Montag, 28. Februar 2011

Henry James


So kennen wir ihn eigentlich nicht. Das ist Henry James als junger Mann. Das Bild wurde 1862 von John La Farge gemalt. In Newport. Das ist jetzt eine sehr vornehme Gegend. Die Vanderbilts, Wideners und Astors haben hier Sommerhäuser. Und die Familie von Henry James wohnt hier, John La Farge, der die Schwester der Malerin Lilla Cabot Perry geheiratet hat, auch manchmal. Die amerikanische High Society des Gilded Age ist natürlich in die Literatur gewandert, Edith Wharton (wenn man so will eine Schülerin von Henry James) hat das gesellschaftliche Leben in Newport in ihrem Roman The Age of Innocence beschrieben. Henry James kennt den Maler, denn John La Farge ist mit seinem Bruder befreundet. Der ist noch nicht der berühmte Psychologe und Philosoph William James, der studiert damals noch Malerei.

So kennen wir Henry James. Das Bild von John Singer Sargent aus dem Jahre 1913 (1915) hängt heute in der National Portrait Gallery London. Henry James hat es immer geliebt, all large and luscious rotundity, by which you may see how true a thing is, schreibt er an Rhoda Broughton (die Nichte von Sheridan Le Fanu). Beleibtheit ist jetzt ein Statussymbol. Es ist eine stolze Pose, in der er sich malen lässt. Dies könnte ebenso das Bild eines robber baron des Gilded Age sein. Es ist eigentlich ein sehr konventionelles Bild von John Singer Sargent. Es hat nichts von dieser expressiven quirkiness seiner beiden Portraits von Robert Louis Stevenson.

Sargent wollte das Bild nicht malen, er hatte sein Studio in London schon vor Jahren für die Öffentlichkeit geschlossen. Das Portraitieren der Reichen und Schönen der Welt, mit dem er so erfolgreich war, ekelte ihn langsam an. Er war jetzt Landschaftsmaler geworden. Doch dieser Auftrag kam von Henry James' Freunden in England, 269 insgesamt, die dafür 500 Pfund für das Geschenk zum siebzigsten Geburtstag gesammelt hatten (was damals sehr viel Geld war. Die einzelne Spende sollte fünf Pfund nicht überschreiten). Und Henry James kannte er sein Leben lang. Der hatte sich immer als sein großer Gönner aufgespielt, seit er ihn 1884 kennengelernt hatte: The only Franco-American product of importance here strikes me as young John Sargent the painter, who has high talent, a charming nature, artistic and personal, and his civilized to his finger-tips. He is perhaps spoilable - though I don't think he is spoiled. But I hope not, for I like him extremely.

Henry James wollte, als er davon hörte, den ganzen Plan mit dem Bild zuerst verhindern, fügte sich dann aber. Verhindert hat er allerdings einen Plan von Edith Wharton, unter den amerikanischen Freunden (und da ging es um sehr viel höhere Spenden, nämlich mindestens 500 $) für ein Automobil zu sammeln. Was soll er mit einem Automobil? Edith Wharton kann Auto fahren (sie ist mit dem Auto durch ganz Frankreich gefahren), Henry James nicht. Edith Wharton hat Henry James häufig durch England kutschiert. In ihrer Autobiographie A Backward Glance hält sie eine Episode fest, die die Langatmigkeit des Schriftstellers sehr schön illustriert:

The most absurd of these episodes occurred on another rainy evening when James and I chanced to arrive at Windsor long after dark. […] While I was hesitating and peering out into the darkness James spied an ancient doddering man who had stopped in the rain to gaze at us. ‘Wait a moment, my dear—I’ll ask him where we are’; and leaning out he signalled to the spectator.
     ‘My good man, if you’ll be good enough to come here, please; a little nearer—so,’ and as the old man came up: ‘My friend, to put it to you in two words, this lady and I have just arrived here from Slough; that is to say, to be more strictly accurate, we have recently passed through Slough on our way here, having actually motored to Windsor from Rye, which was our point of departure; and the darkness having overtaken us, we should be much obliged if you would tell us where we now are in relation, say, to the High Street, which, as you of course know, leads to the Castle, after leaving on the left hand the turn down to the railway station.’
     I was not surprised to have this extraordinary appeal met by silence, and a dazed expression on the old wrinkled face at the window; nor to have James go on: ‘In short’ (his invariable prelude to a fresh series of explanatory ramifications), ‘in short, my good man, what I want to put to you in a word is this: supposing we have already (as I have reason to think we have) driven past the turn down to the railway station (which in that case, by the way, would probably not have been on our left hand, but on our right) where are we now in relation to…’
     ‘Oh, please,’ I interrupted, feeling myself utterly unable to sit through another parenthesis, ‘do ask him where the King’s Road is.’
     ‘Ah—? The King’s Road? Just so! Quite right! Can you, as a matter of fact, my good man, tell us where, in relation to our present position, the King’s Road exactly is?’
     ‘Ye’re in it’, said the aged face at the window
.

So sehr sich Sargent am Anfang von der Freundschaft Henry James' geschmeichelt fühlt, der sein Protegé auch in jeder öffentlichen Diskussion (zum Beispiel bei der um das Bild von Madame X) verteidigt, so sehr geht ihm der alte Besserwisser mit den Jahren auf die Nerven. Gut, Henry James hatte ihm den Weg in die englische High Society geebnet, und sein Artikel in Harper's Magazine war für die Karriere förderlich, aber Sargent wünscht sich doch, dass dieses Gluckenverhalten von James endlich mal aufhört. Henry James fühlt sich dazu berufen, den von Sargent gemalten Personen vor den Sitzungen Ratschläge zu erteilen. So Mrs Mahlon Sands (oben), der er schrieb: Cultivate indifference...be as difficult for him as possible; and the more difficult you are the more the artist will be condemned to worry over you, repainting, revolutionizing, till he, in a rage of ambition and admiration arrives at the thing. Sie hält sich an diese Ratschläge, und das, was Henry James hier empfiehlt, können Frauen ja auch gut. Und John Singer Sargent denkt sich, was ist bloß mit dieser Tussi los?

Nein, Sargent geht diesen Auftrag mit sehr gemischten Gefühlen an, die erste von neun Sitzungen wird im Mai 1913 sein. Da war der Geburtstag schon vorbei, das erste Geschenk für das Geburtstagskind war eine goldene Schale. Passend für jemanden, der The Golden Bowl geschrieben hat. Mit der Überreichung der goldenen Schale, die eigentlich nur etwas ist, was die Engländer einen porringer nennen (und eigentlich ist sie auch nur aus Silber), wird auch die Schenkung des Portraits angekündigt. Für die sich James Bedingungen vorbehält: es soll nur eine Leihgabe sein, nach seinem Tod soll es dem englischen Volk gehören. Henry James lebt seit Jahrzehnten in England und wird 1915 offiziell ein Engländer werden. Deshalb hängt es heute in der National Portrait Gallery. Er hat einmal gesagt However British you may be, I am more British still. Wenn das Portrait in der National Portrait Gallery hängt, dann hat er das auf jeden Fall bewiesen.

Sargent hat auch eine Bedingung. Wenn ihm selbst das Bild nicht gefällt, behält er sich vor, es zu vernichten. Er wird es nicht tun, das Bild gilt heute als eins seiner Hauptwerke. Die 500 Pfund behält Sargent nicht. Er gibt sie dem jungen Bildhauer Francis Derwent Wood, damit der eine Büste von Henry James anfertigt. Dieses Photos ist wahrscheinlich im Studio des Bildhauers entstanden. Das würde auch die Kleidung von James erklären, der ja sonst ein Musterbeispiel für korrekte Kleidung ist. Das Photo ist aus dem gleichen Jahr wie das schmeichelhafte Portrait von Sargent. Das Gesicht von James wirkt hier aufgeschwemmt. Wenn wir in das Tagebuch von 1913 schauen, finden wir die Namen von einem halben Dutzend Ärzten, die die Angina pectoris und das Lungenödem des Patienten in den Griff zu bekommen versuchen.

Sargent hat noch eine zweite Bedingung: Henry James muss zu jeder Sitzung einen Begleiter mitbringen, damit der sich mit James unterhalten kann. So kann sich Sargent auf das Malen konzentrieren und braucht sich keine Kommentare über das Wesen der Kunst von Henry James anzuhören. Also so etwas wie It is art that makes life, makes interest, makes importance... and I know of no substitute whatever for the force and beauty of its process. Henry James hat es nicht weit bis zu Sargents Studio in der Tite Street in Chelsea, er ist gerade in die Carlyle Mansions gezogen. Sie sind jetzt beinahe Nachbarn.

Die Kohlezeichnung (oben) hatte Sargent im Jahr zuvor von Henry James gemacht, er war nicht glücklich mit ihr (man fragt sich, warum eigentlich nicht?). Dieses Gemälde sollte und musste besser werden. In seinen Tagebüchern hat Henry James nichts über die Entstehung des Bildes festgehalten. Hier findet sich nur der Name des Malers und eine Uhrzeit. Am Dienstag, dem 24. Juni 1913 steht da: sat to Sargent for last time. Die 269 Gratulanten bekommen eine Photographie des Bildes, die von Sargent und James signiert wurde und dürfen es zum Ende des Jahres in einer privaten Ausstellung sehen. Henry James ist die drei Tage im Dezember, an denen das Bild gezeigt wird, in der Tite Street anwesend. Natürlich hat Sargent sein altes Studio behalten, auch wenn es jetzt eigentlich nicht mehr für Portraits gebraucht. Es ist vorher das Studio von Whistler gewesen

Wenn das Bild einer größeren Öffentlichkeit präsentiert wird, ist es sogleich Gegenstand eines Skandals. So meldet die New York Times am 5. Mai 1914: LONDON, May 4. -- One of THE NEW YORK TIMES'S correspondents chanced to be in Gallery No. 3 of Burlington House at 1:15 P.M. to-day, when an elderly militant suffragette slashed with a hatchet the presentation portrait of Henry James, by John S. Sargent, R.A., the celebrated American painter, which was acknowledged on all hands to be the greatest picture of this year's exhibition of the Royal Academy. Militante Suffragetten sind ja in dieser Zeit die Pest. Man fragt sich, ob die Hannah Duston des Jahres 1697, die Leslie Fiedler die Great WASP [White Anglo-Saxon Protestant] Mother of Us All genannt hat, wieder auferstanden ist. Die Dame gibt ihren Namen mit Mary Wood an, aber in Wirklichkeit heißt sie wohl Mary Aldham (auf dem Photo oben links). Den Bericht der Londoner Times kann man ☞hier nachlesen. John Singer Sargent wird die Leinwand reparieren und die Spuren des kleinen Hackebeils übermalen (aus dem Grunde habe ich oben zwei Jahreszahlen, 1913 und 1915, für das Portrait genannt).

Zwischen dem Portrait von La Farge und dem Portrait von Sargent liegt ein halbes Jahrhundert, liegt sein ganzes Schriftstellerleben. Und was für ein Werk! Romane (sehr lange Romane), Kurzgeschichten, Briefe, Tagebücher, Literaturkritik. Als ich so jung war wie Henry James auf dem Bild von La Farge, hatte ich eine schwere Henry James Phase, habe beinahe alles von ihm gelesen. Damals hatte ich noch nicht Fritz Güttingers wunderbaren Essay Gänseblümchen in Silbervasen (in dem Band Ein Stall voll Steckenpferde) gelesen, in dem es heißt: Für die wenigen, die Henry James lesen, ist er Gegenstand eines Kultes, der an geistige Selbstquälerei grenzt und schlechthin unbegreiflich ist. Und noch pointierter: Henry James ist entschieden, was auf  englisch ein acquired taste genannt wird, etwas, worauf jeder zuerst mit Widerwillen reagiert, um es nach langer, beharrlicher Selbstüberwindung schließlich doch genießbar zu finden (Beispiele: moderne Musik, Spinat, Frühaufstehen).

Wenn wir ihm auf dem Portrait von Sargent noch einmal in die Augen schauen (und die Assoziation mit dem Spinat vergessen - aber das werden wir nie mehr können!), wer ist er wirklich? Irgendwie erscheint er mir immer leicht blasiert und oberflächlich zu sein. Abschätzend, distanziert. my younger and shallower and vainer brother is already in the Academy, wird William James in seinem Brief schrieben, in dem er die Mitgliedschaft in der American Academy of Arts and Letters ablehnt. Selbst wenn er das spöttisch ironisch meint, irgendwas davon bleibt hängen. Ich habe diesen Satz nie vergessen, und ich lese das shallow und vain immer in das Gesicht von Henry James hinein.

Meine schwere Henry James Phase ist lange vorüber. Ich weiß, dass ich seine langen Romane kein zweites Mal lesen würde, da würde es sich eher lohnen, Prousts Recherche ein drittes Mal zu lesen. I can't read Henry James. I mean, literally, my brain gets about half-way through a tortuous sentence, and says 'stop wasting my time with this'. It's not perfect prose, I think he tries to express too much and his ability to communicate buckles under the strain schreibt ein Kommentator namens dellamirandola im einem Blog des Guardian. Vielleicht hat er (oder sie) Recht. Von Henry James' Zeitgenossen kann ich Thomas Hardy und Joseph Conrad wieder und wieder lesen, James nicht.

Und deshalb bin ich wahrscheinlich auch der Falsche, um Lesetips zu geben. Ich kann allerdings auf eine gute Henry James Seite im Netz hinweisen (und auf eine schöne John Singer Sargent Virtual Gallery). The Turn of the Screw, Daisy Miller und Portrait of a Lady muss man auf jeden Fall gelesen haben. Aber ich mochte damals auch The Asperns Papers und The Spoils of Poynton. Wenn man erst einmal angefangen hat, Henry James gut zu finden, wird man sich mit geistiger Selbstquälerei entschliessen, auch den nächsten und übernächsten Band zu lesen. Denn für das Suchtverhalten des Lesers gilt sicher der Vierzeiler, den John Bayley einmal irgendwo notiert hat:

In Heaven there'll be no algebra,
No learning dates or names,
But only playing golden harps
And reading Henry James.

Henry James ist heute vor 95 Jahren gestorben.

Sonntag, 27. Februar 2011

Leyendecker


Ich gucke mir diese Talkshows im Fernsehen oder den Polit-Talk eigentlich grundsätzlich nicht an. Aber in der letzten Woche habe ich einmal eine Ausnahme gemacht. Ich war vor einer Woche zehn Minuten bei Anne Will als Zuschauer. Die Sendung habe ich noch nie gesehen, ich merkte schnell, dass ich auch nie etwas verpasst hatte. Das intellektuelle Niveau war unterirdisch. Bei Frau Maischberger war das Niveau wesentlich höher, dafür sorgten Jutta von Ditfurth, Werner Schneyder und Arnulf Baring. Die beiden Bayern in dieser Runde, der unnachahmliche Norbert Geis und die ebenso unnachahmliche Frau von Bayern, zogen das Niveau ein wenig herunter. Man wünschte sich eigentlich, dass es in allen Parteien mehr Leute vom Kaliber eines Thomas Oppermann gäbe.

Und kaum war diese Sendung verklungen, da kam mit Hart aber Fair schon die nächste Diskussionsrunde. In der ich von jemandem namens Alexander Dobrindt erfuhr, dass er Altlateiner ist - was ist das bitte? - und einen Herrn namens Nikolaus Blome von der Bild Zeitung kennenlernte. Das ist das Blatt, das uns versichert, dass 87% der Deutschen hinter Herrn Guttenberg stehen. Und über den ich in einem Blog den schönen Satz Zyniker, wie Blome, sind für mich der Abfall einer Gesellschaft gelesen habe. Was mich aber irritierte, war die kleine Tafel, die von Zeit zu Zeit unter Hans Leyendecker von der Süddeutschen eingeblendet wurde und auf der Enthüllungsjournalist zu lesen war. Hätte sein Name und der Name der Zeitung nicht gereicht? Warum dieses Enthüllungsjournalist? Die Methoden der Bild Zeitung färben überall hin ab. Ich habe nichts gegen Herrn Leyendecker, ich lese ihn mit Interesse. Dass er vor Jahren die Blogger attackiert hat, habe ich gelesen, aber damals wußte ich noch gar nicht, was ein Blogger ist. Heute würde ich ihm das natürlich übel nehmen. Aber wenn wir Herrn Leyendecker und einige andere nicht hätten, hätten wir vielleicht schon italienische Verhältnisse.

Das Tagesgeschehen wurde natürlich auch in anderen Sendungen kommentiert. Im Norddeutschen Rundfunk beschrieb Udo in Frühstück bei Stefanie den Verlust seines Führerscheins mit den gleichen Worten, die Herr Dr. von Guttenberg beim Verlust seines Doktortitels fand. Das war schon sehr komisch. Udo ließ auch einen anderen Verlust nicht aus: das Ganze wird teuer für Guttenberg. Mindestens 28 Euro für 'nen neuen Perso.

Und Ulrich Priol nahm Herrn Pelzig in Neues aus der Anstalt den Hut vom Kopf - als der Priols Rede beinahe wortwörtlich wiederholt hatte - und setzte ihm dafür einen Doktorhut auf. Am Freitag versetzte Oliver Welke in seiner Heute Show dem ehemaligen Doktor strg+c. dann noch den kabarettistischen Todesstoß. Aber so nett alle Satire ist, es ging zuerst ja eigentlich um die Frage der Moral. Aber damit halten wir uns heutzutage nicht mehr lange auf. Was soll uns Kants kategorischer Imperativ, wenn uns diese Lichtgestalt aus Bayern, die neue Lady Diana der Regenbogenpresse, vormacht, wie man summa cum fraude zum Dr. jur. promoviert wird?

Die Absolution für die Sünden wird ja heute von der Bild Zeitung und Herrn Blome schnell erteilt, da hilft einmal in der Öffentlichkeit geheuchelte Reue. Ein Verfahren, das man aus Amerika importiert hat, wo es seit den Tagen der Puritaner und spätestens des Great Awakening en vogue ist. Das wird vorher ordentlich mit einem Berater geübt und dann aufgeführt. Da stehn die Amis ja drauf - ein paar Tränen verdrücken, bisschen was von Reue faseln und schwupps geht's weiter wie vorher, schreibt ein Kommentator im Internet, er meinte nicht die kriminellen US Banker, nicht Tiger Woods oder Bill Clinton mit ihren Sexaffären. Nein, das bezog sich auf das wilde Partyleben einer ehemaligen Miss USA. Die natürlich auch tränenreiche Reue zeigte. Aber das Muster bleibt immer das gleiche.

Doch so schaurig-schön die Boulevardisierung der Politik in der vergangenen Woche war, die Erheiterung über das, was ja eigentlich eine Tragödie ist, war für mich noch nicht zu Ende. Mein Freund Volker brachte mir die Süddeutsche Zeitung der letzten zehn Tage vorbei. Es war sehr instruktiv für das Studium der politischen Rhetorik, wie hier scheibchenweise von Tag zu Tag ein wenig von der Wahrheit ans Licht kam. Und wie sich scheibchenweise die Sprache des Stabsunteroffiziers d.R. (ein Titel, den er weiter führen darf) veränderte. Ich sehe da schon die ersten Dissertationen im Entstehen, die die politische Rhetorik Guttenbergs untersuchen und mit der ☞Checkers Rede von Richard Nixon und der ☞Ehrenwort Erklärung von Dr.Dr. Barschel vergleichen. Ich habe das Wort Tragödie im ersten Satz dieses Absatzes mit Bedacht gewählt. Die klassische Tragödie kennt die Fallhöhe, ein Begriff, der von den Kommentatoren bisher noch nicht verwendet wurde. Denn anders als im Drama ist das Scheitern des Helden in der Tragödie unausweichlich; die Ursache liegt in der Konstellation und dem Charakter der Figur. Der Keim der Tragödie ist, dass der Mensch der Hybris verfällt und dem ihm vorbestimmten Schicksal durch sein Handeln entgehen will. Haben Sie's gemerkt? Die letzten beiden Sätze (und nur diese) sind geklaut. Sie stehen im Wikipedia Artikel zur Tragödie.

Als ich mich über das Wort Enthüllungsjournalist unter dem Namen von Leyendecker ärgerte, fiel mir ein anderer Leyendecker ein. Nämlich Joseph Christian Leyendecker, der mit seinen Eltern von Montabaur in die USA auswanderte und zum bekanntesten Illustrator der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurde. Mit seinen Bildern habe ich heute diesen Post illustriert. Er ist, wenn man so will, ein Vorläufer von Norman Rockwell, und ich finde ihn eigentlich sehr interessant. Ich schreibe vielleicht noch einmal länger über ihn, wenn diese ganze schmutzige Guttenberg Affäre vorbei ist und der Baron sich der Verwaltung des Grund- und Forstbesitzes derer von und zu Guttenberg widmet. Und falls wir unbedingt Lichtgestalten brauchen, nehmen wir doch einfach diesen Harvard Studenten mit seinem schicken Rollkragenpullover.

Samstag, 26. Februar 2011

Fernandel


Heute vor vierzig Jahren ist der französische Schauspieler und Sänger gestorben. Der Komiker mit dem Pferdegesicht, wie ihn die deutsche Presse vor fünfzig Jahren nannte. Er hat eine Vielzahl von Rollen in Filmen gespielt, aber für alle Welt ist und bleibt er Don Camillo. Diese schönen Schwarzweißfilme nach den Romanen von Giovannino Guareschi. Der hatte Fernandel für die Rolle selbst ausgesucht. Der italienische Autor hat lange Zeit in der Nähe meiner Heimatstadt Bremen verbracht. Allerdings nicht freiwillig. Man hatte ihn als Kriegsgefangenen in Sandbostel eingesperrt. Sandbostel ist vierzig Kilometer von Bremen weg, im Kreis Rotenburg (Wümme). Da ist eine Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Wahrscheinlich haben die Nazis sich den Ort deshalb für ihr Stalag X-B ausgesucht. Es hat auch lange gedauert, bis der Ort sich seiner Vergangenheit gestellt hat. Den Verein, der die schreckliche Geschichte aufarbeiten will, gibt es erst seit wenigen Jahren.

Der englische General Brian Horrocks, der 1945 mit seinem XXX Corps Bremen erobert, wird in Bremen zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, welche Auswirkungen die Bombenangriffe der Allierten hatten. Sein Mitleid hält sich allerdings in Grenzen, weil er drei Tage später bei der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel auf KZ-ähnliche Verhältnisse trifft. Die englische Armee befreit beinahe 50.000 halbverhungerte Gefangene. Sir Brian Horrocks, der im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangener der Deutschen und der Russen war, wird in seiner Autobiographie A Full Life über dieses Erlebnis schreiben. Er wird den General der Infanterie Siegfried Rasp, der in den letzten Kriegsmonaten das Korps Ems kommandiert hat, bei der Kapitulation eiskalt behandeln. Der hat natürlich von all dem nichts gewusst, was da in der Nähe von Bremen passiert. Je höher die Besoldungsgruppe und die Verantwortung, desto weniger wissen die Beteiligten angeblich. Rasp wandert für drei Jahre in ein englisches Lager bei Münster, da kann er das Lagerleben kennenlernen. Horrocks wird alle Anwohner von Sandbostel und Umgebung zu Krankenpflege- und Aufräumarbeiten dienstverpflichten. Eigentlich wollte er Sandbostel und Umgebung niederbrennen. Vielleicht hätte er es tun sollen.

Und hier ist nun Guareschi gewesen. Sand und Heide, Moor und Einöde. Vielleicht hat er da seine Idee zu Don Camillo und Peppone gehabt. Seine Kinder Carlotta und Alberto Guareschi haben vor Jahren auf Einladung der Stiftung Lager Sandbostel den Ort besucht. Guareschi ist nicht der einzige Prominente, der das Lager überlebt. Louis Althusser, der französische Philosoph, der im Wahn seine Frau umgebracht hat, war auch hier. Das Lager hatte ihn aus der Bahn geworfen und schwerste psychische Schädigungen hinterlassen.

Da ist noch ein anderer Schriftsteller, der das Lager offenbar ohne jeden Schaden an Leib und Seele überlebt. Und das ist Léo Malet. Der als echter Surrealist in seiner sehr lesenswerten Autobiographie La vache enragée (dt. Stoff für viele Leben) seine achtzehn Monate in Sandbostel als eine sehr, sehr komische Zeit schildert. Für die er den Deutschen gar nicht wirklich böse sein konnte. Léo Malet wird uns diese wunderbaren Nestor Burma Romane bescheren. Die fängt er ziemlich zeitgleich mit Guareschis Don Camillo Erzählungen an zu schreiben. Wahrscheinlich ist schreiben jetzt das Beste, um Sandbostel loszuwerden.

Eigentlich ist der Zivilist Léo Malet durch Zufall nach Sandbostel geraten. Zuerst hatte ihn die französische Polizei wegen eines angeblich surrealistisch-leninistischen Komplotts festgenommen, aber nach kurzer Zeit aus dem Gefängnis entlassen. Beim Versuch, nach Paris zu kommen gerät er in eine deutsche Militärstreife. Ich trug einen hellen Einreiher, den ich mir von einem der besten Schneider in Paris hatte maßschneidern lassen. Er hatte nicht allzu arg unter seinem Aufenthalt im Gefängnis von Rennes gelitten. An den Füßen trug ich wunderschöne Wildlederschuhe in Herbstblattfarbe, eine unglaubliche Farbe, die ich später nie wieder fand. Jacques Prévert hatte sie mir geschenkt, als er eines Tages seine Garderobe sortierte. Herbstblattfarben! Jacques Prévert. Dieser Anzug und Préverts Schuhe landeten mit mir im Stalag. Dort nahm man sie mir ab... Das Ausrufezeichen hinter Herbstblattfarben! hat er wahrscheinlich deshalb gesetzt, weil ihn die Schuhe an Préverts berühmtestes Chanson Les feuilles mortes erinnerte:

Les feuilles mortes se ramassent à la pelle
Tu vois je n'ai pas oublié
Les feuilles mortes se ramassent à la pelle
Les souvenirs et les regrets aussi
Et le vent du nord les emporte
Dans la nuit froide de l'oublie
Tu vois je n'ai pas oublié
La chanson que tu me chantais


Wenn ich jetzt noch sagen könnte, dass Fernandel Préverts Les Feuilles Mortes gesungen hätte, dann hätte ich natürlich einen ganz tollen Schluss. Geht aber nicht, hat er nie gesungen. Aber Fernandel hat in Filmen gespielt, für die Prévert das Drehbuch geschrieben hat. Und in Marc Allégrets Film L'hôtel du libre échange (1934) summt er ein Chanson von Prévert. Aber eine Fernandel CD brauchen Sie sich nicht zu kaufen (ich habe eine), an Georges Brassens oder Yves Montand kommt er nicht ran. Witzig ist er, wie man ➱hier sehen kann, aber er ist kein großer Sänger. Aber immerhin hat er den Mut aufgebracht, 1939 ➱Francine zu singen. Da kann er ja eigentlich von Glück sagen, dass  er nicht in Sandbostel gelandet ist.

Freitag, 25. Februar 2011

Giovanni Morelli


Der Name Giovanni Morelli (hier links von Lenbach gemalt) sagt heute vielen nichts mehr, zu seinen Lebzeiten war das anders. Er wurde am 25. Februar 1816 in Verona geboren, seine hugenottische Familie stammte aus Südfrankreich. Er war ein außergewöhnlicher Mann. Er hat Medizin studiert, aber nie als Arzt praktiziert. Aber an der Uni München hat der Dr. med. Morelli anatomische Vorlesungen gehalten. Er war beim italienischen Risorgimento dabei und hat mit der Waffe in der Hand gegen die Österreicher gekämpft. Er war auch Gesandter der provisorischen italienischen Regierung bei der Frankfurter Bundesversammlung im Jahre 1848. Deutsch konnte er perfekt, er hatte viele Freunde in der Berliner und Münchener Intelligenz. Daneben war er auch noch Schriftsteller und Übersetzer. Als es ein vereinigtes Italien gab, wurde er Abgeordneter für Bergamo, später war er Senator und beschäftigte sich mit der italienischen Kulturpolitik.

Neben dem Mediziner und Politiker Morelli gibt es noch den Kunstkenner Morelli, der die Morelli Methode erfunden hat. Seine Bücher schrieb er auf deutsch unter dem Namen Ivan Lermolieff (eine kaum verhüllte Anspielung auf den Namen Giovanni Morelli). Die Kunstwissenschaft steckte damals noch in ihren Anfänge. An Röntgengeräte, Woodsches Licht, Dendrochronologie und FT-IR Spektroskopie zur Altersbestimmung von Gemälden war noch nicht zu denken. Man konnte schriftliche Quellen zu einem Bild heranziehen. Wenn es sie gab. Der Rest war Kennerschaft, etwas was viele Kunsthistoriker in dieser ersten Phase der Kunstgeschichte auszeichnete. Was wären Wilhelm von Bode oder Bernard Berenson ohne ihre Kennerschaft, Intuition und Urteilskraft gewesen? Heute lernen ja manche einen Katalog auswendig, um eine schöne Frau, die sie in eine Gemäldegalerie begleiten, vor den Bildern zu beeindrucken. Lachen Sie nicht, ich kenne Beispiele für solches Verhalten.

Das Schönste ist mir mit einem australischen Professor passiert, den ich für einige Tage betüddeln musste und in ein Kunstmuseum mitnahm. Während ich mich mit seiner Gattin unterhielt, schlich er sich zur nächsten Bilderwand, lernte einen Namen auswendig, kam wieder zurück und sagte ganz nonchalant Ah. Dr Jay, isn't that a fine Philipp Hackert over there? Der dachte, ich merke das nicht. Der Mann war ein richtiger Lügenbaron, ein Wort das jetzt ja eine neue Bedeutung gewonnen hat. Wahrscheinlich wird die noch zu definierende Maßeinheit dafür auch demnächst 1 gbg (1 Guttenberg) heißen.

Aber solche "Kenner" meine ich nun nicht. Ich meine schon eher Leute wie ➱von Bode oder Berenson (der elegante Herr links), den alle Welt BB nannte. Obgleich der sich häufig genug in seinem Leben geirrt hat und mit der Liaison, die er mit dem englischen Kunsthändler Joseph Duveen einging, seinen Ruf sehr beschädigt hat. Gefälligkeitsgutachten gegen gutes Geld und solche Dinge. Und dennoch, wir würden wahrscheinlich all die Maler der italienischen Renaissance nicht kennen, wenn Berenson den Bildern nicht Namen zugewiesen hätte. Wenn sich Berenson später von Morellis Methoden öffentlich abgewandt hat, verdankt er Morelli (den er noch kennengelernt hatte) doch viel.

Seine Methode formuliert Morelli erst im Alter, bis dahin schreibt er einen wunderbar essayistischen Stil voller Witz und Humor, elegant parlierend. So zum Beispiel über seinen Freund Wilhelm von Kaulbach und dessen Bild Hunnenschlacht (links): Als ich neulich in Kaulbach’s Atelier war, kamen mehrere Frauenzimmer auch hinzu, und da fragte denn eine davon: ‚Wie viel Figuren sind wohl darauf?‘ – So dumm und albern diese Frage damals klang, so treffend wäre sie aus dem Munde eines Verständigen; denn so viele Figuren wie schon da sind, so könnten doch noch mehrere Tausende angebracht werden, ohne daß die Composition gewinnen und verlieren würde, was aber in der Composition eines Raffael, eines Giulio Romano oder eines Michelangelo nie der Fall ist; bei ihnen hat jede Figur ihre hohe Bedeutung, d. h. ihre Compositionen sind rein historisch, die von Kaulbach aber genremäßig. Muss man über Kaulbach mehr sagen?

Vor dreißig Jahren hat der italienische Historiker Carlo Ginzburg einen interessanten ➱Aufsatz veröffentlicht, der im Titel Morelli, Dr. Freud und Sherlock Holmes hatte. You know my method, sagt Sherlock Holmes zu Dr Watson. Und der Dr. Morelli ist jetzt der erste in der Kunstwissenschaft, der eine Methode hat. Die sogar Sherlock Holmes (oder seinen Schöpfer) beeindruckt. Das Bild da oben hielt man in Dresden für ein Werk von Giovanni Battista Salvi, genannt Sassoferrato. Und man glaubte, dass es eine Kopie nach Tizian sei. Bis der Dr. Morelli kam und sagte, dass es ein Giorgione sei. Und bis heute steht der Name Giorgione unter dem Bild.

Morellis Methode ist - und darin ist er Sherlock Holmes ähnlich - eine Betrachtung der kleinen Details. Nicht die ganze Komposition, nicht die großen Gesten, die kann jeder Maler von einem anderen kopieren. Morelli geht auf die bisher bei der Bildbetrachtung vernachlässigten Details, Hände, Füsse, Ohren. Der Kunsthistoriker Edgar Wind hat in Art and Anarchy über die Methode gesagt: Morelli invites us to identify a great artist, not by the power with which he moves us, nor by the importance of what he has to say, but by the nervous twitch and the slight stammer which are just a little different from the quirks of his imitators.

Morelli hat niemals behauptet, und da haben ihn seine Kritiker wohl bewusst missverstehen wollen, das dies alles sei. Es ist eine Vorstufe zum Sehen. Wenn wenn man die kleinen Dinge sieht, wird man auch die großen sehen können. Im Vorwort zu Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch sagt Morelli: Meine 'kritischen Auslassungen und Bemerkungen' machen nicht den mindesten Anspruch darauf, irgendwie Vollkommenes zu bieten. Meine Noten sind vor den Bildern selbst, currenti calamo, und ursprünglich ohne alle Absicht auf Veröffentlichung gemacht; auch bin ich mir wohl bewusst, dass meine oft sehr kühnen Urteilssprüche nicht als das letzte Wort gelten können. Das ist nun nicht nur eine captatio benevolentiae, er meint das durchaus so.

Natürlich kommt für einen Kunsthistoriker hinzu, dass er sehr viele Bilder kennt und (wie Sherlock Holmes) eine gute Intuition besitzt. Aber die Detailbetrachtung sei, sagt Morelli, eine der wichtigsten ersten Stufen bei der stilkritischen Zuschreibung eines Gemäldes. Sigmund Freud war von Morelli begeistert, auch wenn er ihn bei seiner Interpretation des Moses von Michelangelo ein wenig falsch interpretiert hat. Doch er sah große Ähnlichkeiten zwischen Morellis Methode und der Psychoanalyse.

Man kann das Sehen und die Detailkenntnis trainieren. Als ich noch Kunstgeschichte studierte, besaß jeder Student große DIN A6 Karteikästen voller Postkarten. Und Studenten fragten sich ständig ab, indem sie ihrem Gegenüber für wenige Sekunden eine Postkarte aus dem Kasten hochhielten. In meiner Doktorprüfung schob mir mein Professor die Abbildung eine Gemäldes über den Tisch, auf der alles abgedeckt war bis auf wenige Quadratmillimeter, die den Fuß eines Möbelstücks zeigten. Ich habe nicht lange gezögert und Maître de Flémalle, Merode Altar, rechter Seitenflügel gesagt. Das hat ihm gefallen. Er hätte mir an dem Tag auch den leicht gekrümmten Zeigefinger von Botticellis Venus geben können, ich hätte ihn erkannt.

Morelli hat sich im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen nie als Kunsthistoriker verstanden, eher als einen Kunsthändler und Kunstsammler. Und für die sind solche Kenntnisse lebenswichtig. Oder sie brauchen wie Lord Duveen einen Bernard Berenson, der das für ihn macht. Heute scheint ein Kunstwerk nur noch dafür da zu sein, um bei Sotheby's oder Christie's Sensationspreise zu erzielen, auf Postkarten verkauft oder im Labor auf seine Farbschichten hin analysiert zu werden. Vielleicht sollten wir einfach mal wieder Morelli, diesem genialen Außenseiter der Kunstwissenschaft, folgen und das Sehen von Kunstwerken lernen.

Giovanni Morellis wichtigste Schriften sind über diese ➱Internetseite von arthistoricum zugänglich.

Donnerstag, 24. Februar 2011

Johnny Cash


Das Mississippi Hochwasser von 1937 hat der damals fünfjährige Johnny Cash nie vergessen. 22 Jahre später sang er Five feet high and rising, ein Song, der 1993 während eines anderen Mississippi Hochwassers zum meistgespielten Song der amerikanischen Radiostationen avancierte. Es war nicht das erste Mal, das ganz Amerika auf Johnny Cash hörte. Seine Karriere ist ein beständiges Auf und Ab gewesen, von seinen Anfängen mit den Tennessee Two auf Sun Records (die heute noch erstaunlich gut klingen) über die CBS-Zeit 1958-1986, Drogen- und Alkoholprobleme in den sechziger Jahren. Die Ehe mit June Carter (von der legendären Carter Family) stabilisierte ihn und brachte den Totgesagten wieder nach oben. Totgesagte leben immer länger, Johnny Cash ist das lebende Beispiel für den Satz gewesen. Als ihn CBS 1986 feuerte - und gleichzeitig noch The Greatest Hits 1958-1986 vermarktete - hätte er eigentlich aufhören können.

Aber Johnny Cash, der schon immer mit jüngeren Sängern von Bob Dylan bis Kris Kristofferson (dessen Song Sunday Morning Coming Down er herausgebracht hatte) zusammengearbeitet hatte, begann eine neue Karriere. Er ist heute der Liebling der New Country Bewegung und ist wieder überall zu hören. Die warme Bass-Bariton Stimme hat trotz Alkohol und Drogen nichts von ihrem Timbre verloren. In seiner langen Karriere hat er sich immer wieder der Außenseiter angenommen. Songs wie Ira Hayes und die Alben At Folsom Prison und At San Quentin zeugen davon. Er warb mit What is Truth? für Sympathien mit den langhaarigen Hippies, aber er sang auch vor Richard Nixon. Weigerte sich aber, dessen Wunsch nach Spottgesängen auf Hippies und Unterprivilegierte nachzukommen. Vielleicht hätte er sein ironisches The One on the Right is on the Left singen sollen (and if you have political convictions, keep them to yorself), eine Warnung folk songs und Politik zu vermischen.

Zur ursprünglichen Country Music, zum Thema des Westens und der Cowboysongs, ist Johnny Cash immer wieder zurückgekehrt. Und diese markieren auch seine größten Erfolge wie die Alben Ballads of the True West und Come along and Ride this Train, die Songs Don't Take your Guns to Town und Ghost Riders in the Sky zeigen. Bear Family Records offeriert mit ca. 280 Songs auf The Man in Black und The Man in Black Vol. II zwei 5CD Boxen mit opulentem Begleitmaterial, die das Wichtigste von Johnny Cash, dem Dylan without a metaphor, enthalten.

Dies hübsche Dylan without a metaphor ist nicht von mir, das stammt von Richard Goldstein, der in seinem Buch The Poetry of Rock der erste war, der der Pop Music poetische Qualitäten zugestand. Als ich diesen Text, der Teil eines längeren Artikels über meine Lieblinge der Country&Western Musik war, geschrieben habe, lebte Johnny Cash noch. Und das Mississippi Hochwasser von 1993 war gerade in den Schlagzeilen.

Heute vor 41 Jahren hat Johnny Cash im Staatsgefängnis von San Quentin seine Platte At San Quentin aufgenommen, und da fiel mir mein alter Artikel wieder ein. Den finde ich eigentlich noch ganz nett, sonst hätte ich ihn nicht noch einmal abgetippt. Ich brauche da auch nicht gravierende, handwerkliche Fehler einzuräumen und nicht in der Öffentlichkeit herumzusülzen In der mir abgesprochenen Demut entschuldige ich mich bei allen, die ich verletzt habe. Das überlassen wir mal dem Herrn aus Bayern. In Bayern war Johnny Cash auch mal. Als er bei der US Air Force war und den Morsecode der Russen dekodierte, er hatte ein feines Gehör dafür. Damals hat er auch in Landsberg seine erste Band, die Landsberg Barbarians, gegründet. Bavarians unterscheiden sich von Barbarians nur durch einen Buchstaben.

Ich gebe gerne zu, dass ich Johnny Cash liebe. Und es gibt Augenblicke, da muss man einfach einmal Johnny Cash auflegen. Wenn nach einem Cricket Wochenende und einer langen Partynacht Georg am nächsten Morgen seinen Gästen nach englischer Sitte einen heißen Tee ans Bett gebracht hatte, dann ging er zum Plattenspieler, legte Ring of Fire auf und drehte den Lautstärkeregler ganz nach rechts. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, morgens wach zu werden, probieren Sie es mal mit Ring of Fire. Wenn Sie sehen wollen, wer Johnny Cash alles etwas verdankt, dann klicken Sie dieses Video an.

Johnny Cash starb zehn Jahre nach meinem kleinen Artikel, seine Frau June war wenige Monate vor ihm gestorben. An den ersten Drehbuchentwürfen für Walk the Line hatte er noch mitgearbeitet, den Film haben June Carter und er nicht mehr gesehen. Aber ich glaube, dass ihnen der stille und unspektakuläre Film mit Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon gefallen hätte (die Hauptdarsteller hatten Cash und Carter selbst ausgesucht). Johnny Cashs erste Frau Vivian (gespielt von Ginnifer Goodwin) und er hatten sich beinahe zehntausend Briefe geschrieben als er bei der Air Force war. Manches davon hat Vivian Cash in ihre Autobiographie I Walked the Line: My Life with Johnny hineingeschrieben. Das haben die Drehbuchautoren in den Film einfliessen lassen. Vivian Liberto Cash Distin, die Mutter von Rosanna Cash ist zwei Jahre nach Johnny Cash und June Carter gestorben. Rosanna hat den dreien mit ihrer CD Black Cadillac ein rührendes Denkmal gesetzt.

Bei dem Johnny Cash Memorial Tribute im Ryman Auditorium in Nashville am 10. November 2003 hatte Rosanna Cash September When It Comes gesungen. In das Lied war die Stimme von Johnny Cash hinein montiert worden, und gleichzeitig konnten die Trauergäste auf einer Leinwand Photos aus dem Familienalbum ➱sehen. Ich kriege dabei immer Tränen in die Augen.



P.S. Für alle diejenigen, die Schwierigkeiten hatten, die unten im Kommentar von Kraftgenie (Danke dafür!) genannte Adresse zu öffnen, stelle ich die interessante Photostrecke von Alex Soth mal eben hier als ➱Link hin.

Mittwoch, 23. Februar 2011

Easy Rider


Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund. Peter Fonda wird heute 71. Wie doch die Zeit vergeht. Der Sohn Henry Fondas verdankt seinen Ruhm einem einzigen Film, der Easy Rider hieß. Da war er Captain America und fuhr auf einer Harley zusammen mit Dennis Hopper durch Amerika, um Drogen zu verkaufen. Heute fahren leicht angejahrte übergewichtige Deutsche in der midlife crisis auf einer Harley durch Amerika und kommen sich ganz toll dabei vor. Du, ich sag Dir, das war richtig Easy Rider mäßig. So 'Born to be Wild', und Du weißt schon. Ich kann das nicht mehr hören. Meine Standardantwort ist, dass ein easy rider im Jazz Slang der Roaring Twenties jemand ist, der seine Nutte nicht bezahlt.

Easy Rider ist ein road movie, eins der vielen dieses neuen Filmgenres der sechziger Jahren. Massenhaft Landschaft (we've lulled our audiences with beautiful scenery, hat Fonda gesagt) und massenhaft Musik. Von Steppenwolfs Born to be Wild bis zu Bob Dylans It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding). Manchmal denke ich der Soundtrack war das Beste am Film. Ich mag den Film nicht, weil er kein guter Film ist. Wäre er nicht von Columbia aggressiv vermarktet worden sondern wie geplant als Roger Corman Produktion erschienen, er hätte nie diesen Erfolg gehabt. Wenn Sie ein wirklich gutes road movie sehen wollen, dann schauen Sie sich Monte Hellmans Two-Lane Blacktop an.

Vier Jahre nach der Uraufführung von Easy Rider konstatierte ein Filmkritiker: Incidentally, no picture in recent memory has dated so badly as 'Easy Rider', mainly because the characters have no allure beyond 1969, when the movie was released. Dull-witted, drug-pushing hippie motor-cyclists have become as exciting as a midi-skirt. Heroes should have a longer life expectancy. Aber 1969 machte ein jugendliches Publikum (und die Werbeabteilung von Columbia) den Film zu einem Kultfilm. Obgleich Peter Fonda in Interviews ganz klar gemacht hat, dass die beiden Harley Fahrer nicht die Opfer der Gesellschaft werden, sondern Opfer ihres eigenen falschen Freiheitsbegriffes: My movie is about the lack of freedom. My heroes are not right, they're wrong.

Wenn Peter Fonda als Captain America in dem Film auch irgendwann seine Uhr wegwirft und sich so symbolisch von der Zeit trennt, wußte er immer, wie spät es war. Weil er die ganze Zeit unter der der Biker Jacke seine goldene ➱Rolex getragen hat. Wenn er wirklich cool gewesen wäre, hätte er die Rolex weggeworfen.

Lesen Sie auch: ➱Two-Lane Blacktop

Dienstag, 22. Februar 2011

Bond Girl


Karin Dor wird heute 75. Nach anderen Angaben wird sie erst 73, das weiß man bei Schauspielerinnen ja nie so genau. Wir gratulieren trotzdem. Eigentlich heißt sie ja Kätherose Derr, aber mit solch einem Namen macht man keine Karriere. Sie hat in dem Schlimmsten mitgespielt, was uns der deutsche Film in den fünfziger und sechziger Jahren zugemutet hat: Rosen-Reslie, Almenrausch und Edelweiß, Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse, Ich, Dr. Fu Manchu und Winnetou. Wir kennen sie auch aus zahlreichen Edgar Wallatze Filmen, aber sie ist auch unter der Regie Alfred Hitchcocks einen schönen Filmtod gestorben. Das musste ja so sein, da Hitchcock auf Blondinen fixiert ist. Sie war auch mal Bond Girl, da ist sie im Film auch spektakulär gestorben. Von Piranhas gefressen. So etwas ist ja meist das Schicksal von Bond Girls. Ich darf da noch einmal an das schöne Gedicht von ➱Fiona Pitt-Kethley erinnern, wo es heißt:

The girls were something else. 
All that they earned
for being perfect samples of their kind -
Black, Asian, White - blonde, redhead or brunette,
groomed, beauty-parlourised, pleasing in bed,
mixing Martinis that were shaken not stirred
using pearl varnish on their nails not red -
was death. A night (or 2) with 007,
then they were gilded till they could not breathe,
chucked to the sharks, shot, tortured, carried off
or found, floating face downward in a pool.

In den Edgar Wallace Filmen spielte sie meist eine verfolgte Unschuld. Die Welt von Edgar ist voll davon. All diese jungen Sekretärinnen, die gar nicht wissen, dass sie die Erbin von Lord Whatshisname sind, und die von des bösesten Bösewichten des deutschen Kinos verfolgt werden. Und in letzter Minute von Blacky Fuchsberger oder Heinz Drache gerettet werden. Das alte Motiv der damsel in distress wird da schon arg strapaziert. Diese jungen Damen sind natürlich, obgleich eigentlich kleine graue Mäuse, immer schön: Obwohl nicht so groß wie die Durchschnittsengländerin, wirkte sie durch ihre schlanke Figur größer als sie in Wirklichkeit war. Ihr fein modelliertes Gesicht zeugte von Rasse, tiefgraue Augen und ein roter Mund, der gern lächelte - kurz, Leslie Gine war schön. Passt ja wunderbar auf Karin Dor. Nur blöd, dass man für den Film Der schwarze Abt für die Rolle der Leslie Gine Grit Böttcher bekommen hat.

Bevor Edgar Wallace im Deutschland der fünfziger Jahre berühmt war, war er natürlich in England berühmt. Im Jahre 1928 wendet sich der englische König an keinen geringeren als Rudyard Kipling mit der Bitte, ihm eine leichte Lektüre zu empfehlen. Und was tut Kipling? Der schickt nicht etwa sein Dschungelbuch zum Buckingham Palast. Der schickt dem König einen Stapel Edgar Wallace Romane. Die der prompt las, so etwas überfordert einen englischen König nicht. Die Königin Elisabeth liest ja jetzt richtige Literatur, wie wir aus Alan Bennetts The Uncommon Reader wissen.

Hier stirbt Karin Dor gerade in Hitchcocks Topaz, sinkt dahin wie eine Blumenblüte. Das mit dem Blütenkelch war beabsichtigte Symbolik. Hitchcock hatte unsichtbare Fäden an dem violetten Kleid anbringen lassen, an denen gezogen wurde, damit sich das Kleid im Hinsinken so schön entfaltete (wenn Sie das Bild vergrößern und genau hinschauen, können Sie sehen, wo die Fäden am Kleid befestigt sind). Da hing das Gelingen der Szene sozusagen am seidenen Faden. Solche Fäden sind ja häufig die letzte Rettung im Film. Die magnetische Rolex, mit der James Bond den Reißverschluss des Kleids seiner Partnerin öffnete, hat natürlich nicht funktioniert. Da lagen Techniker unten auf dem Boden, die an Fäden zogen. Hat Tage gebraucht, bis die Szene im Kasten war.

Schöne Frauen werden von Regisseuren im Film ja gerne umgebracht, von den Bond Girls, die mit goldener Farbe angemalt oder an die Piranhas verfüttert werden, wollen wir jetzt gar nicht reden. Also zum Beispiel Brigitte Bardot in Privatleben, Faye Dunaway in Bonnie and Clyde oder Barbara Stanwyck in The Strange Case of Martha Ivers. Die Liste ist lang, und Bambis Mutter haben wir dabei noch gar nicht mitgezählt. Wenn Sie Spaß an dem morbiden Vergnügen haben, dann gehen Sie doch mal auf die ➱Seite von cinemorgue, alle Filmtode, nach Darstellerinnen alphabetisch geordnet.

Aber wir haben das natürlich viel lieber, wenn die schönen Frauen am Ende von schönen Männern geheiratet werden. Was bei Edgar Wallace unweigerlich passiert. Wenn die Frauen all das durchgemacht haben, was ihnen die gothic novel (die hier einen langen Post hat) seit dem 18. Jahrhundert zumutet, und nicht an die Piranhas verfüttert werden, dann müssen sie zum Schluss Blacky Fuchsberger heiraten.


Montag, 21. Februar 2011

Lichtgebet


Der Maler und Sozialreformer Karl Wilhelm Diefenbach wurde heute von 160 Jahren geboren. Er ist von Arnold Böcklin und Franz von Stuck beeinflusst und hat schlimmen Kitsch gemalt. Er ist ein Apostel der Freikörperkultur gewesen und hat eine Landkommune gegründet (das Bild zeigt ihn in der Mitte seiner Getreuen), wo man natürlich Reformkleidung trägt, wenn man sich nicht nackt dem Lichtbad hingibt. Diefenbach hat zwei Schüler - oder sollten wir besser Jünger sagen? - die noch großen Einfluss haben werden. Der eine ist Gusto Gräser, der Monte Verità begründen wird, der andere ist Hugo Höppener, dem er den Namen Fidus gibt.

Dieser Fidus ist wie Diefenbach Maler, vor einhundert Jahren vielleicht einer der bekanntesten Maler in Deutschland. Woanders haben sie van Gogh, Cezanne und Matisse. Wir haben diesen wilhelminischen Hippie namens Fidus. Und seine im Selbstverlag erschienene Kunst ist auch noch massenhaft durch Reproduktionen und Postkarten verbreitet. Ich habe das Lichtgebet, von dem es eine Vielzahl von Fassungen gibt, mal eben hierher gezaubert, damit Sie sehen was ich meine. Sieht aus wie reine Nazikunst, aber die hatten mit Fidus ihre Schwierigkeiten. Hitler hat das NSDAP Mitglied der ersten Stunde Fidus irgendwann doch noch zum Professor honoris causa gemacht, obgleich er vorher den Verkauf von Fidus' Postkartenportraits von sich verboten hatte. Die Nazis hatten auch mit Heinrich Pudor (der aus der gleichen Ecke wie Diefenbach und Fidus kommt) ihre Schwierigkeiten, obgleich der der echte Vorläufer ihres Gedankenguts war. Je näher sich Spinner und Sektierer in ihren wirren Gedanken sind, desto mehr bekämpfen sie sich.

Wenn auch der völkische Antisemit Heinrich Pudor am liebsten nackt herumläuft, hat er nach dem Ablegen der Kulturkleidung strenge Kleidungsvorschriften: Hierbei war ich natürlich von Meister Diefenbach beeinflußt, der vor mir zur Reformkleidung übergegangen war. Diese Reformkleidung trägt auch der junge Fidus. In meinem Jaeger-Anzug mit halblangem Haare hörte ich oft hinter mir "Jesses, a Diefenbacher!" rufen. Da erinnerte ich mich, daß ich schon in der Lübecker Zeitung von einem Maler-Sonderling Diefenbach gelesen hatte, der "Naturmensch" sei und die Welt durch Vorträge belehren wollte. Und so wird der junge Höppener den Kontakt suchen und als Fidus der treueste Schüler Diefenbachs werden.

Dass er einen Jaeger-Anzug trägt, verdankt er seinem Musiklehrer: In dieser Zeit des Wiedergesundens wurde ich durch meinen Zitherlehrer Brandt "Jaegerianer" oder "Wollner", und ich ging auch bald in Strickwolle enganliegend naturbraun "meliert" von hellen und dunklen Schaffen, da Jaeger jede Kunstfarbe, zumal eng auf dem Leibe als giftig verfemte. Da hat der Stuttgarter Mediziner Dr. Gustav Jäger mit seiner Normalkleidung als Gesundheitsschutz (1880) etwas angerichtet, was modehistorische Folgen haben sollte.

In Deutschland zum Beispiel in der gestrickten Knabenkleidung der Firma Bleyle. Das kauften Eltern noch in den fünfziger Jahren ihren Kindern, so scheußlich das war, man kriegte es nie kaputt. Neben Bleyle gibt es noch den schwäbischen Fabrikanten Robert Vollmöller. Der wird mit der Herstellung von Dr. Gustav Jäger Wäsche beginnen und wenig später die größte Trikotagenfabrik der Welt besitzen. Die Vollmöller AG wird in den dreißiger Jahren eine Lizenz der amerikanischen Firma Jantzen erwerben und über die Tochterfirma Vollma Wirkwaren die amerikanischen Jockey Y-Front U-Hosen nach Deutschland bringen.

Und da ich den Namen Robert Vollmöller gerade erwähnt habe, sollte ich vielleicht noch sagen, dass seine Tochter Mathilde Malerin geworden ist. Sie ist Schülerin von Matisse gewesen und hat in Paris großen Erfolg gehabt. Aber dann hat sie den Maler Hans Purrmann geheiratet, von dem in den fünfziger Jahren in beinahe jedem bürgerlichen Wohnzimmer Reproduktionen dieser grässlichen bunten Italienbilder hingen. Und dann wurde sie Mutter und Ehefrau und verkümmerte als Malerin im Schatten ihres Mannes. Und die Kunstgeschichte hat beinahe hundert Jahre gebraucht, um sie neu zu entdecken. Einer aus der Familie ist heute Steinmetz oder Bildhauer, ich weiß nicht, wie er sich nennt. Auf seiner Visitenkarte steht nur h.h.vollmöller steine. Ich habe einmal in einer Ausstellung einen bezaubernden Moby-Dick von ihm gesehen, eine Plastik wie organisch aus einem Stein gewachsen, die auf kleinen Stahlstiften in der Luft zu schwimmen schien. Konnte man kaufen, habe ich aber gelassen, weil dieser Wal viel zu groß für die Wohnung war. Doch Heike hat hinter meinem Rücken die Adresse des Künstlers herausgefunden und ihn überredet, mir einen kleinen Moby-Dick zu machen. Ist eine miniaturisierte Kopie des großen Wals aus einem seltenen und schwer zu bearbeitenden bläulichen Stein.

✰ Und der steht jetzt - nein er schwebt - oben auf dem Bücherregal. Und ich kann ihn immer sehen. Es ist ein etwas bizarrer Gedankenweg von Diefenbach und Fidus zu Dr. Gustav Jäger, dann über die Familie Vollmöller zu H.H. Vollmöller und meinem kleinen Moby-Dick. Aber so ist die Welt. Manchmal glaube ich daran, dass an dem Only connect!.. Live in fragments no longer. von E.M. Forsters Howards End doch etwas dran ist. The basis of creativity has always been a new connection, hat William J.J. Gordon gesagt. Und da ich gerade mit dem Knüpfen von Beziehungsfäden begonnen habe, mache ich damit einmal weiter und springe nach England.

Der viktorianische Philantrop Lewis R.S. Tomalin war mit einer Deutschen verheiratet und hatte Dr. Jägers Buch unter dem Titel Health Culture ins Englische übersetzt, was ihm im Jahre 1884 sogar das Lob der Times einbrachte. Da hatte er gerade von Gustav Jäger die Lizenz erworben, einen Shop mit dem Namen Dr Jaeger's Sanitary Woolen System aufzumachen. Die Sache mit der wollenen Reformkleidung wird innerhalb von wenigen Jahren ein richtiger Erfolg. George Bernard Shaw und Oscar Wilde propagieren jetzt Jaeger Anzüge. Wenn Sir Henry Morton Stanley in Afrika die berühmten Worte Dr. Livingstone, I presume? spricht, wird er Kleidung von Jaeger tragen, Robert Falcon Scott wird Wollkleidung von Jaeger mit zum Nordpol nehmen. Tomalin hat mittlerweile sein Hobby zu seinem Beruf gemacht und besitzt um 1900 schon zwanzig Jaeger Shops in England.

Die Firma Jaeger gibt es immer noch in London, allerdings steht jetzt nicht mehr Dr Jaeger's Sanitary Woolen System über der Eingangstür. Auch der Name Tomalin hat in England weitergewirkt, Lewis Tomalins Sohn Miles war Dichter, Komponist und ein bekannter Blockflöten Virtuose. Er hat im Spanischen Bürgerkrieg in der Internationalen Brigade gekämpft. Der Enkel des Firmengründers, Nicholas Tomalin, ist einer der berühmtesten englischen Journalisten gewesen, er kam im Yom Kippur Krieg zu Tode. Seine Ehefrau Claire Tomalin hat vielbeachtete Biographien über Thomas Hardy und Samuel Pepys geschrieben und den James Taite Black Memorial Prize, einen der angesehensten Literaturpreise Englands bekommen.

Man hat inzwischen den Maler Karl Wilhelm Diefenbach auch wieder aus der Versenkung hervorgeholt. Im letzten Jahr gab es in München in der Villa Stuck die erste große Diefenbach Ausstellung (in der auch Bilder von Fidus gezeigt wurden). Die Ausstellung ist von April bis Oktober des Jahres in Wien zu sehen. Es gibt zu Fidus eine kleinere neue Publikation von Wolfgang de Bruyn (dem Sohn Günter de Bruyns), die Fidus. Künstler alles Lichtbaren heißt.

Aber das Standardwerk wird wohl Fidus: Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen von Janos Frecot, Johann Friedrich Geist und Diethard Kerbs bleiben. Man kann es noch antiquarisch finden. Es ist so lang wie die Doktorarbeit von Guttenberg, ist aber völlig originale und originelle Forschung. Hat aber keine 1.300 Fußnoten. Die Seiten des Buches sind zweispaltig, der äußere Rand ist jeweils den Anmerkungen vorbehalten. Das verteuert den Druck, ist aber ein ideales Verfahren, weil man so Text und Anmerkung gleichzeitig lesen kann. Obgleich ich Fidus nicht ausstehen kann, bietet das Buch doch eine hochinteressante Reise in die deutsche Seele.


P.S. (29. November 2011) Ich hätte den wunderbaren kleinen Moby Dick, den H.H. Vollmöller gestaltet hat, ja in den Text gestellt, aber ich habe keine DigiCam. Aber ich stelle hier einmal ein Photo hin, das mir der Künstler gestern (passend zum Moby-Dick Film im Fernsehen) geschickt hat. Dieser Wal ist aus einem Quarzstein, den H.H. Vollmöller am Strand fand, sah schon beinahe wie ein Wal aus. Der Künstler brauchte nur wenig an dem zu ändern, was die Künstlerin Natur schon in Jahrhunderten hingekriegt hatte.













Sonntag, 20. Februar 2011

Landpartie


Und an der leitenden Hand des Jünglinges hüpfte die Jungfrau
Furchtsam über die Steine, gelegt für die Schritte des Wanderers;
Trat auf den Steg, und hob das eine Füßchen mit Vorsicht
Über den hohen Zaun, enthüllt bis zur Blume des Zwickels,
Ordnete scheu ihr Gewand, und schwang sich dann eilend hinüber.
Mühsam stiegen sie nun durch Haselgebüsch den schrägen
Ausgeregneten Pfad, der zur Seite des Bergs sich herumschwang;
Und tiefathmend begann das rosenwangige Mägdlein:

Stehn Sie ein wenig still; mir pocht das Herz! Wie erfrischend
Ueber den See die Kühlung heraufweht! Und wie die Gegend
Ringsum lacht! Da hinab langstreifichte, dunkel- und hellgrün
Wallende Felder voll Korn, mit schimmernden Blumen gesprenkelt!
Dort das umbüschte Dorf, und der Thurm mit dem blinkenden Seiger!
Hier auf blumiger Wiese die röthlichen Küh', und der Hügel
Von Buchweizen umblüht; und der blaue See mit der Waldung!
Schaut doch umher, ihr Kinder, und freut euch!


Man erkennt die Gegend nicht gleich wieder, aber hier wandert man um den Plöner See, nachdem man ein Picknick im Grünen gemacht hat. Wir sind im 18. Jahrhundert, da ist man empfindsam. Und man begeistert man sich für die Natur. Die Sprache des Dichters ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, ein so schönes elastisches Vermaß wie den Blankvers der Engländer hat das Deutsche nicht. In dieser Zeit, die sich dem Klassizismus verschreibt, verwendet man gerne alle möglichen Versmaße, die für die lateinische Sprache vielleicht angemessen waren. Und selbst wenn die Verse etwas schlichter daherkommen, die uns gestelzt vorkommende Sprache bleibt:

Schön ist die Flur, mit Perlen überhangen,
Worin das Bild der Sonne strahlt,
Schön ist das Volk der Blumen, deren Wangen
Die Abendröthe mahlt.

Schön ist das Thal, und die beblümte Weide,
Wo manche Wollenheerde geht,
Sobald der Tag, im purpurrothen Kleide,
Auf den Gebirgen steht.

Schön ist der Hayn, der einen grünen Schleyer
Von Dämmrung um die Hirtin zieht,
Wenn Sirius die Luft beherrscht und Feuer
Aus ofnem Schlunde sprüht.

Schön ist der Bach, der plätschernd durchs Gewimmel
Der Blümchen, das ihm Reize leyht,
Die Wellchen rollt, wenn ihn der Abendhimmel
Mit Purpur überstreut.


Die können ja nicht einfach Schafe sagen, diese Dichter. Das muss schon eine Wollenheerde sein. Da ist man für die röthlichen Küh' im Gedicht oben geradezu dankbar. William Wordsworth hat sich energisch gegen diese poetic diction gewandt. Der Dichter mit der Wollenheerde ist Ludwig Christoph Heinrich Hölty, er wird in unserem ersten Gedicht beklagend erwähnt:

Sie umschauten die weithin lachende Landschaft,
Plauderten viel, und sangen empfundene Lieder von Stolberg,
Bürger und Hagedorn, von Claudius, Gleim und Jacobi;
Auch, Freund Hölty, von dir, und beklagten dich, redlicher Jüngling!


Der erste Text ist von Johann Heinrich Voß, der heute vor 260 Jahren geboren wurde. Das Gedicht hat den Titel Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, und es ist erstaunlicherweise über hunderte von Jahren bei Lesepublikum beliebt gewesen. Die Illustrationen der Originalausgabe sind von Daniel Chodowiecki. Nachgestochen von Heinrich - man mag den Namen ja gar nicht mehr hinschreiben - Guttenberg. Diese Idylle ist jetzt eine neue Literaturform, eine Art von Klein-Epos. Das sind nicht mehr die arkadischen Idyllen von Salomon Geßner, deren kindliche Herzlichkeit Goethe irgendwann furchtbar auf den Keks ging. Wir sollten uns nicht von dem Namen Idylle täuschen lassen. Zwar präsentiert uns Luise eine spießbürgerliche Idylle, in der die Natur immer für einen Spaziergang gut ist, an dessen Ende die Tasse Kaffee oder das Glas Wein stehen. Aber die ersten Idyllen von Voß, die unter dem Titel Die Leibeigenschaft gesammelt sind, sehen ganz anders aus. Da hinein hat der Enkel eines Leibeigenen viel revolutionäres Zeug geschrieben, und das mehr als ein Jahrzehnt vor der Französischen Revolution:

Hättest du Fronarbeiten versäumt, zu entschuldigen wär es.
Was? noch Treue verlangt der unbarmherzige Fronherr?
Der, mit Diensten des Rechts (sei Gott es geklagt) und der Willkür,
Uns wie die Pferd abquälet und kaum wie die Pferde beköstigt?
Der, wenn darbend ein Mann für Weib und Kinderchen Brotkorn
Heischt vom belasteten Speicher, ihn erst mit dem Prügel bewillkommt,
Dann aus gestrichenem Maß einschüttet den kärglichen Vorschuß?
Der auch des bittersten Mangels Befriedigung, welche der Pfarrer
Selbst nicht Diebstahl nennt, in barbarischen Marterkammern
Züchtiget und an Geschrei und Angstgebärden sich kitzelt?
Der die Mädchen des Dorfes mißbraucht und die Knaben wie Lastvieh
Auferzöge, wenn nicht sich erbarmeten Pfarrer und Küster,
Welche, gehaßt vom Junker, Vernunft uns lehren und Rechttun?
Nein, nicht Sünde fürwahr ist solcherlei Frones Versäumnis!
Doch für des Einbruchs ganz ehrlose Beschuldigung, Michel,
Als rechtschaffener Kerl, geh dreist nach Schwerin und verklag ihn,
Daß dir Gerechtigkeit werde von unserem gnädigsten Landsherrn!

Aber auf die Gerechtigkeit durch den Herzog will der Michel nicht warten:

Hans! mir empört sich das Herz! Ich lasse dem adligen Räuber
Einen rötlichen Hahn auf das Dach hinfliegen die Nacht noch,
Zäume den hurtigsten Klepper im Stall und jage nach Hamburg! 

Dass er wie der Michael Kohlhaas das Recht in die eigene Hand nimmt, kann gerade noch verhindert werden. Aber das revolutionäre Pathos scheint hier überall schon durch. Und wir müssen das auch einmal ganz klar sehen, der Mann, den wir als Übersetzer von Ilias und Odyssee als einen Geistesriesen des 18. Jahrhunderts betrachten, kommt von ganz unten. Die übrigen Mitglieder des Hainbunds sind Söhne von Beamten und Pastoren, die Grafen Stolberg sind adlig. Über die Gründung des Hainbunds hatte Voß in einem Brief geschrieben: Ach, mein liebster Freund, da hätten Sie hier sein sollen. Die beiden Millers, Hahn, Hölty, Wehrs und ich gingen noch des Abends nach einem entlegenen Dorfe. Der Abend war außerordentlich heiter und der Mond voll. Wir überließen uns ganz den Empfindungen der schönen Natur. Wir aßen in einer Bauernhütte eine Milch und begaben uns darauf ins freie Feld. Hier fanden wir einen kleinen Eichengrund, und zugleich fiel uns allen ein, einen Bund der Freundschaft unter diesen heiligen Bäumen zu schwören. Wir umkränzten die Hüte mit Eichenlaub, legten sie unter den Baum, fassten uns alle bei den Händen, tanzten so um den eingeschlossenen Stamm herum, - riefen den Mond und die Sterne zu Zeugen unseres Bundes an, und versprachen uns ewige Freundschaft.

Pfadfinderromantik und Bäumeknutschen. Jetzt ist er unter Gleichen im Geiste angekommen. Es ist die klassische Bildung (die er sich hart erarbeitet hat), die Voß seine Position im Bürgertum der Aufklärungszeit garantiert. Klassik ist ja immer gut, vor allem für die literarischen Aufsteiger, die nouveaux riches der Literatur. Wenn heute der Begriff Klassik fällt, denken wir nicht weiter nach. Aber dieser Voß hat auch eine dunkle Seite, neben den revolutionären Versen (und Gesellschaftskritik findet sich selbst in Luise), neben auf Krampf gesuchter Klassik, schreibt er auch noch Schweinkram wie:

Sind meine Klöt nur voll von Feuer,
Und macht mein Schwanz sein Meisterstück,

Dann bin ich reich bei einem Dreier,
Und scheiße fast auf alles Glück.


So etwas steht nicht an der Klotür einer Schule, das schreibt der Rektor der Eutiner Gelehrtenschule, der sich mit dem Titel Hofrat schmücken darf. Ich lasse den Rest von An Priap jetzt mal weg, man kann ihn ☞hier nachlesen. Nachdem wir das jetzt wissen, bekommt das enthüllt bis zur Blume des Zwickels beim Überklettern von Zäunen durch junge Frauen auch eine neue Dimension. Verbalerotik? Geheime Wünsche? Die Priapischen Oden sind im Jahre 1800 anonym erschienen, einer der Verfasser war neben Voß der Graf Friedrich Stolberg. Als der im gleichen Jahr zum Katholizismus übertrat, kündigte sein Hainbund- und Priapsbruder Voß seinem Gönner die Freundschaft und veröffentlichte seine Schmähschrift Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier? 

Er ist jetzt auch in seiner neuen Bürgerlichkeit gegen alles was nicht klassisch oder Familie und Tass Kaff ist, eigentlich ist er das vorweg genommene Spießbürgertum des Biedermeier. Er hasst die Romantiker. Und attackiert sogar in dem so genannten Sonetten-Krieg den Olympier Goethe wegen seiner Sonette. Der mit olympischer Gelassenheit an seinen Freund Zelter schreibt: Wenn Ihnen das Vossische Sonett zuwider ist, so stimmen wir auch in diesem Puncte völlig überein. Wir haben schon in Deutschland mehrmals den Fall gehabt, daß sehr schöne Talente sich zuletzt in den Pedantismus verloren. Und diesem geht's nun auch so. Für lautere Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwunden. Und da hat Goethe nun mal Recht. Pedantrie und ein streitbarer, engstirniger und prinzipientreuer Vertreter eines starren, rationalen Klassizismus (Gero von Wilpert) -  kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Haben wir Deutsche uns je geändert? Irgendwie ist mir der Johann Heinrich Voß nicht ganz geheuer.

Samstag, 19. Februar 2011

Schwarzenbek


In der Kunsttopographie Schleswig-Holstein bekommt der Ort Schwarzenbek (plattdeutsch: Swattenbeek) mal gerade eine Spalte, das ehemalige Amtsgericht aus dem 18. Jahrhundert und das Amtsrichterhaus stehen unter Denkmalschutz. Das Amtsgericht diente auch noch als Gefängnis, ein Wort das es nicht mehr gibt, weil es dann eine JVA wurde. Die Gemeinde hat in den letzten Jahren versucht, die ehemalige Zweigstelle der JVA Lübeck zu verkaufen. Das Amtsrichterhaus hat ein schönes neues Dach bekommen (das allerdings nicht ganz zu dem Gebäude passt) und dient als Kulturzentrum. Sonst ist da nicht so viel los, die Anwohner schätzen die Ruhe des Ortes im Lauenburgischen. Und dass man Lübeck und Hamburg schnell erreichen kann.

Es wäre mir kaum in den Sinn gekommen, über Schwarzenbek zu schreiben, wenn Hannes Hansen mir nicht die Geschichte von Louis Armstrong in Schwarzenbek erzählt hätte. Hannes kam nämlich diese Woche vorbei, um mir sein neuestes Buch Auf der Suche nach Frankreich: Eine Liebeserklärung (Verlag Ludwig 14,90€) zu bringen. Wir kennen uns seit den Tagen, als wir gemeinsam Anglistik studierten. Er hat sich, wie er einmal sagte, für sein Studium viel Zeit gelassen. Das konnte man damals noch, als die Uni noch geistig quicklebendig war und das Studium noch nicht wie bei den heutigen Bachelor- und Master-Studiengängen verschult war. Er hat auch noch Kunstgeschichte studiert und ist Lektor in Wales und am Trinity College in Dublin gewesen. Und natürlich Oberstudienrat. Aber das hat ihn nicht so befriedigt, weil er eigentlich immer Schriftsteller war, seit er für seine Schulzeitung Der Klecks geschrieben hat. Und so ist er Übersetzer, Kulturjournalist und freier Autor geworden und kann damit nicht aufhören. Deshalb jetzt seine Liebeserklärung an das Land, in dem er in den fünfziger Jahren zum ersten Mal gewesen ist. Das haben wir neben dem Studium an den gleichen Instituten gemeinsam, mich hat mein Frankreicherlebnis in den fifties auch nachhaltig beeinflusst.

Auf der Suche nach Frankreich: Eine Liebeserklärung ist ein schönes Buch, ich war in ihm gleich zu Hause. Man kann bei Lesen eine Flasche Château Lafite aufmachen, eine Gauloise aus der blauen Packung holen, eine DVD mit einem alten französischen Film einlegen und Françoise Hardy Tous le garçons et les filles trällern lassen. Der genius loci wird einen aber auch ohne diese Hilfsmittel beim Lesen sofort überkommen. Es ist auch ein schönes Buch für Leser, die noch nie in Frankreich, dem zivilisiertesten Land der Erde waren, weil die Liebeserklärung des Autors an la douce France irgendwie ansteckend ist. Ich habe Hannes gesagt, dass ich für sein Buch Reklame machen werde, und das habe ich jetzt ja auch schamlos getan.

Als wir uns das letzte Mal trafen und über Frankreich redeten, war das Manuskript just fertig geworden und wir hatten gerade Hans Fander getroffen, der sich im hohen Alter noch mit der Welt des Computers vertraut gemacht hat und auf seiner ➱Website auch häufig wunderbare kleine Geschichten über Frankreich schreibt. Viele seiner Geschichten geben Anlass zum Nachdenken. Hans Fander kennt sich in Frankreich gut aus, nicht nur deshalb, weil er lange in der ➱Fremdenlegion war.

Aber eigentlich wollte ich ja über Louis Armstrong in Schwarzenbek schreiben. Springen wir einmal zurück in das Jahr 1955, da ist Louis Armstrong in Kiel in der Ostseehalle. Die Ostseehalle (die heute Sparkassen Arena heißt) war gerade neu, und an der Holstenstraße, der ersten Fußgängerstraße in Deutschland, wurde noch gebaut. Es hatte beim Bau der Halle (deren Basis ein stählener Flugzeughangar aus Sylt war) nicht an Kritik gefehlt, weil die Stadt damals 2,5 Millionen Mark für diese Mehrzweckhalle ausgab, während viele Kieler in der ausgebombten Stadt noch in Notunterkünften wohnten. Als sie 1952 eröffnet wurde, war sie mit einem Fassungsvermögen von 9.000 Besuchern eine der größten Hallen in Deutschland.

Heute ist die Ostseehalle beinahe nur noch für den THW da, damals zwar auch schon, aber da war der Turnverein Hassee-Winterbek noch nicht so berühmt. Natürlich diente sie auch als Ort für Parteiveranstaltungen, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl waren hier. Franz Josef Strauß auch, bin da leider nicht reingekommen. Aber Harry Belafonte habe ich hier gesehen. Die Ostseehalle war die größte Halle für Veranstaltungen im Norden. Und so waren sie alle hier, die Eisrevue Holiday on Ice, die Don Kosaken, Yehudi Menuhin, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Lennie Bernstein. Selbst der große Benjamino Gigli war 1953 hier. Und Jazzmusiker wie Lionel Hampton. Und natürlich Louis Armstrong. Und Karl-Heinrich ➱Trennt verkaufte vor der Halle Zigaretten und Zigarillos aus dem Bauchladen heraus.

Damals war Hannes Hansen fünfzehn Jahre alt, Jazzfan und Nachwuchsjournalist bei der Schülerzeitung Der Klecks. Da hatte er sich mit hochrotem Kopf nach dem Konzert zu Louis Armstrong durchgefragt, good evening gesagt und einen ordentlichen Diener gemacht. Louis Armstrong wollte sich vor Lachen ausschütten, aber er hat dem jungen Redakteur das einzige Interview an diesem Abend gewährt. Cool. Auf der Rückfahrt nach Hamburg hat Louis Armstrong in Swattenbeek Halt gemacht und in Schröders Hotel (seit 1851 im Familienbesitz) Bratkartoffeln gegessen. Bratkartoffeln und deutsches Bier liebte er. Aber dies waren die besten Bratkartoffeln, die er je gegessen hatte. Und er hat Schwarzenbek nicht vergessen. Er soll damals in der Jukebox den Treuen Husar gehört haben, den er gleich verjazzt hat. Und da er nicht so textsicher war, hat er in Swatzenbek, in Swatzenbek dazu gesungen. Glauben Sie nicht? Hören Sie doch mal ➱hier rein.