mehr berühmte Autoren in seine Buchhandlung gelockt hat als Conrad Claus Otto in seine. Aber immerhin hatte er 1980 zum 25jährigen Bestehen der Firma Walter Kempowski als Gast. Doris Otto hat nach seinem Tod den Laden, der inzwischen in die Gerhard Rohlfs Straße umgezogen war, noch fünf Jahre weitergeführt, aber dann musste sie aufgeben. 
 

Die Familie Otto war seit 1860 in Vegesack im Geschäft mit Büchern und Papier. Da hatte nämlich der Buchbinder Christoph Christian Otto (1831-1902) am Kleinen Markt in der Bahnhofstraße eine Buchbinderei, Papier- und Buchhandlung eröffnet. Die Bahnhofstraße, in der mein Opa mal wohnte, als er am Anfang des Jahrhunderts in den Ort kam, heißt heute Reeder Bischoff Straße; der Kleine Markt heißt heute Botschafter Duckwitz Platz. Benannt nach Georg Ferdinand Duckwitz, der hier schon in dem Post Arnold Duckwitz erwähnt wird. Die Postkarte ist hundert Jahre alt, Bäume gibt es da heute nicht mehr auf dem kleinen Platz, jetzt gibt es da einen Marktbrunnen. Die Buchhandlung, die noch bis Anfang der siebziger Jahre bestand, ist da irgendwo links auf dem Bild. Neben dem Uhrmacher Hugo Molgedei, bei dem meine Eltern mir meine Tissot Seastar gekauft haben. Ganz links, hier nicht mehr auf dem Bild, wohnte meine Tante Cilly.

Christoph Christian Ottos Sohn Albert (1905-1984) übernimmt von seinem Vater die Buchhandlung am Kleinen Markt, er wird sie bis in die 1970er Jahre behalten. 1960 gönnt sich die Firma zum hundertjährigen Bestehen noch eine kleine Festschrift. C.C. Ottos Sohn Theodor Otto (1867-1949) kauft 1905 die Buchhandlung von Carl Eduard Jantzen in der Breiten Straße. Die hatte es dort als Buchhandlung, Kunst- und Musikhandlung nebst Leihbücherei seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben. Unter der Leitung von Theodors Sohn Christel Otto (1899-1966) bekommt die Jantzensche Buchhandlung in den 1920er Jahren den Namen Th. Otto & Sohn. Christel Ottos Ehefrau arbeitete in der Buchhandlung mit, sie hatte sogar Prokura. Sie kam aus der Familie von F. W. L. Borowsky, die unten neben der Post eine Druckerei hatte. Es ist eine praktische Sache, wenn Buchbinder und Drucker zusammenkommen.

Ich ging auf dem Schulweg jeden Tag an der Buchhandlung vorbei. Ich guckte selten in die Schaufenster. Viel interessanter war die Eisdiele von Chiamulera genau gegenüber. Die einzelnen Läden ds Ortes, bei denen es sich lohnte, in die Schaufenster zu gucken, waren Harjes und Karl Kass. Und Erich Maack, nicht wegen seiner Tochter Annegret. Wegen der Photoapparate. In meinen Träumen geh ich manchmal wieder die Breite Straße entlang. Wenn meine Eltern mich in den Laden schickten, weil sie dort etwas bestellt hatten, bekam ich immer eine Quittung mit, auf der Praxisbedarf stand. So etwas erkennt heute kein Finanzamt mehr an, aber damals ging das. Die Bücher, die ich da gekauft habe, unter anderem zwei Bände von Proust Recherche, haben alle noch dieses kleine grüne Etikett, auf dem Th. Otto  & Sohn steht. Als ich begann, englische Bücher bei ihnen zu bestellen, guckten sie mich in der Buchhandlung etwas missmutig an. Englische Bücher gab es vor über sechzig Jahren kaum in deutschen Buchhandlungen, auch nicht im amerikanisch besetzten Bremen. Die einzige Ausnahme war Marga Schoeller in Berlin, die eine große Abteilung für englische Bücher hatte. Aber Otto & Sohn bestellte mir knurrend die Bücher. Mein Exemplar von Walt Whitmans Leaves of Grass hat auch noch das kleine grüne Otto & Sohn Etikett eingeklebt.

Das hier war der Kommentar von Til Mette auf die Prämierung der Hansestadt als Literaturstadt Bremen. Das Sterben der Buchhandlungen hört nicht auf. Vor Jahren hat die traditionsreiche Buchhandlung Leuwer in Bremen zugemacht, jetzt schließt Otto & Sohn. Da bleibt im Ort nur noch Thalia, nicht die Muse der komischen Dichtung und der Unterhaltung, die Ladenkette. Aber wozu braucht man Buchhandlungen? Lesen tut der Bremer ja nicht so gerne, Klaus Groth wird das erfahren, wenn er eine Bremerin heiratet. Und schon vorher hat Friedrich Engels, Volontär in der Bremer Leinenhandlung H. Leupold, konstatiert: Eine Teilnahme an der fortlaufenden Literatur des Gesamtvaterlandes findet hier nicht statt: Man ist so ziemlich der Ansicht, dass mit Goethe und Schiller die Schlusssteine in das Gewölbe der deutschen Literatur gelegt seien, und lässt allenfalls die Romantiker noch für später angebrachte Verzierungen gelten. Und im gleichen Jahr 1840 sagte Arnold Duckwitz: Ein Lesen, Studieren und Forschen ohne praktischen Zweck ist hier nicht zu Hause und muss da gesucht werden, wo man die Zeit hat.

Die Nachricht von der drohenden Schließung der Buchhandlung hat Aufsehen erregt, auch über Bremen hinaus. Jan Böhmermann hat in seinem Podcast  geschrieben: Otto & Sohn ist eine Institution. Wenn wir solche Buchhandlungen verlieren, verlieren wir ein Stück unserer Kultur und Gemeinschaft. Vielleicht gibt es noch eine klitzekleine Chance, dass Martin Mader das Geschäft nicht im August schließen muss.

Wenn das mit dem Sterben der Buchhandlungen so weitergeht, dann wird sich meine schöne Buchhändlerin nach einem neuen Beruf umsehen müssen.

Die Buchhandlung Otto & Sohn war schon häufiger in diesem Blog, so in den Posts die örtlichen Buchhandlungen, Nobelpreisträger, Literaturstadt Bremen, silvae: Wälder: Lesen, Eine Liebe von Swann, Geistiges Bremen und Buchhändler


Donnerstag, 23. Januar 2025

weiße Reiher

Derek Walcott wurde am 23. Januar 1930 in der Karibik geboren. Er hat alle Orden bekommen, die man da bekommen kann: den Order of the Caribbean Community, das Trinity Cross und den Order of St. Lucia. Die letzten beiden Orden hatte Queen Elizabeth, die auch Queen of St Lucia war, in den 1980er Jahren gestiftet. Die Insel ist zwar seit 1979 unabhängig, ist aber im englischen Commonwealth geblieben. Wir sind in einer Gegend der Welt, wo wir mit den Posts Vaterlandsverräter? und Dido schon einmal waren. Die Gegend, aus der die beste Baumwolle der Welt für Oberhemden kommt. Und einer Gegend, aus der viele Nobelpreisträger kommen. Nicht nur Derek Walcott, sondern auch V.S. Naipaul, den die Königin ebenso wie Walcott zum Ritter des Trinity Cross geschlagen hat. Derek Walcott hat in Oxford studiert, und Dichter wie T.S. Eliot und Ezra Pound waren seine Vorbilder. Dass er Dichter werden wollte, das wusste er schon früh: 

Forty years gone, in my island childhood, 
I felt that the gift of poetry had made me one of the chosen,
that all experience was kindling to the fire of the Muse













Sir Derek Walcott (den Sie hier in einem langen Interview kennenlernen können) war erstaunlicherweise noch nie in diesem Blog, deshalb soll es heute an seinem Geburtstag zwei Gedichte von ihm geben. Das erste stammt aus seinem Gedichtband White Egrets, für den er 2010 den T. S. Eliot Prize bekam:

White Egrets VI

I hadn’t seen them for half of the Christmas week,
the egrets, and no one told me why they had gone,
but they are back with the rain now, orange beak,
pink shanks and stabbing head, back on the lawn
where they used to be in the clear, limitless rain
of the Santa Cruz valley, which, when it rains, falls
steadily against the cedars till it mists the plain.
The egrets are the colour of waterfalls,
and of clouds. Some friends, the few I have left,
are dying, but the egrets stalk through the rain
as if nothing mortal can affect them, or they lift
like abrupt angels, sail, then settle again.
Sometimes the hills themselves disappear
like friends, slowly, but I’m happier
that they have come back, like memory, like prayer.

Sie können hier Derek Walcott hören, wie er das Gedicht vorliest (ab 7:44). Und ich habe auf dieser Seite eine Übersetzung des Gedichts von Werner von Koppenfels, der für seine Übersetzung Weiße Reiher verdientermaßen 2011 den Preis der Stadt Münster für Internationale Poesie bekommen hat. Und wenn Sie die Gedichte im Original lesen wollen, habe ich dafür hier auch eine.Seite. Die Gedichte handeln von der Schönheit der Natur, von Liebe und Kunst. Die weißen Reiher können für alles stehen. Auch für das weiße Papier, auf dem der Dichter schreibt:  

Wir teilen einen Trieb, suchen heißhungrig Futter 
für meinen Feder Schnabel, spießen Insekten zuckend 
wie Hauptwörter und schlingen sie, die Spitze liest 
im Schreiben, schüttelt ärgerlich ab, was der Schnabel verwirft. 
Auswahl ist, was die Reiher lehren 
auf der weit offenen Wiese, kopfnickend, während sie, 
zielstrebig stumm, sprachlose Botschaft lesen.

Walcott ist achtzig Jahre alt, als seine Gedichtsammlung White Egrets erscheint, sein Älterwerden und der Gedanke an den Tod sind immer in den Gedichten:

be grateful that you wrote well in this place
let the torn poems sail from you like a flock
of white egrets in a long last sigh of relief .

Lassen wir die weißen Reiher einmal beiseite, ich habe noch ein Gedicht von Walcott für Sie. Es ist wahrscheinlich sein bekanntestes Gedicht, es findet sich hundertfach im Internet. Es ist ein Gedicht, das vielen Menschen den Mut gegeben hat, sich in einer Lebenskrise wiederzufinden:

Love after Love

The time will come
when, with elation
you will greet yourself arriving
at your own door, in your own mirror
and each will smile at the other’s welcome,
and say, sit here. Eat.

You will love again the stranger who was your self.
Give wine. Give bread. Give back your heart to itself,
to the stranger who has loved you all your life,
whom you ignored for another,
who knows you by heart.

Take down the love letters from the bookshelf,
the photographs, the desperate notes,
peel your own image from the mirror.
Sit. Feast on your life.


Ich weiß nicht, von wem diese deutsche Übersetzung ist, sie steht anonym im Internet, aber es ist besser als gar nichts:

Die Zeit wird kommen,
da du voller Freude dich selbst 
an deiner eigenen Tür begrüßen wirst, 
in deinem eigenen Spiegel,
und lächelnd sagst,
setz dich hier hin. Iss.

Du wirst den Fremden wieder lieben, der du einmal warst.
Gib Wein. Gib Brot. Gib dein Herz zurück, 
dem Fremden, der dich dein Leben lang geliebt hat,
den du wegen eines anderen ignoriert hast, 
der dich in- und auswendig kennt.

Nimm sie herunter vom Bücherregal,
die Liebesbriefe, die Fotos, die verzweifelten Notizen.
Erkenne Dich selbst wieder in deinem Spiegelbild.
Lass Dich nieder. Feiere Dein Leben.

Dienstag, 21. Januar 2025

American Gothic


Der amerikanische Maler Grant Wood, der hier einen ausführlichen Post hat, hat mit American Gothic ein Bild gemalt, das immer wieder persifliert und parodiert worden ist. Das Bild ist in unserem Bildergedächtnis, da wo wir unseren Bilderspeicher haben, der nicht auf eine Festplatte angewiesen ist. Es heißt American Gothic und zeigt die Schwester des Malers und seinen Zahnarzt vor einem Holzhaus im einem Stil, den man in Amerika Carpenter Gothic nennt. Das Haus sieht ein wenig so aus wie das Haus, in dem Grant Wood aufwuchs, aber es ist ein anderes Haus, das Wood durch Zufall entdeckte. Es steht noch, und man kann sich davor photographieren lassen.

Der englische Zeichner und Buchillustrator Christopher Barry Riddell, der als Cartoonist für den Observer arbeitet, hat vor wenigen Tagen im Observer eine neue Variante von American Gothic veröffentlicht. Auf dem Bild sehen wir Donald Trump und Elon Musk, die ein neues Amerika schaffen wollen. Beachten Sie bitte das obere Fenster des Hauses.Cartoons werden Trumps Amtszeit begleiten. Der Observer versah den Cartoon mit der Frage: What will become of liberty when these two take control of the United States of America? Diese Frage wird bleiben.

Vor vier Jahren hat Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden ihr Gedicht The Hill We Climb vorgelesen, in dem sie auch den Sturm auf das Kapitol nicht ausgelassen hat. Was in diesen Versen steht, hat immer noch Bedeutung:

We’ve seen a force that would shatter our nation rather than share it,
Would destroy our country if it meant delaying democracy.
And this effort very nearly succeeded.
But while democracy can be periodically delayed,
It can never be permanently defeated.
In this truth, in this faith we trust.
For while we have our eyes on the future,
History has its eyes on us.