Sonntag, 30. Mai 2021

zwei Opern in Berlin

Einmal standen wir drei Stunden in Magdeburg auf dem Bahnhof. Wir durften aus dem Zug aussteigen, aber den Bahnsteig nicht verlassen. Die Russen hatten den Zug der Reichsbahn angehalten, es war ein kleinerer diplomatischer Zwischenfall, weil auch amerikanische Soldaten im Zug saßen. Dass in Marienborn unser ganzer Bus auseinandergenommen wird, das war Alltagsroutine. Es war vor sechzig Jahren nicht so leicht, nach Berlin zu kommen. Man hat das heute alles hinter sich gelassen, was es da an Nickeligkeiten und Schikanen an der Grenze gab, aber ganz vergessen kann man es nicht. Ich nutzte damals jede Möglichkeit, um in die Stadt zu kommen, die einmal eine Weltstadt gewesen war. Diese einwöchigen Berlinreisen in den fünfziger und sechziger Jahren waren staatlich gefördert, man zahlte für eine Woche Berlin fünfzig Mark. Man wollte die Jugend an die geteilte Stadt binden, die nur noch durch Subventionen am Leben erhalten wurde. 

Es gab Klassenfahrten für Schulen, und Jugendgruppen jeder Couleur machten Fahrten nach Berlin. Man bekam für eine Berlinfahrt immer eine Woche schulfrei. Als ich begriffen hatte, wie das System funktionierte, meldete ich mich bei den unterschiedlichsten Gruppen an. Einmal sogar bei den Roten Falken. Auch mit unserer Malgruppe aus dem Jugendheim waren wir in Berlin. Die Lehrer haben mich damals schon etwas scheel angeguckt. Durften aber nichts sagen, war ja alles zu einem staatsbürgerlichen Zweck. Die Unterbringung erfolgte in Jugendherbergen, in der Gardeschützenkaserne in Lichterfelde (wo heute der BND sitzt) oder in den Umkleidekabinen des Schwimmstadions im Olympiastadion. Da musste man rechtzeitig zurück sein, sonst war das Olympiastadion zu. Wie die blonde Traute mit ihrem engen Rock um Mitternacht elegant über das Tor des Stadions geklettert ist, das vergesse ich nie.

Ein staatsbürgerlicher Vortrag im Schöneberger Rathaus gehört zum Pflichtprogramm. Der wird immer von dem demselben gelangweilten Referenten gehalten. Er rauchte, während er redete, aber die Asche fällt nie von seiner Zigarette. Niemand hört auf seinen Vortrag (nach dem ersten Berlin Besuch kennt den jeder), alle beobachten das Anwachsen der Asche. Die Stadt Berlin hat aber auch an die Zuhörer gedacht, auf den kleinen Tischen liegen Zigarettenschachteln zur Selbstbedienung aus. Kristallaschenbecher gibt es auch. Dann war da noch die obligatorische Stadtrundfahrt und der Besuch der Gedenkstätte Plötzensee, den russischen Panzer im Tiergarten und das sowjetische Ehrenmal in Treptow musste man natürlich sehen. Die gerade gebaute Kongresshalle, die schwangere Auster genannt wurde, auch. Das Programm wechselte mit dem Veranstalter, der Mann mit der Zigarette und Plötzensee waren aber immer im Programm.

Seit 1959 trommelte Axel Springer Macht das Tor auf!, aber das Tor war ja noch offen. Man konnte damals unter dem Brandenburger Tor hinduchgehen, so wie hier Chris Barbers Bus das Tor passiert. Oder wie Horst Buchholtz mit seinem Motorrad in dem Billy Wilder Film Eins, Zwei, Drei. Es gab zwei Berlins, aber es gab noch keine Mauer. Die wurde allerdings gebaut, während Billy Wilder seinen Film drehte, das Brandenburger Tor mussten sie jetzt in Geiselgasteig nachbauen. Es wurde immer schwieriger in den Osten Berlins zu gelangen. Und die dreitausend DDR Bürger, die Chris Barber 1959 im Westen in der Deutschlandhalle gehört hatten, konnten 1961 den Osten nicht mehr verlassen.

Der Bahnhof Friedrichsstraße wurde zu einer Art Festung umgebaut, eine Ausreise mit der S-Bahn wurde für die Bürger Ost-Berlins unmöglich. Die S-Bahn fährt zwar immer noch rund um Berlin, hält aber im Osten nur noch in der Friedrichstraße. Alle anderen Bahnhöfe sind zu Geister-Bahnhöfen geworden. Und auch die Einreise der Bürger der BRD (ein Kürzel, das damals nur von der DDR verwendet wurde) wurde schwieriger, endlose Passkontrollen. Wenig später standen an dem Checkpoint C, der im Nato Alphabet Charlie heißt, Panzer. Auf beiden Seiten.

Aber Ost-Berlin musste immer wieder sein. Wegen der Museumsinsel. Wegen dem Löwentor und dem Pergamonaltar. Und der Nationalgalerie, da war ich beinahe zuhause. Vor sechzig Jahren war ich mit meiner Freundin Traute, die leider viel zu früh verstorben ist, eine Woche in Berlin. Wir bewegten uns von Museum zu Museum. Wir hatten noch kein Abitur, aber ihr war klar, dass sie Kunst studieren würde. Mir war klar, dass ich Kunstgeschichte studieren würde. Und an diesem schönen Spätsommertag, als wir auf der Museumsinsel landeten, konnte ich es wieder einmal nicht lassen, den Mini-Kunsthistoriker herauszulassen und gab vor jedem Bild meine Kommentare ab.

Als wir bei Franz Krüger und seinem Bild von der Parade auf dem Opernplatz angekommen waren, gesellte sich eine vierköpfige Familie aus Sachsen zu uns, die irgendwie den Eindruck hatten, dies sei eine offizielle Museumsführung. Bei der Nennung von Pferde-Krüger nickten sie schon alle fachmännisch mit den Köpfen, und als ich dann noch hinzufügte, dass Krüger bei einem Landschaftsmaler namens Kolbe gelernt hatte, den man den Eichen-Kolbe nannte (weil er immer so schöne Eichen in seine Bilder malte), waren sie von mir begeistert. Pferde-Krüger und Eichen-Kolbe, das kann man sich leicht merken. Und dann zur Krönung noch die Geschichte, dass Krüger am Anfang seiner Karriere Kohlezeichnungen von Pferden und Stallburschen gemacht hat, für fünf Groschen das Bild. Die Geschichte stimmt wahrscheinlich nicht, kommt aber immer gut an. Am Ende des Nachmittags war die Gruppe, die wir von Saal zu Saal mitschleppten auf etwas über zwanzig Leute angewachsen. Traute hatte die ganze Zeit über Schwierigkeiten, nicht vor Lachen loszuprusten. Ein schwedisches Diplomatenehepaar mit einem verzogenen Gör gab mir zum Schluss sein ganzes DDR Blechgeld. Sie glaubten wohl, einem jungen DDR Bürger damit einen großen Gefallen zu tun.

Mein Berlin 1961 das waren die Museumsinsel und die Gemäldegalerie in Dahlem in der Lansstraße, alles, was Wilhelm von Bode damals zusammengekauft hatte. Manche Bilder muss ich immer wieder sehen, manche Bilder habe ich schon so häufig gesehen, dass ich das Gefühl habe, sie gehörten mir. Also zum Beispiel das Charlottenburger Schloß, da bin ich immer nur rein, um mir das Portrait von Harry Graf Kessler anzusehen. Und den Mönch am Meer von Caspar David Friedrich im Vorbeigehen. Ich weiß, dass das schon Snobismus ist. Und neben der Kunst war mein Berlin das Kino. Oder genauer die vielen Kinos, wie hier der Zoo Palast, wo man Filme sehen konnte, die es bei uns in der Provinz nicht gab. Obgleich sich unser Schülerfilmclub schon bemühte, wichtige Filme zu zeigen.

Als ich in dem Wikipedia Datenblatt für den 30. Mai las, dass Walter Felsenstein, Gründer, Intendant und Chefregissuer der Komischen Oper Berlin (Bild), am 30. Mai 1901 geboren wurde, fiel mir ein, dass ich in den Sixties eine Operninszenierung von ihm in Ost-Berlin gesehen hatte. Und es wurde mir plötzlich klar, dass Opernbesuche bei all meinen vielen Berlinfahrten nie auf meinem Programm standen. Kinos und Museen immer wieder, Jazzkonzerte und die erste Disco Berlins am Hohenzollerndamm (wo man Boogie-Woogie, Twist oder Schmuse-Blues tanzte, im Osten tanzt man etwas, das Lipsi heißt). Und dann war da noch Juliette Gréco in der Komödie am Kurfüstendamm, sogar einmal die Wühlmäuse, als sie noch in einem kleinen Saal auftraten. Und die blonde Beate Hasenau in dem politischen Kabarett die bedienten, aber keine Oper. Nur zweimal in all den Jahren.

Das hier nannten die Berliner die dicke Wand, es ist die Straßenfront zur Bismarckstraße (mit der Skulptur von Hans Uhlmann) der am 24. September 1961 neu eröffneten Deutschen Oper Berlin, deren Schöpfer der Architekt Fritz Bornemann war. Im Osten baut man die Mauer, hier hatte man auch eine Mauer; aber diese Mauer aus Waschkieselputzplatten (70x12 Meter) trennte nicht die Stadt, sie trennte nur den Autolärm der vierspurigen Bismarckstraße vom Gesang auf der Bühne.

Es war ein potthäßliches Bauwerk. Die Sängern Christa Ludwig hat gesagt, es sei eine Schachtel von innen und außen, kühl, funktional, sachlich und ohne jeden Charme. Die Sängerin war zur Premiere eingeladen worden und hatte sich ein neues Kleid gekauft: Mit sehr viel großem Tüll. Als ich mich aber auf meinen Platz setzte, erstreckte sich mein Rock über die Plätze rechts und links neben mir. Da konnte niemand mehr sitzen. Sie ging in die Damentoilette und fragte nach einer Schere. Kurzerhand schnitt ich sämtliche Volants unter dem Rock ab! Dass Damen in großem Abendkleid in der Oper auch sitzen wollen, hatte der Architekt wohl nicht bedacht. Anfang Oktober war ich in der Betonschachtel. Es gab Don GiovanniFischer-Dieskau hatte zur Premiere gesungen, als der Bundespräsident Lübke im Publikum saß. Doch in der Woche, als ich die Oper hörte, hatte er das schon nicht mehr nötig, in Berlin zu sein. Er hatte andere Verpflichtungen. Wenn ich in Bremen geblieben wäre, hätte ich ihn in der Glocke die Winterreise singen hören können. Immerhin war Christa Ludwigs Ehemann Walter Berry, der den Leporello sang, noch da. 

Was bei dem Presserummel um die Deutsche Oper Berlin nicht erwähnt wurde, war die Tatsache, dass man drüben in der Staatsoper Unter den Linden auch einen Don Giovanni hätte sehen können. Die Oper war 1955 neu eröffnet worden, aber man hatte damals den goldenen Schriftzug Fridericus Rex Apollini et Musis durch Deutsche Staatsoper ersetzt, was für den Dirigenten Erich Kleiber ein Grund war, seine Stelle als Generaldirektor zu kündigen: Für mich ist dieser Vorfall ein trauriges, aber sicheres Symptom, dass, wie im Jahr 1934, Politik und Propaganda vor der Tür dieses ‚Tempels‘ nicht haltmachen werden. 

Politik und Propaganda machen damals nirgendwo halt. Auch die Namensgebung Deutche Oper Berlin war ein politischer Akt gewesen. Die erste Spielzeit nach dem Mauerbau hatte für die Staatsoper unter den Linden einschneidende Auswirkungen. Die meisten Künstler gingen in den Westen. Mitarbeiter, die im Westteil der Stadt wohnten, konnten ihren Arbeitsplatz noch erreichen, aber konnten ihr Gehalt in Ostmark nicht mehr 1:1 tauschen. Sie blieben, das betraf vor allem die Chormitglieder, in der Folgezeit weg. Um das Ensemble zu retten, holte man sich von den Musikhochschulen der DDR alle angehenden Musiker, die Solisten kamen aus anderen Häusern der DDR oder wurden von Opernhäusern des Ostblocks ausgeliehen. Den Don Giovanni sang 1961 der tschechische Bariton Rudolf Jedlicka.

Die Sänger der Deutschen Oper Berlin trugen 1961 Kostüme, die an das 18. Jahrhundert erinnern sollten, und das Bühnenbild war ein klein wenig scheußlich, eine moderne Inszenierung war das nicht. Die dicke Wand war moderner. Und der Don Giovanni in Bremen im Januar 1966 in der Inszenierung von Götz Friedrich und dem Bühnenbild von Josef Svoboda war etwas ganz anderes. Ich hatte für die Deutsche Oper Berlin (wie die Städtische Oper jetzt auf den Vorschlag von Ferenc Fricsay hieß) eine billige Karte ganz weit oben bekommen; es war schwierig gewesen, überhaupt eine Karte zu bekommen. Was mich faszinierte, war die große weißbeleuchtete Glasplatte vor dem Dirigenten, auf der die Noten lagen. Dagegen hob sich Ferenc Fricsay in seinem schwarzen Frack wie ein Gespenst ab. Man merkte Fricsay an, dass er schon schwerkrank war, und wenige Monate später hat er sein letztes Konzert gegeben.

Götz Friedrich, der in den sechziger Jahren ein halbes Dutzend Opern in Bremen in der Ära von Kurt Hübner inszenierte, war Mitarbeiter von Walter Felsenstein an der Komischen Oper in Berlin (Ost) gewesen. Nach einem Gastspiel in Stockholm 1972 kehrte er nicht mehr in die DDR zurück. Zwanzig Jahre nach dem Don Giovanni an der Deutschen Oper Berlin wurde er da Generalintendant und Chefregisseur. Da war Felsenstein schon tot. Felsenstein war ein berühmter Mann, und beinahe all seine Inszenierungen wurden mit Adjektiven wie epochal oder legendär versehen. So auch die Janácek Oper Das schlaue Füchslein, ein Werk, in das er sich auf eine seltsame Art verliebt hatte, wie er sagte. Die Inszenierung, die 1965 für das Fernsehen aufgenommen wurde, gilt heute als sein Hauptwerk. Man bekommt sie bei arthouse als DVD, Sie können sie aber auch hier sehen.

Man redete in Berlin von nichts anderem, Felsensteins Opern zogen die Leute an. Das hier ist keine Corona Impfschlange, das sind Jugendliche in Karl Marx Stadt, die unbedingt in die Oper wollen. Da ist Karl Riha Chef, ein Österreicher wie Felsenstein, und Karl Riha, bei dem Harry Kupfer gelernt hat, war Kult. Es ist eine seltsame Sache, dass zwei Österreicher, die jederzeit aus der DDR ausreisen können, das Musikleben der DDR bestimmen. Obgleich ich mit Leoš Janáček und singenden Füchsen nicht so viel anfangen kann, bin ich in den Osten, um mir Das schlaue Füchslein anzusehen. Meine Verwandten rieten mir, das Geld 1:1 einzutauschen, aber ich dachte nicht daran. Ich nahm den Kurs, den mir die Wechselstube in West-Berlin anbot, und der war ganz bestimmt nicht 1:1. So konnte ich mir eine sehr teure Karte kaufen, die natürlich sehr billig war. Und dann saß ich ganz weit vorn, da wo die Leute mit den teuren Karten saßen. Das waren übergewichtige SED Parteibonzen mit Orden am schwarzen Anzug. Es waren noch andere mit Orden in den vorderen Reihen. Das waren englische Leutnants in blauen Paradeuniformen, die ihren Mädels mal ein bisschen DDR Kultur gönnen wollten. Ich fand die Tiere auf der Bühne in ihren billigen DDR Trikotagen total bescheuert, da gefielen mir die Bonzen und die Leutnants besser.

Ich weiß, ich bin ein Banause, ich kann's nicht ändern. Für Walter Felsenstein Fans habe ich hier noch ein Portrait und eine Dokumentation des berühmten Regisseurs. Man bekommt nicht nur Felsensteins Inszenierung von Das schlaue Füchslein bei arthaus, man bekommt da auch die Don Giovanni Aufführung von 1961, Kulturdenkmäler aus einer inzwischen ganz fremden Zeit. Ich bin der Bundesregierung immer noch dankbar, dass sie die Sache mit den 50 Mark Berlinreisen erfunden hat. Wenn ich Walter Felsensteins Geburtstag als Anlass genommen habe, um über die Sixties in Berlin zu schreiben, dann ist das nicht das erste Mal, dass ich über das Berlin meiner Jugend schreibe. Sie könnten jetzt auch noch die schwer autobiographischen Posts Liaisons Dangereuses, Karl Lemke, Kunsterziehung und Bauarbeiten lesen.

Mittwoch, 26. Mai 2021

Malbrough s'en va-t-en guerre


Nachts geht nun das Singen und Lärmen recht an. Das Liedchen von Marlborough hört man auf allen Straßen, dann ein Hackebrett, eine Violine, schreibt Goethe in seiner Italienischen Reise. Das Liedchen, das man auf allen Straßen hört, ist ein Ohrwurm, es verfolgt Goethe auf seinen Reisen. Er schreibt es in seine zweite Römische Elegie hinein:

Ehret, wen ihr auch wollt! Nun bin ich endlich geborgen!
Schöne Damen und ihr, Herren der feineren Welt;
Fraget nach Oheim und Vettern und alten Muhmen und Tanten;
Und dem gebundnen Gespräch folge das traurige Spiel.
Auch ihr übrigen fahret mir wohl, in großen und kleinen
Zirkeln, die ihr mich oft nah der Verzweiflung gebracht,
Wiederholet, politisch und zwecklos, jegliche Meinung,
Die den Wandrer mit Wut über Europa verfolgt.
So verfolgte das Liedchen Malbrough den reisenden Briten
Einst von Paris nach Livorn, dann von Livorno nach Rom,
Weiter nach Napel hinunter; und wär’ er nach Smyrna gesegelt,
Malbrough! empfing ihn auch dort, Malbrough! im Hafen das Lied.
Und so mußt’ ich bis jetzt auf allen Tritten und Schritten
Schelten hören das Volk, schelten der Könige Rat.
Nun entdeckt ihr mich nicht sobald in meinem Asyle,
Das mir Amor der Fürst, königlich schützend, verlieh.
Hier bedecket er mich mit seinem Fittich; die Liebste
Fürchtet, römisch gesinnt, wütende Gallier nicht;
Sie erkundigt sich nie nach neuer Märe, sie spähet
Sorglich den Wünschen des Manns, dem sie sich eignete, nach.
Sie ergötzt sich an ihm, dem freien, rüstigen Fremden,
Der von Bergen und Schnee, hölzernen Häusern erzählt;
Teilt die Flammen, die sie in seinem Busen entzündet,
Freut sich, daß er das Gold nicht wie der Römer bedenkt.
Besser ist ihr Tisch nun bestellt; es fehlet an Kleidern,
Fehlet am Wagen ihr nicht, der nach der Oper sie bringt.
Mutter und Tochter erfreun sich ihres nordischen Gastes,
Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib.


Was ist das für ein Lied, das ganz Europa seit 1781 zu singen scheint? Ich mache mir die Antwort leicht und zitiere einmal etwas, das schon in dem Post Stately Homes steht: Marlbrough s'en va-t-en guerre, ne sait quand reviendra trällern französische Kinder seit dreihundert Jahren. Damals ist das Lied entstanden, als man ihn nach der Schlacht von Malplaquet fälschlicherweise totgesagt hatte. Das Lied ist leicht zu lernen, For he is a jolly good fellow hat die gleiche Melodie. Aber der Herzog von Marlborough gewinnt zusammen mit Prinz Eugen (dessen Taten wir den zweiten musikalischen Dauerbrenner, Prinz Eugen, der edle Ritter, verdanken) die Schlacht von Malplaquet und wird noch viele Schlachten gewinnen. Unter anderem die entscheidende Schlacht von Blindheim. Das kann ja nun kein Engländer aussprechen, also macht man Blenheim daraus. Und Blenheim heißt das neue Schloss, das sich John Churchill baut. Das dankbare englische Volk gibt ihm das Geld dazu. Genau genommen ist das Volk nie gefragt worden, ob es dankbar ist oder Geld geben will, das Parlament beschließt das mal so.

John Churchill, der spätere Herzog von Marborough, wurde am 26. Mai 1650 geboren. Da war der Dreißigjährige Krieg mal gerade zwei Jahre zuende, und viele dachten, dass das jetzt genug an Krieg war. Da dichtet Paul Gerhardt Gott Lob! Nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, dass nunmehr ruhen sollen die Spieß’ und Schwerter und ihr Mord. Aber der Krieg ist nie zuende. Vier Jahre nach Churchills Geburt beginnt der Bremisch-Schwedische Krieg (der hier schon einmal erwähnt wurde), und wenn der junge John Churchill alt genug für die Soldaten ist, darf er am Krieg der Franzosen gegen die Holländer teilnehmen. Den habe ich in dem Post Holland nicht erwähnt, weil der Post eh zu lang war. Hat aber keinen Leser abgeschreckt. Als John Churchill 1678 zum Colonel ernannt wird, heiratet er die achtzehnjährige Sarah Jennings, er wird ihr jahrzehntelang treu sein. Auf diesem Portrait des irischen Malers Charles Jervas ist sie vierundfünfzig, aber man sieht es ihr nicht an.

Der Herzog von Marlborough ist dankbar für den Spanischen Erbfolgekrieg, der ihn berühmt machen wird. Er ist als Feldherr Englands ein mächtiger Mann, aber der Einfluss seiner Gattin ist noch größer. Sie ist die Freundin der Königin Anne, und eigentlich regiert sie England. Das wissen Sie natürlich, weil Sie den vielfach preisgekrönten Film The Favourite gesehen haben. Falls Sie den nicht gesehen haben, können Sie ihn hier anklicken. Und Malbrough s'en va-t-en guerre können Sie natürlich auch hören, einmal in einer schönen Barockversion und einmal ganz frech von Colette Renard, die eine ganz schmutzige Version des Liedes singt. Das fängt schon damit an, dass sie statt ne sait quand reviendra den Text in ne sait quand baisera ändert.

Malbrough s'en va-t-en guerre taucht über die Jahrhunderte immer wieder auf, sei es in Beaumarchais' Le Mariage de Figaro (dort allerdings mit anderem Text) oder Beethovens Wellingtons Sieg. Wir finden das Lied in Tolstois Krieg und Frieden und in Jean Renoirs zweitem Tonfilm La Chienne. Aber beim European Song Contest hätte es wahrscheinlich keine Chance.

Sonntag, 23. Mai 2021

Pfingsten


Im Jahre 1906 schrieb Erich Mühsam über die Dichterin Paula Dehmel: Paula Dehmel, geb. 1868 in Berlin, lebt ebenda. Eine ausgezeichnete Kinderdichterin. Richard Dehmel gab in Gemeinschaft mit ihr das oben erwähnte Buch 'Fitzebutze' heraus; doch muß, weil nicht allgemein bekannt, hervorgehoben werden, daß in dieser Sammlung die Mehrzahl der Beiträge und zudem die besten und wirksamsten der Gedichtchen von Paula Dehmel herrühren. Sie weiß Töne anzuschlagen, die in der Seele der kleinen Kinder wiederklingen, indem sie mit dem Kinde in dessen eigener, unbeholfener Sprache lallt und die Sprache ins Kindlich-Lispelnde übersetzt. Wieviel mehr sie in dieser durchaus nicht zu unterschätzender Kinderkunst als Pädagoge und als Spielkamerad der Kleinen leistet als Richard Dehmel, wird ersichtlich, wenn man den neuerdings von ihr allein verfaßten 'Rumpumpel' betrachtet, oder im 'Buntscheck', in dem sie ihre Beiträge namentlich unterzeichnet, diese mit denen des 'Zwei Menschen'-Dichters vergleicht. Wenn Mühsam Paula Dehmels ehemaligen Ehemann einen Zwei Menschen-Dichter nennt, dann hat das natürlich etwas mit dem Versepos Zwei Menschen: Ein Roman in Romanzen zu tun, mit dem Richard Dehmel 1903 sich und seine neue Frau Ida in Szene setzte. Ein Werk, wie diese zwei Menschen über Trieb und Begierde, über alles Irdische hinweg zum Ewigkeitsgefühl emporwachsen und -reifen. Hat Theodor Storms Freund Alfred Biese geschrieben. Sie können das Werk hier im Volltext lesen. Und sie können hier auch noch Schönbergs Vertonung des Gedichts Verklärte Nacht hören.

Als sich Dehmel im Jahre 1900 von seiner Frau Paula scheiden ließ, galt er als Deutschlands berühmtester Dichter. Von dem Ruhm ist wenig geblieben. Aber die Kindergedichte von Paula Dehmel, die kann man heute immer noch kaufen. Aus dem Band Das liebe Nest (hier im Volltext) nehme ich mir mal das heutige Pfingstgedicht:

Wenn`s Pfingsten regnet
Oben aus dem Fahnenhaus
Guckt das schwarze Wettermännchen raus,
Spreizt die Beine und grinst uns an;
Schäme dich, alter Wettermann!
Am Ostersonntag, vor sieben Wochen,
Hast du dem Fritze fest versprochen,
Daß zu Pfingsten, im Monat Mai,
Das allerschönste Wetter sei.
Und nun regnets, liebe Not,
Alle hellen Blüten tot,
Sie liegen da wie nasser Schnee,
Auf den Wegen steht See an See;
Ja, wenn wir schon drinnen baden könnten,
Wie die Spatzen oder die Enten!
Wir dürfen aber garnicht raus,
Sehn so mucksch wie Maulwürfe aus;
Röch nicht der Kuchen so lecker her,
Wüßt man gar nicht, daß Feiertag wär.
Nicht mal die Pfingstkleider kriegt man an;
Schäme dich, schwarzer Wettermann!


Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Pfingstfest.

Donnerstag, 20. Mai 2021

Holland


1950 nach Holland zu fahren, war keine so gute Idee meiner Eltern. Die hassen da in Holland die Deutschen immer noch. Drei Fähren nach Texel nehmen uns gar nicht erst mit, und so stehen wir dann stundenlang im Hafen von Den Helder. Ich gucke mir die Fähranlage an (etwas größer als unsere Weserfähre nach Lemwerder) und das ölig graue Wasser der Nordsee. Außer Möwen und Wolken ist hier nichts, das haben wir an der Weser auch. Empörte Holländer kloppen mit der flachen Hand auf das Autodach, wenn sie den dunkelblauen Opel mit dem Kennzeichen AE als ein Auto aus Deutschland identifiziert haben. Wahrscheinlich glauben sie, dass wir die holländische Marine ausspionieren wollen. Die liegt hier grau in grau im Hafen, obgleich sie seit den glorreichen Tagen der Admirale Tromp und de Ruyter ein bisschen geschrumpft ist. Der Hotelbesitzer auf Texel, bei dem wir im voraus gebucht hatten, erzählt uns mit einem schmierigen Grinsen im Gesicht, dass er keine freien Zimmer mehr hätte. Die Abreise kommt einer Flucht gleich. Mammi ist am Heulen. 

Wir haben nicht gewusst, dass hier vor fünf Jahren das letzte Schlachtfeld Europas gewesen ist. Und auch die Holländer reden nicht gerne über den russischen Krieg, der hier nach Kriegsende sechs Wochen lang tobt. Hier hat sich das verbündete georgische Hilfsbataillon Königin Tamar gegen die deutschen Wehrmachtstruppen erhoben. Deutschland hat längst kapituliert, da wird hier noch wochenlang gemordet. Der holländische Widerstand bringt angebliche Kollaborateure um, jeder kämpft hier gegen jeden. Als die Kanadier endlich auf die Insel übersetzen, ist die Insel verwüstet. Die 228 überlebenden Georgier werden entsprechend der Beschlüsse der Konferenz von Jalta in die Sowjetunion überführt und verschwinden in Stalins Arbeitslagern. Die Holländer, die den Georgiern geholfen haben, werden jetzt von ihren eigenen Landsleuten verfolgt. Der deutsche Inselkommandant wird 1972 in Oldenburg freigesprochen, der Mordvorwurf kann nicht aufrechterhalten werden. Wenn überhaupt, sei es Totschlag gewesen, und der sei verjährt. Und 1979 kann der stellvertretende Kommandeur, der ehemalige Major Klaus Breitner, ungestraft sagen: Jeder von uns wusste, dass wir den Krieg verloren hatten. Aber vorher wollten wir Rache nehmen an den Georgiern. Diese Schweine, diese Mörder, diese Verbrecher. Sie waren Ratten, die das sinkende Schiff verließen. Sie müssen alle zusammen heute noch aufgehängt werden, denn das verdient ein Deserteur, ein Kriegsverbrecher.

Wir sind nach dem kurzen holländischen Abenteuer froh, dass wir auf Norderney landen, da nimmt einen die Fähre mit, und Zimmer gibt es auch. Ich kann es sowieso nicht verstehen, was meine Eltern nach Holland drängt. Was ist an den deutschen Nordseeinseln oder dem Harz falsch? Obgleich es natürlich spannend ist, in ein anderes Land zu fahren. 1950 erst recht. Allein der Grenzübertritt bei Nieuweschans dauert eine halbe Stunde. Selbst für mich und meinen kleinen Bruder müssen Kinderpässe griffbereit sein. Andererseits kennen wir Kontrollen, vor wenigen Jahren konnte man nicht von Vegesack nach Bremen fahren, ohne spätestens in Grambke in einer Kontrolle der amerikanischen Militärpolizei zu landen. Da habe ich meine ersten Schwarzen gesehen, lange Kerle mit einem weißen Helm, auf dem MP stand.

Das erste Mal in den fünfziger Jahren über den Abschlussdeich zu fahren, der nie aufzuhören scheint, ist natürlich toll. Ein Weltwunder, auf das die Holländer stolz sind. Auf dem weißen Aussichtsturm sieht man nur riesige Wasserflächen links und rechts. Auf dem Parkplatz unten wieseln zweifelhafte Typen mit Trenchcoat und Seidenschal herum, die den ersten Touristen garantiert echte Schweizer Uhren andrehen wollen. Meine Eltern werden sich von dem ersten Hollanderlebnis nicht abschrecken lassen, und so werden wir in den nächsten Jahren immer wieder in Holland sein. Ischa von Bremen aus nicht so weit. Wir bringen Opa auch immer Willem II Zigarren mit, damit er mal was anderes raucht als seine schrecklichen Stumpen. Die Reste der Asche landen häufig auf seiner Weste, im Haus trägt er anstelle seines Jacketts eine graue Strickjacke über der Weste, im Sommer eine weiße Leinenjacke. Ich habe ihn nie ohne Schlips und Kragen und Weste gesehen. Die Stumpen und den Kautabak kann Mammi an Opa ja überhaupt nicht ausstehen. 

Opa redet nie über Holland. Erinnert ihn die Zigarrenmarke Willem II an Wilhelm II? Ist der Hauptmann der Reserve da mal in den zwanziger Jahren hingepilgert, um seinen Kaiser zu sehen, der ihm im Ersten Weltkrieg die Hand geschüttelt hatte? Der Kaiser hackte da ja damals Holz und zog seine alten Garderegiments Uniformen an, um sich jedes Jahr damit photographieren zu lassen. Das sieht von Jahr zu Jahr lächerlicher aus. Er könnte sich ja für die holländische Malerei interessieren, aber das tut er nicht. Das einzig Gute für ihn ist, dass er Max Liebermann nicht mehr zu sehen braucht. Der kommt jetzt nicht mehr nach Holland. Er ist jetzt der Präsident der Preußischen Akademie der Künste geworden. Wilhelm ärgert sich noch immer, dass er ihm 1917 den Roten Adlerorden III. Klasse verliehen hat. Aber een Anarchist ist der Kerl doch, hatte er außer Hörweite gesagt. Und er hat sich ewig geärgert, dass der Kerl neben dem Brandenburger Tor wohnte. Sozusagen bei Preußens gegenüber.

Manchmal fahren wir nur für ein Wochenende nach Holland, manchmal sind wir aber auch für den ganzen Sommerurlaub in Egmond aan Zee (beim ersten Egmond Urlaub werde ich auch Goethes Egmont lesen, freiwillig). Da werde ich jeden Abend von Egmond nach Bergen aan Zee am Strand entlang gehen, als Ersatz für den abendlichen Weserspaziergang. Wenn ich von Bergen nach Egmond zurückgehe, ist es schon ganz dunkel. Aber hier kann man sich nicht verlaufen, Egmond hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen unübersehbaren Leuchtturm. Wenn ich achtzehn bin, gibt mir Vati manchmal auch abends den Wagen, und ich fahre an der Küste entlang. Oder ich sitze beim Anbruch der Nacht in Egmond in einer Bar am Strand, die nur aus Glas zu bestehen scheint und wie eine Insel in den Strand hineinragt. Ich trinke einen Whisky. Das trinkt man damals, auch in den Filmen, die man jetzt sieht. In Deutschland verkauft sich Vat 69 besonders gut, was aber whiskymäßig so ziemlich das Schlimmste ist, das je abgefüllt wurde. Draußen kriecht die Nacht vom Ärmelkanal her über den Strand, der Kellner hat angesichts der wenigen Gäste das Licht heruntergedreht. Ich muß an einen anderen Strand denken, auf einem Bild eines Malers aus Skagen. Letztes Jahr in Dänemark. Die müssen auch so ein blaues Licht gehabt haben. Die blaue Stunde ist auf vielen ihrer Bilder.

Wenn wir durch Holland fahren, dann fahren wir ohne festes Ziel, besichtigen Kirchen und Museen, aber das alles ohne Baedeker. Den hätte es schon gegeben, es ist eins der ersten Bücher, das der Erbsenzähler Karl Baedeker 1839 herausgebracht hat. Denn Tourismus nach Holland gibt es schon lange, abgesehen von zimmernden Zaren und dem Kapellmeister des polnischen Königs (letzterer lernt auf einer Trekschuite seinen späteren Vorleser Henri de Catt kennen). Und aus Bremen kommen schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert junge arbeitssuchende Männer nach Holland, meistens die Verlierer der Gesellschaft. Hollandgängerei heißt das Phänomen, bei dem die Deutschen den Holländern diejenigen schicken, die sie nicht mehr haben wollen. Hört nach der Franzosenzeit auf. Es sei denn, man zählt Wilhelm II noch dazu.

Einmal geraten wir durch Zufall an einen Ort, wo es riesige Tulpenfelder gibt. Zehntausend Deutsche sind schon da, aber die sind mit den Reisebussen nicht zufällig hier, die wussten, dass sie zum Keukenhof fahren, weil es vorne am Bus dran steht. Da wir von einer kleinen Nebenstraße gekommen sind, haben wir das Ausmaß des Ganzen zuerst gar nicht gesehen. Abgesehen von den Tulpen und den Touristen gibt es hier aber einen schönen Park, den Jan David Zocher 1857 als einen Englischen Landschaftsgarten angelegt hat. Holland ist verkehrsmäßig übersichtlich, es sei denn, man kommt in Assen auf die Motorradrennstrecke und fährt eine halbe Stunde lang im Kreis. Die Autofahrer sind zurückhaltend und ruhig, auf den wenigen Autobahnen gibt es nicht die Agressivität und die Hackordnung, die es auf deutschen Autobahnen gibt. Es ist sicher kein Zufall, dass der DAF 600 (das Auto für die Oma) aus Holland kommt. Die Holländer werden ihre unaufgeregte Art des Autofahrens auch nach Deutschland mitbringen, wenn sie eines Tages in Divisionsstärke mit ihren Wohnwagen einfallen, um die deutschen Autobahnen lahmzulegen.

Die Hollandfahrt des Skatklubs meiner Eltern ist ein besonderes Ereignis. Günther Köpp hat die Hotels ausgesucht, in denen wir uns eine Woche lang abends treffen. Mit dem Guide Michelin quer durch Holland, davon versteht er etwas. Nicht, dass er nichts davon verstünde, klaffende Wunden an Knien oder auf dem Kopf zu nähen oder zu klammern. Wenn mir so was in meinen Kindertagen passiert, renne ich gar nicht erst heulend nach Hause, ich gehe gleich zu Dr Köpp. Jede Familie kann den Tag über machen, was sie will. Nur abends müssen alle zur festgesetzten Zeit im Hotel sein. Und dann wird das serviert, was Günther Köpp für uns ausgesucht hat. Im Hof van Holland in Hilversum rollen die Bediensteten sogar einen Flügel an den langen Speisetisch. Danach kommt ein Pianist und spielt den ganzen Abend gedämpfte Salonmusik. Am holländischen Essen kann man in all den Jahren und in allen Hotels und Gaststätten nicht herummäkeln, von dem wunderbaren Paprikaschnitzel in Bergen aan Zee träume ich noch immer. Glücklicherweise servierten die auch noch Tuborg dazu und nicht Amstel, Heineken oder Stella Artois, also all das, was unter den Begriff Grachtenpisse fällt. Und ich werde vom holländischen Frühstück für den Rest des Lebens die Marotte mitnehmen, morgens zu einem schwarzen Tee Kandiskuchen mit Butter belegt zu essen. 

Wir Jugendlichen verabreden in dieser Woche beim Frühstück bei Honigkuchen und Schokoladenstreuseln (so was Perverses gibt es in Deutschland nicht als Brotaufstrich), mit wem wir heute fahren wollen. Wenn man die Eltern satt hat, kann man bei Kampens, Köpps oder Lindners mitfahren und mit denen Holland erleben. Die erstgenannten haben einen Mercedes, Lindners einen Borgward Isabella, wir unseren roten Opel. Die Mercedesbesitzer sind allerdings keine so zuverlässigen Autofahrer. Günthers Daimler wird am letzten Tag einen Blechschaden vorne links am Kotflügel haben. Und wenn man mit Heiner Lindner fährt, läuft man Gefahr, dass er das zehntausend (oder mehr?)-zeilige ungarische Nationalepos deklamiert, das er in der Jugend mal auswendig gelernt hat. Macht er gerne beim Autofahren. In Amsterdam sind wir bei dieser Fahrt auch, aber da ist heute alles voll. Die Königin hat fünfzigsten Geburtstag. Wir sehen sie in der Kutsche. Elisabeth und Philip sehen wir an diesem Tag auch. Und das alles aus Zufall, wir haben nicht darauf gewartet. Wir wussten nicht mal, dass die alle an dem Tag in Amsterdam waren. Aber abends können wir die Erlebnisse des Tages austauschen, später, wenn wir wieder zuhause sind, können wir Photos tauschen. Ich habe damals schon meinen eleganten italienischen Trenchcoat von Kalich in der Böttcherstraße. Auf jeden Fall stehe ich mit dem auf einem Photo zusammen mit Anne Geertje frierend auf einem holländischen Deich. 

Mein Vater hat auch ein Händchen dafür, gute Gasthäuser auszusuchen, erst viel später werde ich dahinter kommen, dass er sich an einem Ratgeber des ADAC orientiert. Einmal sind wir zur Mittagszeit in einem kleinen verschlafenen Ort in einem Hotel, das einwandfrei einmal bessere Zeiten gesehen hat. Ein Serviermädchen mit hochrotem Kopf entschuldigt sich, dass wir noch etwas warten müssten, der Besitzer (der gleichzeitig der Küchenchef ist) sei noch beim Barbier. Obgleich man draußen neben der Tür eine Plakette vom Koninklijke Nederlandsche Automobiel Club hat, ist man heute auf Mittagsgäste nicht vorbereitet. Wenn der Besitzer kommt, wird er rotgesichtig frisch rasiert sein, ein wenig nach Rasierwasser und Oude Genever riechen, und mit einem genialischen Schwung eine Platte amuse gueule auf den Tisch schieben und mitteilen, es gäbe heute nur ein einziges Gericht, das er jetzt selbst zubereiten und in zwanzig Minuten servieren würde. Und das sei die beste Hühnersuppe, die wir je gegessen hätten. Und er hält Wort, zwanzig Minuten später bringt er eine riesige blau-weiße Delfter Terrine mit der köstlichsten Hühnersuppe, die sich ein Gourmet ausdenken kann. Immer wenn ich mir bei einem grippalen Infekt eine Dose Hühnersuppe aufmache (weil das gut gegen den Schnupfen sein soll), muß ich an diese märchenhafte Hühnersuppe mit viel Huhn, aber nicht zu fett, duftigem Eierstich, Spargelstückchen und frischen Kräutern denken.

Wenn mein Freund Ekke im Juli 1962 aus Amerika zurückkommt, wo er ein Jahr bei einer Gastfamilie in Weedsport war, werden wir aus unserem Urlaubsort nach Rotterdam fahren, um ihn willkommen zu heißen. Rotterdam besteht beinahe fünfzehn Jahre nach dem Krieg nur aus Neubauten, die Deutschen haben es im Zweiten Weltkrieg in Grund und Boden gebombt. Ob Mammi damals an ihre Jugendliebe, den Unteroffizier Hans Bünte vom Infanterieregiment 65, gedacht hat, der hier 1940 gefallen ist? Die Seven Seas kommt pünktlich um elf in den Hafen, aber es dauert lange, bis all die Schüler, die mit dem American Field Service ein Jahr in Amerika waren, von Bord kommen. Unser Hotel hat uns am Morgen Lunchpakete mitgegeben. Über die sich die Eltern von Claus Jäger und Ekkes Vater hermachen, meine Mutter wird Albert das noch jahrzehntelang vorhalten: Albert, Du hast uns die ganzen Lunchpakete weggefressen. Dabei hatten Jägers das meiste verputzt. Die Mutter von Claus packt riesige Mengen Fisch aus (Jägers haben ein Fischgeschäft), aber das ist nichts für mich, da streune ich lieber auf dem Kai der Holland-Amerika Linie umher. Vaddi würde ja gerne bei dem Fisch zugreifen, weil er ein leidenschaftlicher Fischesser ist. Aber er wird von meiner Mutter davon abgehalten. Sie hält den Kontakt zu Jägers auf kühler Distanz. Claus Vater ist Kapitän gewesen, bevor er in den dreißiger Jahren mit dem ambulanten Fischhandel angefangen hat, dann kam das Ladengeschäft. Aber das interessiert meine Mutter nicht. Ich weiß nicht, woher sie das hat, dass sie sich wie etwas Besseres vorkommt. Selbst wenn Claus eines Tages Bremer Bürgermeister ist, für sie sind das immer noch die Leute mit dem Fischgeschäft. Die Bornierheit der Bremer Kleinstadtgesellschaft zeigt sich immer wieder in solchen Kleinigkeiten, meine Mutter ist da kein Ausnahmefall. Die sind alle so. Auch wenn sie nicht in der Weserstraße wohnen. 

Ich habe noch ein Photo von der Wiedersehensfeier, Ekkes Vater hat es mit seiner Leica gemacht. Erstaunlich, wie bürgerlich ordentlich man damals im Urlaub ist. Ekke (frisch aus Amerika) trägt einen braun-beigen Sommeranzug, ich einen blau-grau gestreiften Flanellblazer, Krawatte und ein Hemd mit rundem Kragen. So etwas hat nicht jeder. Mein Vater hat seinen hellgrauen Sommerzweireiher an, zu dem ihn sein Schneider überredet hat. Die Damen tragen Sommerkleider und elegante Handtaschen. Mein Bruder und Jörgi, die noch zu jung für Anzüge sind, tragen Pullover, aber sie haben saubere weiße Hemden darunter. Später fährt Vati mit uns zu einem kleinen alten Hotel, wo wir ein verspätetes Mittagsessen zu uns nehmen werden. Es ist schon halber Nachmittag, aber wir haben Hunger, da wir nichts von unseren Lunchpaketen gesehen haben. Der Speisesaal im ersten Stock, den man über eine Wendeltreppe erreicht, ist sehr gediegen, es sind so viele Perserteppiche übereinandergelegt, dass man die Stühle kaum bewegen kann. War wahrscheinlich auch wieder eine Empfehlung vom ADAC. Ein Jahrzehnt später sind die kleinen feinen Hotels verschwunden und wir haben überall Schnellrestaurants, die zu englischen und amerikanischen Ketten gehören. 

Nach dem Essen fahren wir nach Delft. Eigentlich wollte Vati ins Museum Boijmans Van Beuningen, aber Mammi will Delfter Porzellan sehen. Also müssen Brueghels Turmbau von Babel und Carel Fabritius’ Selbstporträt noch ein paar Tage auf uns warten. In Delft werden wir uns den schiefen Kirchturm der Oude Kerk angucken und die Porzellanmanufaktur besichtigen. Da wir keinen Baedeker haben, erfahre ich natürlich nicht, dass hier 1654 das Secreet van Holland, das Munitionslager der Armee, in die Luft geflogen ist. Wobei Carel Fabritius getötet wurde, einer der genialsten Maler, den Holland je gehabt hat. Fabritius hat kurz vor seinem Tod eine Ansicht von Delft gemalt, die erstaunlich ist. Die Perspektive des Bildes mit dem Instrumentenhändler links im Vordergrund erinnert an Aufnahmen mit einem Weitwinkelobjektiv oder einem fisheye Objektiv. Man weiß, dass die Holländer damals Meister im Linsenschleifen gewesen sind. Manche, wie Spinoza sind nebenbei noch Philosoph. Kunsthistoriker vermuten, dass viele holländische Veduten- und Landschaftsmaler im 17. Jahrhundert die camera obscura verwendet haben. Vom berühmtesten Maler aus Delft, Jan Vermeer, kann man in Delft nichts sehen. Da muß man schon nach Den Haag ins Mauritshuis. Da hängt von Carel Fabritius der wunderbare Distelfink, aber auch die große Ansicht von Delft von Vermeer. Also von dem Delft lange nach der Explosion. Wenn man das Bild von Egbert van der Poel damit vergleicht, das gleich nach der Katastrophe gemalt wurde, mit Leichen im Vordergrund und dem halben Delft in Trümmern, kann man erkennen, dass der holländische Fleiß die Katastrophe schnell hat vergessen lassen. 

Vermeers Ansicht von Delft soll auch unter Verwendung der camera obscura gemalt worden sein, obgleich sich die Kunsthistoriker darüber immer noch nicht einig sind. Marcel Proust hat es hier im Mauritshuis am 18. Oktober 1902 gesehen, und das Bild hat ihn nicht mehr losgelassen. Er hat es, oder das, was er davon in der Erinnerung hatte, in À la recherche du temps perdu hineingeschrieben. Allerdings muß man anmerken, dass man den Teil des Bildes, der dem Erzähler so wichtig ist, vergeblich auf dem Bild sucht. Das kleine gelbe Mauerstück ist nicht da. Vielleicht trügt Proust die Erinnerung aus der Zeit vor der technischen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke. Andererseits, wenn ihm das Bild so wichtig ist, warum hat er es nicht von einem Kopisten nachmalen lassen? Oder sich einen kleinen Niederländer mit ebenso schönem Himmel und schönen Lichteffekten gekauft? 1902 geht das noch, für Millionäre wie Proust auf jeden Fall. Aber seinem Lover einen Rolls schenken, dafür hat er Geld. Diese neurasthenischen Ästheten wissen nicht, wo sie ihre Schwerpunkte setzen sollen. Vielleicht ist auch die Beschreibung, von dem, was da nicht ist, ist ein Kunstgriff des Autors. 

Beinahe zwanzig Jahre nach der ersten Begegnung mit Vermeer wird es in Paris im Jeu de Paume eine Ausstellung holländischer Kunst geben. Ein mit Proust befreundeter Diplomat hatte dafür gesorgt, dass Vermeers Ansicht von Delft bei den ausgewählten Exponaten sein würde. So konnte der schwerkranke Proust es noch einmal sehen. Ende Mai 1921 macht er sich auf zur Ausstellung. Er fürchtete sich, die Ausstellung dadurch zu stören, dass er dort zusammenbrechen und sterben könnte, jenes Schicksal, das er den Schriftsteller Bergotte in La Captive erleiden lässt. Wir haben ein Photo von diesem Tag, es ist das letzte Photo, das ihn lebend zeigt. Er trägt, wie sich in der besseren Gesellschaft zu dieser Tageszeit und für den Anlaß gehört, einen Morning Coat. Noch mit altertümlichen Stehkragen. Den trägt eigentlich keiner mehr zum Cutaway, außer dem Comte Boniface de Castellane-Novejean auf einem Photo von Nadar aus der gleichen Zeit. Aber jener alternde Dandy ist inzwischen schon zum Gespött von Paris geworden. Proust blinzelt in die Sonne und hält sich sehr gerade, aber das liegt vielleicht an den Anweisungen des Photographen. Man belichtet ja noch sehr lange, da hat man es lieber, wenn die Objekte sehr still stehen. Er hält Spazierstock und Hut in der rechten Hand, den Hut so, dass wir das Futter mit dem Zeichen des Herstellers sehen können. Ich würde ihn ja so halten, dass man das Markenzeichen nicht sehen kann. 

Aber das ist unter Dandys damals heißumstritten, der Erzähler der Recherche wird Seiten darauf verwenden, wie man seinen Zylinder bei Besuchen auf dem Boden plaziert. Man kann auf Grund der Qualität des Photos die Herstellerfirma des Hutes nicht einwandfrei identifizieren. Es sieht aber aus, als sei es Christy’s in London. Proust wird auf den Stufen zur Ausstellung einen Schwächeanfall erleiden, er schreibt ihn mit in den Roman, genau wie die erneute Begegnung mit Vermeers Delft, und dem imaginären kleinen gelben Mauerstück, die er hier dem Schriftsteller Bergotte zuschreibt. Jemand, der gesagt hat, dass jeder Leser seinen eigenen Roman liest, wird dem Leser auch gestatten, kleine Mauerstücke zu imaginieren, die die Perfektion der Kunst sind. Ich habe es sowieso nie mit Vermeer verbunden, sondern immer mit der Häusermauer, die Thomas Jones 1782 in Neapel gemalt hat.

So häufig ich da bin, ich habe zu den Niederlanden keinerlei emotionale Bindung. Das hat jetzt nichts mit den ersten Erlebnissen 1950 zu tun. Und hat auch nichts mit all den scheußlichen holländischen Exportartikeln zu tun: wie Wohnwagenkolonnen auf deutschen Autobahnen, alle Sorten von angeblich harmlosen Drogen, gesoßte und parfümierte Pfeifentabake, mittelmäßige Tabakspfeifen, ungeniessbare Tomaten und ebenso unerträgliche Fernsehstars. Der Admiral Tromp (oder war es der fette de Ruyter?) hatte einen Besen an den Mast seines Schiffes binden lassen, um zu symbolisieren, dass die Holländer die Nordsee von den Engländern freigefegt haben. Heute fegen die Holländer die Nordsee frei von Kabeljau, Dorsch und Hering. Ihre aggressiven Fangmethoden sind ja damals schon das Ende unserer Vegesacker Heringsflotte gewesen.

Frankreich, England, Dänemark, jederzeit. Aber Holland? Ostfriesland ist an vielen Stellen schöner. Ich kenne auch keine schnuckeligen Holländerinnen, Frau Antje zählt jetzt nicht. Ich habe beinahe die gesamte französische Literatur gelesen, die englische sowieso (das zählt nicht, das ist mein Beruf) und auch von Sören Kierkegaard und Hans Christian Andersen bis Herman Bang kenne ich mich aus. Aber gibt es holländische Literatur? Also nun mal außer Cees Nooteboom und Harry Mulisch. Und jetzt meine ich nicht Der schwarze Herr Bahßetup oder Trimmel und der Tulpendieb. Die einzigen, die mir einfallen, schreiben Krimis. Nein, es sind Nicolas Freeling und Janwillem van de Wetering, in deren Welt ich einen Teil von dem Holland wiederentdecke, das ich kenne. Die jugendlichen Hooligans von Because of the Cats in dem fiktiven Bloemendaal aan Zee habe ich kennengelernt. War damals für meine Mutter zehn Jahre nach dem Alptraum von 1950 ein schreckliches Erlebnis. Die kloppen nicht nur mir der Hand auf das Dach des Opels, die zerlegen das ganze Auto, das auf dem Hotelparkplatz neben unserem steht. Wobei das ein holländisches Kennzeichen hatte. Also auf Freeling und Wetering lasse ich nichts kommen, wahrscheinlich liegt es daran, dass ihre Romane genau wie die von Sjöwall/Wahlöö soziologisch genauer sind als die sogenannte Hochliteratur.

Es ist ja nicht, dass ich den Holländern keine Chance gegeben hätte. Ich habe mir auf dem Klavier ihre Nationalhymne zusammengefingert. Ich habe alles über ihre Geschichte gelesen, seriöse Bücher wie C.V. Wedgwood über William the Silent, nicht nur Schillers Don Carlos oder Goethes Egmont. Ich weiß, dass wir in Bremen die Reformation den Holländern verdanken. Und auch die religiösen Spinner, die dem Bürgermeister Daniel von Büren das Leben schwer machen. Ich weiß alles darüber, wie die preußischen Tugenden aus den kalvinistischen Tugenden der Oranier entstanden sind. Seit der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm (den man gemeinhin den Großen Kurfüsten nennt) seiner Gattin Louise Henriette von Oranien die Domäne Bötzow geschenkt hat, und sie dort Schloß Oranienburg gebaut hat. Und mit Hilfe von holländischen Calvinisten und Hugenotten ein perfekt organisiertes kleines Musteranwesen geschaffen hat, ein Idealkonzept eines Staates, die Keimzelle von Preußen. 

Dass am Ende dieser preußischen Entwicklung auch das Böse und das KZ Oranienburg (und das benachbarte KZ Sachsenhausen) stehen würde, hätte kein Philosoph des 17. Jahrhunderts, der an die beste aller Welten glaubte, zu denken gewagt. Der schöne Krefelder Katalog Onder den Oranje Boom wird 1999 für mich keine großen Geheimnisse bergen, aber er zeichnet den Einfluß Oraniens auf Brandenburg-Preußen hervorragend nach. Irgendwie ist es ja eine Ironie der Geschichte, dass wir den Holländern nach dem Ersten Weltkrieg die selbsternannte Verkörperung allen Preussentum zurückgeben. Wobei der sich auch noch als der letzte Oranier fühlt, er hat immerhin unter seinen tausend Titeln auch den eines Prinzen von Oranien. 

Als er 1912 die Schweiz besucht, kommt er in der Uniform eines Regiments aus Neuchatel. Neuchatel war 1702 durch das Erbe Oranien an Preußen gefallen. Er kann diese Uniformsymbolik nicht lassen, er verkleidet sich auch als Großer Kurfürst. Auf dem Photo sieht er noch tuntiger aus als sonst. Aber es ist dem Stammbaumfetischisten aus Berlin schon klar, dass es ohne Oranien kein Preußen gäbe. Und ohne Nassau keine Oranier. Ich werde auf einer Tagung einem Kunsthistoriker, der Katzenelnbogen für einen jüdischen Namen hält, zuzischeln, dass es sich hier um ein altes rheinisches Grafengeschlecht handelt. Ohne die Nassau-Katzenelnbogen gäbe es das Haus Oranien nicht. Warum singen die wohl Wilhelmus von Nassauen bin ich, von deutschem Blut? Das einzige, das mir an den Holländern gefällt, ist ihre Nähe zu England. Haben sie wahrscheinlich, seit sie den Engländern einen König abgegeben haben und dazu noch die Finanzfachleute für die Londoner Banken. Und die schöne Backsteinarchitektur, die die Engländer global als Georgian Style klassifizieren. 

In Amsterdam kann man in den fünfziger und sechziger Jahren alle englischen Penguin Bände bekommen, in Vegesack oder Bremen ist daran nicht zu denken. Buchhandlungen sind hier sowieso toll, an der Spui sind so viele, dass man die gar nicht zählen kann. Durch manche kann man hindurchgehen, um auf der anderen Straße wieder herauszukommen. Zum fünfzigjährigen Jubiläum bekomme ich von der Buchhandlung Erasmus einen kristallnen Briefbeschwerer, in den 1934 Erasmus 1984 graviert ist. Erasmus ist einer unserer Hauptlieferanten, wenn ich der Wissenschaftliche Leiter der Bibliothek des Englischen Seminars bin. Das weiß ich damals aber noch nicht, als ich in Amsterdam den Laden an der Ecke der Spui (Hausnummer 2) entdecke. Die haben damals auch ein Antiquariat, nicht nur neue Bücher. Sogar der schwedische König ist mal hier gewesen. Heute gibt es den Laden an der Ecke nicht mehr, man ist in ein modernes Gebäude gezogen. Und auch das Antiquariat, das dem Firmengründer Dr Abraham Horodisch so am Herzen lag, ist nicht mehr da. Das Verschwinden von Antiquariaten finde ich immer sehr traurig, da ich schon seit Jahrzehnten meine Bildung aus Antiquariaten und deren Grabbelkisten beziehe.

Wir haben zwar auch noch als Händler für amerikanische Literatur den wunderbar kauzigen und gebildeten Yale Absolventen Nolan E. Smith in Hamden (CT), aber der macht leider irgendwann seinen Laden zu und widmet sich seiner Jazzband. Vor den Tagen, da man mit dem Computer in Sekundenschnelle jedes Buch auffinden kann und einem eine Firma namens Amazon beinahe jedes Buch liefert, ist das Beschaffen von englischen und amerikanischen Büchern nicht so leicht. Horst Garnman, der Besitzer von Erasmus, kommt jedes Jahr mindestens einmal zu Besuch und hört sich unsere Sorgen und Nöte an. Wenn er sich aus dem Geschäft zurückzieht, wird sein Nachfolger Kurt Tschenett das gleiche tun. Wir handeln für die Bibliothek auch Prozente und billige Versandtarife heraus. 

Das Verhältnis zu Erasmus ist exzellent, beinahe schon familiär. Unsere Bibliothekarin Heike kennt jede Mitarbeiterin in Amsterdam persönlich. Bei Erasmus lachen sie immer noch darüber, dass Heike einmal auf eine Bestellkarte helikoptereilig geschrieben hat. Einen solchen Service wie Erasmus kann keine englische oder internationale Buchhandlung bieten. Harry Mulisch war Kunde bei den beiden Emigranten, die die Buchhandlung Erasmus aufgebaut haben, und er hat die Buchhandlung in seinen Roman Die Entdeckung des Himmels hineingeschrieben. Englische Buchhandlungen versuchen zwar auch immer wieder, mit uns ins Geschäft zu kommen, aber die schicken irgendwelche windigen und glatten Vertretertypen vorbei, die genau so gut mit Tomaten handeln könnten. Sie versprechen alles und halten nichts. Bei Garnman und Tschenett weiß man, dass das gebildete Menschen sind, die wirklich etwas von Büchern verstehen. Und zu englischen Buchhandlungen möchte ich nach Jahrzehnten als Kunde von Blackwells und Heffers lieber nichts sagen. Man fragt sich bei vielen englischen Firmen ja, wie es bei deren trägem Geschäftsgebaren gelingen konnte, dass sie sich ein Weltreich erobert haben.

In den sechziger Jahren haben manche englische Firmen noch einen Laden in Amsterdam. Wie zum Beispiel Austin Reed, wo man elegante englische Herrenmode sehen kann. Das ist etwas schon anderes als die Firma Hollandia Kattenburg, die sich sicherheitshalber für den Modemarkt den englischen Namen Falcon zugelegt haben. Kann man bei Ekkes Vater im Laden kaufen, ich habe einen weißen Regenmantel von der Firma, der ewig gehalten hat. Und so werde ich kein böses Wort gegen Hollandia Kattenburg sagen. Man merkt in Holland auch in der Mode damals den englischen Einfluß (hier gibt es ja sogar Cricket Klubs), wenn auch nicht so stark wie in Dänemark, wo damals noch viele Herren wie geklonte englische Gentlemen aussehen. Das ist noch vor der Zeit, als man überall nur noch Adidas Trainingsanzüge sieht. Ich entdecke an einem Sonnabendabend beim Abendspaziergang rund um das Amsterdamer Hotel ein tolles Arrow Buttondown Hemd, das hätte ich unbedingt auf der Stelle gekauft. Als ich am Sonntagmorgen noch mal ins Schaufenster gucke, ist ein Wunder geschehen: die haben am Sonntag offen. Ich fege ins Hotel zurück und lasse mir von Vati einen Vorschuß auf das nächste Taschengeld geben. Ich habe das Hemd noch, auch wenn ich nicht mehr hineinpasse. Die Erinnerung von allen Amsterdam Erlebnissen, allen Grachtenfahrten, dem Tuschinski Kino, dem eindrucksvollen Hauptbahnhof und allen Museen, verblasst gegen die Erinnerung an den Kauf des Arrow Hemdes.

Es sind natürlich die Strände mit den Dünen und der große leere Himmel, die die Touristen wie uns anziehen. Wir bauen selbstverständlich am Strand keine Burgen, die Touristen der Jahrhundertwende haben das getan. Und noch ein schwarz-weiß-rotes Fähnchen draufgesetzt. Kann man auf Bildern von Liebermann sehen. Ein halbes Jahrhundert später geht das gar nicht mehr, weder Burgen noch schwarz-weiß-rote Fähnchen. Die Hotels am Meer bis hinunter nach Belgien stammen häufig noch aus der Zeit der Jahrhundertwende und strahlen noch Erinnerungen an die Belle Epoque aus, als sie die Ziele des Großbürgertums waren. Das sieht in Herbst und Winter, wenn der Strand, die Uferpromenade und die Grand Hotels menschenleer sind (viele der Hotels schließen im Winter), melancholisch und schön aus. Stimmungsmäßig irgendwas zwischen den morbiden Phantasien des Symbolismus wie Georges Rodenbach und Fernand Khnopff mit ihrem toten Brügge oder dem bezaubernden französischen Roman Un singe en hiver. Den hatte ich 1960 Vati geschenkt, aber er konnte meine Begeisterung für den Roman und einsame Strände im Winter nicht teilen. 

Nicht nur das Großbürgertum ist hier in Holland gewesen, auch die deutschen impressionistischen Maler waren hier (und irgendwann später auch deutsche Besatzungstruppen). Die mit dem großbürgerlichen Habitus wie Liebermann und Herbst. Seit Liebermann 1871 zum ersten Mal in Holland gewesen ist, hat ihn das Land ja nicht mehr losgelassen. Sein halbes Leben lang ist er im Sommer hierher gekommen. Obgleich er gesagt hat, dass Holland auf den ersten Blick langweilig erscheint, man müsse erst seine heimlichen Schönheiten entdecken. Und die sind für Liebermann malerischer Natur, das Land der Malerei par excellence hat er über die Niederlande gesagt. Witzigerweise hat Liebermann zu Ende des 19. Jahrhunderts im Berliner Adressbuch hinter seinem Namen als Berufsbezeichnung Landschaftsmaler eintragen lassen. Damit hatten ihn seine Zeitgenossen damals nicht unbedingt assoziiert.

Und wenn wir ehrlich sind, ist das einzige, was Holland seine Existenzberechtigung verschafft, die holländische Malerei. Und die Museen, die sie beherbergen, vom Amsterdamer Rijksmuseum bis zum Mauritshuis. Durch Zufall entdecken wir den Hoge Veluwe Park und das Kröller-Müller Museum. Sand und Heide, ein bisschen Wald, Kiefern und Tannen. Ist wie Horstedter Sand, nur größer. Aber für Holländer sind Sand, Heide und Wald ja schon eine Sensation. Sensationell ist das Museum, beinahe alle Van Goghs an einem Platz. Wenn ich ehrlich bin, interessieren mich Van Goghs eigentlich gar nicht, ich kaufe auch nur die Postkarten mit den frühen Bildern, die noch kein bisschen nach Van Gogh aussehen. Wie Haagse Bos met meisjesfiguur von 1882. In manchen der Bilder aus dieser Zeit in Nuenen malt er schöne Himmel, wie den Abendhimmel über einem Arbeiterhäuschen 1885. Er hat sich in diesen Jahren ja malerisch weiterentwickelt, keine Frage. 

Andererseits, wenn man einen der unterschätztesten deutschen Maler in dieser Zeit, den Hamburger Thomas Herbst, dagegenhält, ist der künstlerisch schon viel weiter. Wie man an dem Dorfteich von 1883 in der Hamburger Kunsthalle sehen kann. Thomas Herbst ist in meinem Kunstgeschichtsstudium nie vorgekommen, und man hat ihn ja auch viel zu spät wahrgenommen. Außer Friedrich Ahlers-Hestermann, der schon 1939 ein Buch über ihn geschrieben hat. Meine Mutter entdeckt ihn in einer kleinen Ausstellung und bringt mir ein Katalogbuch mit (aus einem Bremer Verlag). Herbst hat sie nicht so sehr interessiert, aber seine Kühe, die fand sie Klasse. 

So gut sie Worpsweder Wolkenhimmel fälschen kann, Kühe kann sie überhaupt nicht. Genau wie Max Liebermann, der lässt sich die Kühe in seinen Bildern immer von Thomas Herbst malen. Herbst ist ja, ebenso wie sein Freund Liebermann, von Holland begeistert. Und Herbst und Van Gogh haben den gleichen Lehrer. Der heißt Anton Mauve, hat eine Cousine von Van Gogh geheiratet und hat Vincent das Malen beigebracht. Mauve ist auch mal hier in der Gegend gewesen, in Oosterbeek am Südrand der Veluwe gab es eine Malerkolonie, das holländische Barbizon, wie man sie nennt. Thomas Herbst hat Mauve als Lehrer an der Düsseldorfer Akademie. Nach Düsseldorf ist Herbst eigentlich nur gegangen, weil das nah an Holland war. Erstaunlicherweise hat er (im Gegensatz zu Liebermann) in Holland so gut wie nie gemalt, später sind die Hamburger Elbmarschen sein Hollandersatz geworden.

Oosterbeek wird die halbe Haager Schule anziehen und auch reiche Holländer, die hier ihre Villen bauen. Es wird noch beliebter, wenn es hier eine Eisenbahnverbindung gibt. Das ist in Barbizon genau das gleiche, die malerische Verherrlichung der Natur verdankt ihren Ursprung der Eisenbahn. Hier treffen sich die Maler unter der Führung des alten Johannes Bilders, der schon seit den 1840er Jahren hier ist, in dem Gasthaus Het gulde ploeg, so wie sich ihre Malerkollegen in Laren in Het Kroegje von Hamdorffs Hotel zusammen finden. Glücklicherweise hat der ein oder andere das gemalt, so dass wir uns ein Bild davon machen können. 

Beinahe ein Jahrhundert später wird in dem großen Hotel Tafelberg der deutsche Generalfeldmarschall Walter Model mit Entsetzen sehen, dass englische Fallschirmjäger in den Wäldern von Oosterbeek landen. Model glaubt daran, dass er entführt werden soll und verlässt Oosterbeek auf der Stelle. Was er nicht weiß, dies ist die Operation Market Garden. Das Unsinnigste, was sich Montgomery, der wohl überschätzteste englische General des Zweiten Weltkriegs, ausgedacht hat. Die 1. Luftlandedivision der Engländer wird in Oosterbeek von starken deutschen Kräften festgehalten. Das Hotel Tafelberg wird zum Hospital, das ehemalige Hotel Hartenstein, wo General Urquhart sein Hauptquartier hat, ist heute Museum der 1st Airborne Division. General Brian Horrocks, der gerade Amiens und Brüssel befreit hat (und ein halbes Jahr später Bremen erobert), kann mit seinem XXX. Korps nicht weiter vorstoßen. A Bridge too Far heißt der Film, der diese Ereignisse dramatisiert. 

Generäle und Colonels der wirklichen Schlacht sind bei dem Film Berater gewesen: Horrocks (gespielt von Edward Fox, der auch mal in einem Garderegiment war), Urquhart (Sean Connery), Frost (Anthony Hopkins) und Vandeleur (Michael Caine). Der Film hat genauso viel gekostet wie damals die ganze Operation Market Garden. Von Oosterbeek und Arnheim wird nichts übrig bleiben. Es gibt heute viele englische Soldatengräber in Osterbeek und ein schlichtes weißes Denkmal, das einen stilisierten Fallschirm zeigt. Die Brücke über den Rhein, die der Colonel John Dutton Frost vier Tage gegen eine deutsche Panzerdivision gehalten hat, trägt heute seinen Namen. Daphne Du Maurier, die Witwe von General Browning, der den ganzen Unsinn damals kommandierte, will die Filmfirma verklagen. Weil Dirk Bogarde ihren Gattin so süffisant fies gespielt hat. Was kann man von einem halben Holländer namens Derek van den Bogaerde schon erwarten? Allerdings war er der einzige in dem starbesetzten Film, der als ehemaliger englischer Offizier wusste, wie der wirkliche Krieg aussah.

Beim x-ten Besuch im Kröller-Müller bin ich schon bereit, im Park spazieren zu gehen, nur um den Van Goghs zu entgehen. Zumal hier die Besucher von Jahr zu Jahr mehr werden. In den frühen fünfziger Jahren war das hier noch schön ruhig, jetzt sind auch schon die Amerikaner da. Wenn die Japaner kommen, ist alles verloren. Aber da entdecke ich, dass es in einem kleinen gläsernen Pavillon eine Ausstellung von Whistlers Radierungen gibt. Ich studiere schon mal die Sicherungsanlagen, einen kleinen Whistler würde ich jederzeit mitnehmen, einen Van Gogh nicht für geschenkt. Wunderbare kleinformatige, grünliche und braune Ansichten von der Londoner Themse und der Lagune von Venedig, ich kann mich gar nicht sattsehen. Die Whistler Ausstellung in Berlin 1969 ist auch nicht schlecht, aber dies hier schlägt alles. Kein Besucher, draußen Sand und Heide und Sommer. Von der Zuiderzee her ziehen blauschwarze Regenwolken ins Land. Und hier in diesem gläsernen Aquarium ist Whistler satt. 

Es ist das Schöne an holländischen Museen in den fünfziger und frühen sechziger Jahren, dass sie noch nicht so voll sind. Und die Bilder noch nicht so exzessiv gereinigt sind, mit fiesem Firnis überzogen oder hinter Glas. Als ich Rembrandts Nachtwache zum ersten Mal sehe, kann man noch ganz nah an die Leinwand heran. Vor wenigen Jahren lag die noch eingebuddelt in den Dünen von Heemskerk, erzählt der Museumsführer. Man wagt nicht, daran zu denken, was geschehen wäre, wenn man sie auf Texel vergraben hätte. Die Leute, die sich vor diesem Bild drängeln, sind nicht etwa in einem Schützenverein, keine Liebhaber von Gruppenporträts von Schützengilden. Vor Thomas de Keysers Korporalschaft des Kapitein Allaert Cloeck stehen kaum Besucher. Und im Historischen Museum ist man damals angesichts der beiden Riesenbilder mit Schützengilden von Jacob Lyon und Thomas de Keyser oft der einzige Betrachter.

Bei uns im Treppenhaus hängen drei Rembrandts. Natürlich keine echten. Mammi hat die Radierungen vor dem Krieg in Dresden gekauft, und der Händler hat ihr gesagt, sie solle gut darauf aufpassen, die seien sehr wertvoll. Sie sind natürlich genau so wertvoll, wie jeder andere Druck. Ich habe in Bremen bei einem Volontariat in der Kunsthalle jede echte Rembrandt Radierung in der Hand gehabt. Selbstverständlich nur mit weißen Baumwollhandschuhen. Unsere Drucke sind ein Selbstbildnis, sowie ein Stich, der gemeinhin als Faust bekannt ist, und die Landschaft mit drei Bäumen. Die Landschaft ist für mich das einzig Interessante, wegen der wild bewegten Wolken. Sonst gibt es auf Rembrandts Zeichnungen und Radierungen kaum Wolken. Der wilde Himmel passt eigentlich nicht zu den Bäumen, die ganz ruhig dastehen. Und auch nicht zu der kleinen Figurengruppe, die keinerlei Anstalten macht, vor Sturm und Regen Schutz zu suchen. 

Seltsam, geheimnisvoll. Aber ich tröste mich mit Robert Walsers Man muß nicht hinter alle Geheimnisse kommen wollen. Das habe ich mein ganzes Leben so gehalten. Ist es nicht schön, dass in unserem Dasein so manches fremd und seltsam bleibt, wie hinter Efeumauern? Das gibt ihm einen unsäglichen Reiz, der immer mehr verloren geht. Landschaften sind sowieso nicht Rembrandts Sache. Da klaut er sich die Elemente (wie alle Holländer) von anderen. Also die Ruhe auf der Flucht hat er bei Adam Elsheimer entlehnt, Mond und Sterne weggelassen (war wahrscheinlich zu kompliziert) und durch einen eindrucksvollen Nachthimmel ersetzt. Wenn Elsheimer von jedem Niederländer Tantiemen für gemalte und gezeichnete Mondlandschaften bekommen hätte, wäre er ein reicher Mann geworden. Kleine Aert van der Neer Mondlandschaften begeistern mich mehr als die vielen Rembrandts, die man in Amsterdam sehen kann.

Den weiten Himmel malen, das können die Holländer. Licht en lucht, dat is de kunst, hat Jan Hendrik Weissenbruch gesagt. Wobei das lucht nicht nur die Luft, sondern auch den Himmel meint. Mit und ohne Wolken. Diesen Jan Hendrik Weissenbruch entdecke ich durch Zufall, und er begeistert mich mehr als andere. Wenn es nach Ruisdael und Constable einen Maler des Himmels und der Wolken gibt, dann ist er es. Es ist ja schön und gut, wenn man in holländischen Museen die großen Meisterwerke abklappert, also die, die im Baedeker und jedem Kunstreiseführer stehen. Rembrandt, Vermeer, Frans Hals. Aber viel schöner ist es, wenn man sich auf sein eigenes Auge und seinen eigenen Geschmack verlässt. Und die kleinen Kostbarkeiten entdeckt. Die vor denen keine Menschenmassen stehen. Weissenbruch gehört zur sogenannten Haager Schule, diese Maler, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre eigene Malerei des 17. Jahrhunderts und den holländischen Himmel wiederentdecken. Manche finden sich in Künstlerkolonien wie Oosterbeek, Katwijk oder Laren zusammen. 

Wohin auch Max Liebermann kommen wird, auf seiner Hochzeitsreise 1884. Er hat ein Empfehlungsschreiben von seinem Freund Josef Izraels für Anton Mauve bei sich. Aber der ist gerade dabei abzureisen. Und die Begegnung mit dem elegant gekleideten Weltmann Liebermann schüchtert den gesellschaftlich unsicheren Mauve noch mehr ein, am nächsten Tag ist er weg. Es gibt schriftliche Zeugnisse über diesen Treffen in der kargen Gaststube im Hotel Hamdorff, die davon berichten, dass alles an Liebermanns an Feinheit und Neuheit glänzte, von der Garderobe bis hin zur makellosen Malerkiste aus schönem Holz. Von weiteren Treffen der beiden ist nichts bekannt, aber einen Einfluß des Malers Mauve auf Liebermann, den gibt es schon. Vielleicht ist der Einfluß sogar größer als der von Izraels.

Jan Hendrik Weissenbruch hätte auf der gesellschaftlichen Ebene der Großbourgeoisie auch nicht mit Liebermann verkehren wollen. Er hat sich zeitlebens nicht die Mühe gegeben, bei einem großen Publikum bekannt zu werden. Er wird in einem schlichten Haus in der Kazernestraat in den Den Haag wohnen, das alle Besucher an altholländische Wohnungen des Delftschen Vermeers oder Pieter de Hoochs erinnert. Er ist in Den Haag geboren, unweit des Mauritshuis. Dort hat er Vermeer und Ruisdael gesehen, dort kopiert er die Holländer des 17. Jahrhunderts. Er geht zu einer Zeichenakademie und will danach bei dem berühmten Andreas Schelfhout in die Lehre gehen. Aber sein junger Kollege Johannes Bosboom rät ihm ab. Er solle sich auf die eigenen Augen verlassen. Weissenbruch ist ihm ein Leben lang dankbar für diesen Rat gewesen. Jozef Izraels rät ihm, nach Barbizon zu gehen. Wird Weissenbruch auch tun, allerdings beinahe ein halbes Jahrhundert nach dem Brief von Izraels. Da kann er von den Franzosen nichts mehr lernen, er war eh schon weit über sie hinaus. Vermeer und Ruisdael, licht en lucht und die eigenen Augen: das ist die Zauberformel. Wahrscheinlich ist es das ganze Geheimnis der holländischen Malerei.

In seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 unternimmt Immanuel Kant im vierten Abschnitt eine kleine Psychologie der europäischen Völker, die vereinfacht darauf hinausläuft, dass sich die Italiener und Franzosen durch ihr Gefühl für das Schöne auszeichnen, die Engländer und die Deutschen durch ihr Gefühl für das Erhabene (darauf war Burke bei seiner Erfindung von sublime and beautiful nun nicht gekommen). Der Holländer aber hat nichts von beidem, er hat nur eine ordentliche und emsige Gemütsart, aber wenig Gefühl für dasjenige, was in feinerem Verstand schön oder erhaben ist. Er ist für Kant gewissermaßen ein sehr phlegmatisierter Deutscher, der sich durch Aufgeblasenheit, Grobheit und Dummheit hervortut. Kant ist mit seiner Ansammlung von Plattitüden hier nicht so weit entfernt von Mike Krüger, der das jahrelang mit seinen Holländerwitzen auch gesagt hat. 

Herman Meyer, der führende holländische Germanist der sechziger Jahre (der auch als Vorsitzender der neugegründeten Niederländisch-Deutschen Gesellschaft viel zum Kulturaustausch nach dem Kriege getan hat), hat ein Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Holland einen bezaubernden kleinen Aufsatz über Das Bild des Holländers in der deutschen Literatur geschrieben. Dort koppelt er das von Kant entworfene Bild an den Begriff des Philisters, der in der Goethezeit aufkam. Wahrscheinlich hatte er von dem Aufsatz über den Philister, den er drei Jahre zuvor veröffentlicht hatte, noch Material übrig. Was aber interessant ist, ist die Tatsache, dass die deutsche Literatur nach Kant ein Jahrhundert lang (ohne jeden politischen Druck) ganz energisch an diesem Bild des Holländers arbeitet, auf das auch die Witze von Mike Krüger hinauslaufen. Gut, Wohnwagen hatten sie im 19. Jahrhundert noch nicht. Phlegmatische Philister, diese Mynheers mit den Windmühlen, in ihren Holzschuhen mit den Tulipanen, Sternblumen und Levkojen vorm Fenster. Aber bei ihrem Phlegma (für Johann Caspar Lavater war der Holländer die ideale Verkörperung eines Phlegmatikers) und Philistertum gleichzeitig ständig auf ihren Vorteil bedacht. Wie der letzte im Zuge bei der Beerdigung des reichen, armen Herrn Kannitverstan, der eben in der Stille ausrechnet, was er an seiner Baumwolle gewinnen könne

So viele Beispiele Herman Meyer in der deutschen Literatur an beschriebener Tölpelhaftigkeit seiner Landsleute, an einer Kultur der Hässlichkeit, an einer Symbolik der Windmühlen, der Kanäle und der Trekschuite (die immer als Beweis für die Langsamkeit und den technologischen Rückschritt dienen muß) auch herbeizitiert, er lässt etwas aus. Der brave Handwerksbursche aus Duttlingen würde im Jahre 1950 in jeder holländischen Straße bei Anbruch der Nacht festgestellt haben, dass man in jedes Wohnzimmer hineinschauen kann. Keine Vorhänge. Lauter aneinandergereihte holländische Interieurbilder, die sagen: wir haben nichts zu verbergen. Die roterleuchteten Wohnzimmerstübchen am Rembrandtsplein sowieso. Das reine Gewissen, die makellose Sittlichkeit wird, vielleicht nicht gerade im roten Licht am Rembrandtsplein aber sonst überall in Holland, demonstrativ zur Schau gestellt. Wie die amerikanischen Puritaner mit ihrer city upon a hill, in die jedermann hineinschauen kann. Aber niemand ist ganz gut, wir haben alle etwas zu verbergen, nicht nur meine Familie, wenn sie Willem II Zigarren und den Oude Genever bei der Ausreise in Nieuweschans nicht deklariert. Zwar hält Albert Vigoleis Thelen, der vom Niederrhein kommt und lange im holländischen Exil gelebt hat, diese Offenheit des Wohnzimmers und des Lebens in seinem wunderbaren Roman Der schwarze Herr Bahßetup für eine zivilisatorische Errungenschaft, aber wahrscheinlich sollten wir doch eher dem Kommissar Van der Valk trauen. Dessen Schöpfer ist zwar in London geboren, kennt aber sein Amsterdam genau. Und so ist für ihn der fehlende Fenstervorhang nur eine Scheinheiligkeit. Hinter aller nach vorn gestellten Frömmigkeit lauern Sünde und Verbrechen, da sind sich die Helden der Romane von Georges Simenon, Nicolas Freeling und Janwillem van de Wetering einig.

Bevor Kant die negative Sicht des Holländers eingeleitet hatte (gegen die sich immerhin Georg Forster am Ende des 18. Jahrhunderts wortreich zur Wehr setzte), galten sie als Muster für Fleiß und Rechtschaffenheit, die dem Meer ihr Land abgerungen hatten. Gott erschuf die Welt, die Holländer erschufen Holland. Dies ist die Nation, die sich ihre Freiheit noch vor der amerikanischen Revolution erkämpft hatte, die allen Philosophen Europas eine Heimstatt bot. Dennoch, das negative Bild hält sich lange. Auch auf Seiten der Holländer, die die Deutschen nicht mögen, wie die Clingendael Studie von 1993 erschreckend deutlich machte. 

Wir leben mit Stereotypen, für Conor Cruise O'Brien waren die Holländer noch die Verkörperung von Fleiß und Ordnung, als er in seiner Kolumne im Observer seinen hübschen Plan für die Lösung des Irlandkonfliktes offerierte. Die Lösung aller irischen Probleme erscheint dort sehr simpel: man tausche einfach die Bevölkerung von Holland und Irland aus. Die Holländer räumen ganz Irland wieder auf und machen es zu einem Musterländle. Die Iren trinken den ganzen Tag Whisky und vernachlässigen ihre Deiche. Bei der nächsten Sturmflut ersaufen sie alle. Da hilft ihnen auch kein Hansje Brinkers, der den Finger in den Deich hält. Dieser bekannteste aller Holländer hat allerdings nie gelebt, er ist die Erfindung einer Frau aus Amsterdam, allerdings Neu Amsterdam. Mary Elizabeth Mapes Dodge aus New York. Auch Frau Antje, die das Pikantje serviert, gibt es natürlich nicht wirklich. Sie ist eine Erfindung des niederländischen Molkereiverbandes. Und der deutsche Jazzmusiker Klaus Doldinger hat damals die Musik zu dem Jingle geschrieben.

Holländer und Deutsche haben neben vielen Gemeinsamkeiten eine schreckliche Vergangenheit, die fünf Jahre dauert. Wir können uns da niemals herausreden, wir haben dreiviertel der holländischen Juden umgebracht. Da hilft auch der Hinweis nicht weiter, dass Arthur Seyß-Inquart wie Hitler ein Österreicher war. Ein holländischer Historiker namens Jan Herman Brinks hat vor Jahren in der Süddeutschen Zeitung seinen Landsleuten vorgeworfen, dass sie sich völlig unberechtigt im Lichte des Anne Frank Mythos sonnen würden. Kollaboration und Verrat hätten in den Niederlanden zur Tagesordnung gehört. Er brachte in dem Artikel noch einmal seine Kollegin Nanda van der Zee in Erinnerung. Die hätten viele Holländer ja 1997 nach dem Erscheinen ihres Buches Um Schlimmeres zu verhindern am liebsten im Ijsselmeer ersäuft. Aber es ist schon wahr, der dänische König ist nicht wie Wilhelmina nach London ins Exil gegangen. 35.615 Gerichtsurteile gegen Kollaborateure, Denunzianten und Kriegsverbrecher wird es in Holland geben, 6.489 Nazis und Kriegsverbrecher werden in der Bundesrepublik verurteilt. Irgendwie sind das nicht die richtigen Relationen. 

Eines Tages wird das keinen mehr interessieren. Anton Steenwijk, der Held des Romans Das Attentat von Harry Mulisch, wird mitansehen müssen, dass die Kollaborateure und die schweigenden Zuschauer der Tragödie niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Irgendwann zu Ende des Romans sagt der Autor über seinen mittlerweile alt gewordenen Helden: Während um ihn herum das Äußere der Menschen in dem Maße verproletarisierte, wie das Proletariat verschwand, trug er weiterhin englische Sakkos und karierte Hemden mit Krawatte. Das musste Harry Mulisch, der ein großer Dandy ist, natürlich so schreiben. Aber es ist schon wahr, überall werden die Menschen in ihrem Äußeren, und vielleicht auch in ihrem Inneren, prollig, das bringt uns die europäische Nivellierung. Keine reizenden nationalen Eigenheiten, über die man lächeln oder spotten kann, wird es mehr geben. Wir werden uns alle so ähnlich werden wie die holländische Einheitstomate. Wenn wir nicht, wie die Bremer es tun, englische Jacketts tragen. Und Harry Mulisch lesen.


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