Montag, 21. Februar 2011

Lichtgebet


Der Maler und Sozialreformer Karl Wilhelm Diefenbach wurde heute von 160 Jahren geboren. Er ist von Arnold Böcklin und Franz von Stuck beeinflusst und hat schlimmen Kitsch gemalt. Er ist ein Apostel der Freikörperkultur gewesen und hat eine Landkommune gegründet (das Bild zeigt ihn in der Mitte seiner Getreuen), wo man natürlich Reformkleidung trägt, wenn man sich nicht nackt dem Lichtbad hingibt. Diefenbach hat zwei Schüler - oder sollten wir besser Jünger sagen? - die noch großen Einfluss haben werden. Der eine ist Gusto Gräser, der Monte Verità begründen wird, der andere ist Hugo Höppener, dem er den Namen Fidus gibt.

Dieser Fidus ist wie Diefenbach Maler, vor einhundert Jahren vielleicht einer der bekanntesten Maler in Deutschland. Woanders haben sie van Gogh, Cezanne und Matisse. Wir haben diesen wilhelminischen Hippie namens Fidus. Und seine im Selbstverlag erschienene Kunst ist auch noch massenhaft durch Reproduktionen und Postkarten verbreitet. Ich habe das Lichtgebet, von dem es eine Vielzahl von Fassungen gibt, mal eben hierher gezaubert, damit Sie sehen was ich meine. Sieht aus wie reine Nazikunst, aber die hatten mit Fidus ihre Schwierigkeiten. Hitler hat das NSDAP Mitglied der ersten Stunde Fidus irgendwann doch noch zum Professor honoris causa gemacht, obgleich er vorher den Verkauf von Fidus' Postkartenportraits von sich verboten hatte. Die Nazis hatten auch mit Heinrich Pudor (der aus der gleichen Ecke wie Diefenbach und Fidus kommt) ihre Schwierigkeiten, obgleich der der echte Vorläufer ihres Gedankenguts war. Je näher sich Spinner und Sektierer in ihren wirren Gedanken sind, desto mehr bekämpfen sie sich.

Wenn auch der völkische Antisemit Heinrich Pudor am liebsten nackt herumläuft, hat er nach dem Ablegen der Kulturkleidung strenge Kleidungsvorschriften: Hierbei war ich natürlich von Meister Diefenbach beeinflußt, der vor mir zur Reformkleidung übergegangen war. Diese Reformkleidung trägt auch der junge Fidus. In meinem Jaeger-Anzug mit halblangem Haare hörte ich oft hinter mir "Jesses, a Diefenbacher!" rufen. Da erinnerte ich mich, daß ich schon in der Lübecker Zeitung von einem Maler-Sonderling Diefenbach gelesen hatte, der "Naturmensch" sei und die Welt durch Vorträge belehren wollte. Und so wird der junge Höppener den Kontakt suchen und als Fidus der treueste Schüler Diefenbachs werden.

Dass er einen Jaeger-Anzug trägt, verdankt er seinem Musiklehrer: In dieser Zeit des Wiedergesundens wurde ich durch meinen Zitherlehrer Brandt "Jaegerianer" oder "Wollner", und ich ging auch bald in Strickwolle enganliegend naturbraun "meliert" von hellen und dunklen Schaffen, da Jaeger jede Kunstfarbe, zumal eng auf dem Leibe als giftig verfemte. Da hat der Stuttgarter Mediziner Dr. Gustav Jäger mit seiner Normalkleidung als Gesundheitsschutz (1880) etwas angerichtet, was modehistorische Folgen haben sollte.

In Deutschland zum Beispiel in der gestrickten Knabenkleidung der Firma Bleyle. Das kauften Eltern noch in den fünfziger Jahren ihren Kindern, so scheußlich das war, man kriegte es nie kaputt. Neben Bleyle gibt es noch den schwäbischen Fabrikanten Robert Vollmöller. Der wird mit der Herstellung von Dr. Gustav Jäger Wäsche beginnen und wenig später die größte Trikotagenfabrik der Welt besitzen. Die Vollmöller AG wird in den dreißiger Jahren eine Lizenz der amerikanischen Firma Jantzen erwerben und über die Tochterfirma Vollma Wirkwaren die amerikanischen Jockey Y-Front U-Hosen nach Deutschland bringen.

Und da ich den Namen Robert Vollmöller gerade erwähnt habe, sollte ich vielleicht noch sagen, dass seine Tochter Mathilde Malerin geworden ist. Sie ist Schülerin von Matisse gewesen und hat in Paris großen Erfolg gehabt. Aber dann hat sie den Maler Hans Purrmann geheiratet, von dem in den fünfziger Jahren in beinahe jedem bürgerlichen Wohnzimmer Reproduktionen dieser grässlichen bunten Italienbilder hingen. Und dann wurde sie Mutter und Ehefrau und verkümmerte als Malerin im Schatten ihres Mannes. Und die Kunstgeschichte hat beinahe hundert Jahre gebraucht, um sie neu zu entdecken. Einer aus der Familie ist heute Steinmetz oder Bildhauer, ich weiß nicht, wie er sich nennt. Auf seiner Visitenkarte steht nur h.h.vollmöller steine. Ich habe einmal in einer Ausstellung einen bezaubernden Moby-Dick von ihm gesehen, eine Plastik wie organisch aus einem Stein gewachsen, die auf kleinen Stahlstiften in der Luft zu schwimmen schien. Konnte man kaufen, habe ich aber gelassen, weil dieser Wal viel zu groß für die Wohnung war. Doch Heike hat hinter meinem Rücken die Adresse des Künstlers herausgefunden und ihn überredet, mir einen kleinen Moby-Dick zu machen. Ist eine miniaturisierte Kopie des großen Wals aus einem seltenen und schwer zu bearbeitenden bläulichen Stein.

✰ Und der steht jetzt - nein er schwebt - oben auf dem Bücherregal. Und ich kann ihn immer sehen. Es ist ein etwas bizarrer Gedankenweg von Diefenbach und Fidus zu Dr. Gustav Jäger, dann über die Familie Vollmöller zu H.H. Vollmöller und meinem kleinen Moby-Dick. Aber so ist die Welt. Manchmal glaube ich daran, dass an dem Only connect!.. Live in fragments no longer. von E.M. Forsters Howards End doch etwas dran ist. The basis of creativity has always been a new connection, hat William J.J. Gordon gesagt. Und da ich gerade mit dem Knüpfen von Beziehungsfäden begonnen habe, mache ich damit einmal weiter und springe nach England.

Der viktorianische Philantrop Lewis R.S. Tomalin war mit einer Deutschen verheiratet und hatte Dr. Jägers Buch unter dem Titel Health Culture ins Englische übersetzt, was ihm im Jahre 1884 sogar das Lob der Times einbrachte. Da hatte er gerade von Gustav Jäger die Lizenz erworben, einen Shop mit dem Namen Dr Jaeger's Sanitary Woolen System aufzumachen. Die Sache mit der wollenen Reformkleidung wird innerhalb von wenigen Jahren ein richtiger Erfolg. George Bernard Shaw und Oscar Wilde propagieren jetzt Jaeger Anzüge. Wenn Sir Henry Morton Stanley in Afrika die berühmten Worte Dr. Livingstone, I presume? spricht, wird er Kleidung von Jaeger tragen, Robert Falcon Scott wird Wollkleidung von Jaeger mit zum Nordpol nehmen. Tomalin hat mittlerweile sein Hobby zu seinem Beruf gemacht und besitzt um 1900 schon zwanzig Jaeger Shops in England.

Die Firma Jaeger gibt es immer noch in London, allerdings steht jetzt nicht mehr Dr Jaeger's Sanitary Woolen System über der Eingangstür. Auch der Name Tomalin hat in England weitergewirkt, Lewis Tomalins Sohn Miles war Dichter, Komponist und ein bekannter Blockflöten Virtuose. Er hat im Spanischen Bürgerkrieg in der Internationalen Brigade gekämpft. Der Enkel des Firmengründers, Nicholas Tomalin, ist einer der berühmtesten englischen Journalisten gewesen, er kam im Yom Kippur Krieg zu Tode. Seine Ehefrau Claire Tomalin hat vielbeachtete Biographien über Thomas Hardy und Samuel Pepys geschrieben und den James Taite Black Memorial Prize, einen der angesehensten Literaturpreise Englands bekommen.

Man hat inzwischen den Maler Karl Wilhelm Diefenbach auch wieder aus der Versenkung hervorgeholt. Im letzten Jahr gab es in München in der Villa Stuck die erste große Diefenbach Ausstellung (in der auch Bilder von Fidus gezeigt wurden). Die Ausstellung ist von April bis Oktober des Jahres in Wien zu sehen. Es gibt zu Fidus eine kleinere neue Publikation von Wolfgang de Bruyn (dem Sohn Günter de Bruyns), die Fidus. Künstler alles Lichtbaren heißt.

Aber das Standardwerk wird wohl Fidus: Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen von Janos Frecot, Johann Friedrich Geist und Diethard Kerbs bleiben. Man kann es noch antiquarisch finden. Es ist so lang wie die Doktorarbeit von Guttenberg, ist aber völlig originale und originelle Forschung. Hat aber keine 1.300 Fußnoten. Die Seiten des Buches sind zweispaltig, der äußere Rand ist jeweils den Anmerkungen vorbehalten. Das verteuert den Druck, ist aber ein ideales Verfahren, weil man so Text und Anmerkung gleichzeitig lesen kann. Obgleich ich Fidus nicht ausstehen kann, bietet das Buch doch eine hochinteressante Reise in die deutsche Seele.


P.S. (29. November 2011) Ich hätte den wunderbaren kleinen Moby Dick, den H.H. Vollmöller gestaltet hat, ja in den Text gestellt, aber ich habe keine DigiCam. Aber ich stelle hier einmal ein Photo hin, das mir der Künstler gestern (passend zum Moby-Dick Film im Fernsehen) geschickt hat. Dieser Wal ist aus einem Quarzstein, den H.H. Vollmöller am Strand fand, sah schon beinahe wie ein Wal aus. Der Künstler brauchte nur wenig an dem zu ändern, was die Künstlerin Natur schon in Jahrhunderten hingekriegt hatte.













1 Kommentar:

  1. Ich mag Ihren letzten Satz; ansonsten wieder einmal ein sehr launiger Post, man könnte meinen, der Feuerzangenbowle entsprungen.

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