Montag, 18. Oktober 2021

The Whale


Der Roman The Whale, der heute vor einhundertsiebzig Jahren bei Richard Bentley in London erschien, bestand aus drei Bänden, die so genannten three-decker waren damals große Mode. Den viktorianischen three-decker hatte Bentley quasi erfunden. Das hatte auch praktische Gründe, Leihbibliotheken liebten es, wenn der Roman in drei Teilen erhältlich ist. Die Bände dieses Romans sind realitiv klein (115 x 188 mm), Verleger nennen das ein Duodez Format. Bentley druckte fünfhundert Exemplare des Romans, eins davon ist vor Jahren bei Sotheby's für 137.500 Dollar verkauft worden. Eine amerikanische Erstausgabe kostet heute ungefähr 60.000 Dollar, als der Roman erschien, konnte man ihn für einen Dollar und fünfzig Cent haben. Den Roman The Whale, kennen wir heute als >Moby-Dick. Wenn Sie diesen Link anklicken, landen Sie in der besten Ausgabe von Moby-Dick, die es im Internet gibt. Und sie ist als Text zuverlässiger als die englische Erstausgabe, die Setzer und Lektoren von Bentley haben an Melvilles Text herumgepfuscht. Und das letzte Kapitel, den Epilogue, haben sie zu drucken vergessen. In dem Epilog steht, dass der Erzähler Ishmael den Untergang der Pequod überlebt hat, das erfuhren die englischen Leser im Jahr 1851 nicht. Dass Moby-Dick in der Londoner Erstausgabe The Whale heißt, daran ist Richard Bentley aber nicht schuld. Das hat sich Melville erst in der letzten Minute überlegt, und der Titel findet sich zuerst in einem Brief von seinem Bruder Allan an Richard Bentley im September 1851. Wenn der Brief in London ankommt, ist The Whale schon gedruckt.

Erst einhundert Jahre nach dem Erscheinen des Romans gab es eine wissenschaftlich seriöse Ausgabe, die von Luther S. Mansfield und Howard P. Vincent herausgegeben worden war. Die nächsten relevanten Ausgaben waren 1967 die Norton Critical Edition von Harrison Hayford und Hershel Parker und 1988 der sechste Band der Northwestern-Newberry Edition, herausgegeben von Harrison Hayford, G. Thomas Tanselle und Hershel Parker. Parker, der 1967 seine Doktorarbeit über Melville geschrieben hat, hat 2012 eine zweibändige Melville Biographie veröffentlicht. Und er hat fünfzig Jahre nach der ersten Norton Critical Edition diese noch einmal überarbeitet, diese Ausgabe bleibt der wichtigste kritische Text von Moby-Dick. Hershel Parker ist im hohen Alter auch noch Blogger geworden, das finde ich sehr witzig. Ich bin natürlich einer seiner Leser. Mein persönlicher Lieblingstext von Moby-Dick ist die von Harold Beaver kommentierte Penguin Ausgabe: 600 Seiten Text, über 300 Seiten Kommentar, unglaublich. Ich habe gerade bei Amazon ein Exemplar zum Preis von 2,21€ gesehen. Lohnt sich unbedingt.

Es gibt eine Vielzahl von deutschen Übersetzungen von Melvilles Moby-Dick, von denen die meisten so schlecht sind, dass man sie nicht zu erwähnen braucht. Die aber immer noch nachgedruckt werden. Lesen Sie doch einmal den Post Fritz Güttinger, dann wissen Sie mehr. Wenn Sie antiquarisch noch Güttingers Übersetzung (Manesse) finden können, dann kaufen Sie sie. Ansonsten bietet sich die dank der Initiative des Amerikanisten Daniel Göske bei Hanser entstandene Übersetzung von Matthias Jendis an. Wenn man nach einem Buch sucht, in dem beinahe alles zu Melvilles Leben und Werk steht, dann kann ich nur Andrew Delbanco empfehlen. Gibt es auch in deutscher Sprache bei Hanser. Es ist so geschrieben, dass es von jedermann gelesen werden kann. Das Buch hat eine Rezension bei Amazon, nach der Delbanco angeblich Journalist ist. War er nie, er hat einen Doktortitel von Harvard und war jahrzehntelang Professor an der Columbia University. One can hardly imagine a more artful or succinct biography of Herman Melville, one that makes his fiction seem not only relevant but urgent, presenting the familiar facts in a fashion that makes the life and work luminously comprehensible, schrieb Jay Parini (dem wir auch das schöne Buch The passages of Herman Melville verdanken) im Guardian. Glauben Sie lieber ihm und nicht dem Amazon Rezensenten. 

Der deutsche Wikipedia Artikel, der gegenüber dem englischen Artikel in Länge und Qualität stark abfällt, kennt Delbanco nicht. Er offeriert aber ein Buch von Eugen Drewermann, dazu möchte ich jetzt lieber nichts sagen. Im englischen Artikel finden sich unter der Sekundärliteratur die repräsentativen Namen der Melville Forschung. Aber kaum einer diesen Namen schafft es in den deutschen Artikel. Wo den Beiträgern eines Projekts (das keinen Amerikanisten in seinen Reihen hat), das in der Neuen Rundschau veröffentlicht wird, viel Platz eingeräumt wird, es aber keinen Platz für Newton Arvin (aus dessen Nachlaß ich zwei Bücher besitze), F.O. Matthiessen oder Charles Olson hat. Das kann man vom Aspekt dessen, was ein Lexikon bieten soll, nur als armselig bezeichnen. Bei mir können Sie übrigens hier Olsons >Call me Ishmael im Volltext lesen.

Last night dined with M ' Bentley, and had a very pleasant time indeed. I begin to like him much. He seems a very fine frank off-handed old gentleman, schreibt Melville im Dezember 1849. Normalerweise fand er keinen Verleger nett, alles nur tradesmen, haben keinen Verstand, keinen Sinn für wirkliche Literatur. Anfang 1851 hatte Melville Richard Bentley angekündigt: In the latter part of the coming autumn I shall have ready a new work ... a romance of adventure, founded upon certain wild legends in the Southern Sperm Whale Fisheries and illustrated by the authors own personal experience, of two years & more as a harpooneer ... I do not know that the subject treated of has ever been worked up by a romancer; or, indeed, by any writer in any adequate manner. Ich weiß nicht, was sich Bentley unter dieser Inhaltangabe vorgestellt hat. 

Aber romance of adventure und certain wild legends sind natürlich so Begriffe, die ein Verleger versteht. Wenn dieser Melville ihm doch wieder so etwas schreiben würde wie Typee (bei seinem Konkurrenten John Murray erschienen), einen Roman über Südsee, Menschenfresser und nackte Südseeschönheiten. Das kann man verkaufen. Aber dann hat er dieses scheußliche Mardi geschrieben, hat sich überhaupt nicht verkauft. Immerhin konnte man Redburn und White-Jacket verkaufen. Mit dem blöden Dickens hat Bentley sich schon vor Jahren verkracht, aber dass er 1834 die Rechte von Bulwer-Lyttons Last Days of Pompeii gekauft hat, das war schon ein Geistesblitz. Das Buch verkauft sich nach zwanzig Jahren immer noch. Und dass er 1832 von dem Bruder und der Schwester von Jane Austen die Rechte für alle ihre Romane gekauft hat, dass war auch ein schöner Coup. Da hatte es nach ihrem Tod 1817 keine Neuauflage mehr gegeben, aber seit er 1833 damit herauskommt, verkauft sich das Zeug. Und dann hat er ja noch diesen amerikanischen Gentleman James Fenimore Cooper als Autor. Was der schreibt, kann man immer gut verkaufen. Bentley hat auch gewisse Hoffnungen auf diese romance of adventure. Melville bekommt einen Vorschuss von 150 Pfund Sterling. Das ist 1851 viel Geld.

Melvilles amerikanischer Verleger Harper & Son bekommt im November 1851 eine werbemäßige Unterstützung, mit der er nicht rechnen konnte. Am 5. November meldet die New York Times, dass das Schiff Ann Alexander von einem Wal gerammt wurde und untergegangen ist. It is really & truly a surprising coincidence - to say the least. I make no doubt it is Moby Dick himself, for there is no account of his capture after the sad fate of the Pequod about fourteen years agon. - Ye Gods! what a Commentator is this Ann Alexander whale. What he has to say is short & pithy & very much to the point. I wonder if my evil art has raised this monster, schreibt Melville in einem Brief vom 7. November 1851. Harper & Son verkaufen in den nächsten Jahrzehnten 3.715 Exemplare von Moby-Dick, or the Whale, Melville verdient daran 556 Dollar. Als er 1891 stirbt, ist seit zwanzig Jahren kein Buch von ihm mehr lieferbar. Bei seinem Tod konnte die New York Times den Romantitel Moby-Dick nicht einmal richtig schreiben, entschuldigte sich aber Tage später in ihrem Nachruf dafür. Man hatte den Zollbeamten aus dem New Yorker Hafen, der früher einmal Romane schrieb, völlig vergessen.

Es dauert Jahrzehnte, bis man ihn wiederentdeckt, bis er von an absolutely forgotten man zu Amerikas wichtigstem Schriftsteller wird, bis Leslie A. Fiedler ihn our truest contemporary, who has revealed to us the traditional theme of the deepest American mind nennen kann. Es ist das Werk zweier Männer, des Amerikaners Raymond Weaver und des Engländers Michael Sadleir. Carl van Doren, der Herausgeber von The Nation hatte Raymond Weaver gefragt, ob der nicht etwas zum hundertsten Geburtstag Melvilles schreiben könne. Weaver hielt das für die einfachste Sache der Welt, musste aber in der Bibliothek feststellen, dass man zwar einiges an Werken Melvilles besaß, dass es aber keine Sekundärliteratur gab. Nichts, gar nichts. Weaver schrieb seinen Artikel für The Nation, in dem er über Moby-Dick sagte: Born in hell-fire, and baptized in an unspeakable name, Moby-Dick, or the Whale (1851), reads like a great opium dream. Die Zeitschrift The Nation ist immer noch stolz auf den Artikel, wie Katrina vanden Heuvel, die heutige Herausgeberin, schreibt.

Raymond Weaver bleibt bei dem Thema Herman Melville und veröffentlicht 1921 die erste Biographie Melvilles, Herman Melville, mariner and mystic (hier im Volltext). Bei der Oxford University Press erschien 1920 eine Ausgabe von Moby-Dick mit einem Vorwort von Viola Meynell (der Tochter von Alice Meynell). Aber das ist nicht genug für den Büchersammler und Verleger Michael Sadleir, der gerade Direktor des englischen Verlags Constable geworden ist. This long and careful book is based on the papers and information of the Melville family and represents the sum of present-day knowledge of Melville's life and ideas, schreibt er in >Excursions in Victorian Bibliography (hier im Volltext) über das Buch von Weaver. Melville ist der einzige Amerikaner, den Sadleir in seinem Buch behandelt: A very minor result of the same Melville boom is his inclusion in this book. Save in the matter of date, he has little in common with the other writers here treated. They are of Victorianism Victorian; he, if he belongs to any period or to any genealogy, is of the ageless, raceless family of the lonely giants. Da ist er nun unser Melville, in der raceless family of the lonely giants. 

Sadleir sorgt dafür, dass die englischsprachige Welt den lonely giant kennenlernt: zwischen 1922 und 1924 erscheinen bei Constable in London zwölf Bände der Standard Edition, Herausgeber sind  Raymond Weaver und Willard Thorp. Weaver arbeitet auch für die New Yorker Verleger Albert und Charles Boni, wo er 1925 einen Moby-Dick herausgibt. 1925 ist das Jahr, in dem William A. Kittredge, Designer der Lakeside Press, den Künstler Rockwell Kent beauftragt, für ihn eine illustrierte Ausgabe von Moby-Dick zu gestalten. Die kommt 1930 auf den Markt, drei Bände in einem Aluminiumschuber, limitiert auf tausend Exemplare. Kittredge findet es the greatest book done in this generation. Es gilt heute als eins der schönsten Bücher der 20. Jahrhunderts.

Es wird auch die bekannteste Ausgabe von Moby-Dick. Robert Frost schreibt sie mit den Zeilen Oh, you mean Moby Dick By Rockwell Kent that everybody's reading in A Masque Of Mercy hinein. Random House will das Buch mit den Illustrationn unbedingt haben, es erscheint im selben Jahr bei ihnen in einer einbändigen Ausgabe. Das weiß ich, weil die bei mir im Regal steht. So ein Buch kostet heute schon richtiges Geld, ein amerikanischer Händler will 1.276 Euro dafür haben - für die Lakeside Edition muss man mindestens 5.000 Euro auf den Tisch legen. Es ging Random House nicht um Melville, es ging ihnen nur darum, an die Illustrationen von Rockwell Kent zu kommen. In ihrer Eile auf den Markt zu kommen, vergaßen sie allerdings eins: den Namen des Autors. We were so excited about it, we forgot to put Herman Melville's name on the cover, so our edition of Moby Dick, to the vast amusement of everybody ('The New Yorker' spotted it), said only: 'Moby Dick, illustrated by Rockwell Kent', hat der Verlagschef Bennet Cerf gesagt. Wenn Sie preiswerter an die 269 Bilder von Rockwell Kent kommen wollen, müssen sie sich die Zweitausendeins Ausgabe kaufen, da kriegen Sie den Roman allerdings in der Übersetzung von Friedhelm Rathjen, und die würde ich nie empfehlen. Sie können sich aber auch >hier durchklicken. Die Lakeside Ausgabe und die Random House Ausgabe mit den Illustrationen von Rockwell Kent gehören mit zum Melville Revival der zwanziger Jahre, dank dieser Bücher wird der Roman Moby-Dick bekannter, als er je zuvor war.

Es wird beim Constable Verlag nicht bei den zwölf Bänden bleiben, es kommen noch vier dazu. Band dreizehn ist eine literarische Sensation, es ist die Novelle Billy Budd, die Melville in den letzten Jahren vor seinem Tod geschrieben hatte. Raymond Weaver hatte das Manuskript 1919 unter den Papieren Melvilles gefunden. Weavers Version des Textes gilt heute als überholt, er hatte Schwiergkeiten mit Melvilles Schrift und las vieles falsch. Auch Melvilles Ehefrau, die immer die Manuskripte ihres Mannes abschrieb, hatte Schwierigkeiten, seine Schrift zu lesen. 1962 veröffentlichten die Melville Forscher Harrison Hayford und Merton Sealts eine neue Version, die als Grundlage für die Textausgabe war, die G. Thomas Tanselle im Jahre 2017 als fünfzehnten Band der Melville Gesamtausgabe der Northwestern University Press veröffentlichte.

Die Literaturgeschichte hat für all das, was jetzt nach 1919 passiert, den Namen The Melville Revival gefunden. Den Titel hat auch der Aufsatz meines Freundes Sanford Marovitz (hier mit seiner Frau Nora) in A Companion to Herman Melville. Ich verdanke Sandy viel, er hat mir seine Bücher Melville as Poet und Melville 'Among the Nations' geschenkt. Und den gelben Kugelschreiber der Kent State University, der immer vor mir auf dem Schreibtisch liegt. Neben dem gläsernen Briefbeschwerer von Erasmus. Ich wollte Sandy mein letztes Exemplar von der Schleswiger Moby-Dick Ausstellung schenken, aber er sagte, er hätte das schon. Alle Melville Forscher in Amerika besaßen ein Exemplar dieser Ausstellung zur Zweihundertjahrfeier der USA, und Sandy war schließlich mal Direktor der Melville Society gewesen.

Mein Blog SILVAE ist voller Posts zum Thema Herman Melville. Meine Internetadresse hat ihren Namen nach dem ersten Kapitel von Moby-Dick. Alles, was mit dem Walfang zu tun hat, ist mir von klein auf vertraut. Mein Heimatort war im 19. Jahrhundert eine kleine Art von Nantucket. Hier hatten sich Kapitäne zur Ruhe gesetzt, die mit dem Walfang reich geworden waren. Den Utkiek am Hafen zierten die Kiefer eines Wals. Und unser Heimatmuseum war voll von dem, was die Kapitäne von Walfang und Robbenschlag mitgebracht hatten. Als mein Opa pensioniert war, übernahm er manchmal sonntags die Aufsicht im Heimatmuseum. Um neun schloss er die Tür auf. Um zehn kamen die ersten Besucher. Ich hatte eine Stunde Zeit im Museum zu spielen. Ich habe jede Harpune in der Hand gehabt, und ich kenne jede Lithographie von Ambroise Louis Garneray, auf der Pêche De La Baleine steht.

An Melville zweihundertstem Geburtstag gab es hier den Post kein Melville am 1. August, in dem sich Links zu den wichtigsten Melville Posts in diesem Blog finden. Ich war einen Tag Blogger, da gab es hier den ersten Post zu Herman Melville. Es war ein kurzer Post, ich wusste noch nicht, wieviel man als Blogger pro Tag schreiben durfte, ich stelle ihn mal heute noch einmal hier hin:

Der kleine Pip ist der einzige, für den das erkaltete Herz von Kapitän Ahab noch letzte menschliche Gefühle zeigt. Die Mannschaft der Pequod hält Pip für wahnsinnig. Es wäre besser, wenn sie Ahab für wahnsinnig halten würden. Der kleine Pip ist wahnsinnig, seit er über Bord gefallen ist und man ihn allein im Pazifik treiben ließ. Der kleine Pip hat in der Tiefe des Ozeans die Füße Gottes gesehen, wie sie den Webstuhl der Welt treten. Und er hat davon erzählt, deshalb hält man ihn für verrückt: So man's sanity is heaven's sense; and wandering from all mortal reason, man comes at last to that celestial thought, which, to reason, is absurd and frantic; and weal or woe, feels then uncompromised, indifferent as his God. Melville hat seltsame Dinge aus der Bibel herausgelesen. Das hat seine wenigen zeitgenössischen Leser wahrscheinlich mehr verstört als seine komplizierte Syntax.

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