Donnerstag, 11. November 2010

Kierkegaard


Something is rotten in the state of Denmark. Das steht zwar in Shakespeares Hamlet, aber es könnte auch über dem Werk von Kierkegaard stehen. Das geistige Klima Dänemarks ist nach Kierkegaard vergiftet, und die Kirche ist daran schuld. Sagt Kierkegaard, der Psychoanalytiker der dänischen Gesellschaft. Der den Blick des unschuldigen Kindes bewahrt hat: ich unterhalte mich am liebsten mit Kindern: denn von ihnen darf man doch hoffen, daß sie noch vernünftige Wesen werden. Der keine wirkliche Kindheit gehabt hat, nur die verquasten religiösen Lehren seines Vaters: er hat mich in jeder Hinsicht so unglücklich gemacht wie möglich, hat meine Jugend in eine endlose Qual verwandelt. Der ein Vermögen geerbt hat, und ein großer Dandy ist. Der im rotkohlfarbenen oder zitronengelben Mantel über seinem Buckel die Ströget entlang flaniert. Der auf seinen Storchenbeinen durch Kopenhagen stakst, verfolgt von den nicht so unschuldigen Kindern, die den Philosophen verlachen. Der seine Liebesgeschichte in seine Bücher schreibt, die seinen Namen nicht tragen. Die angeblich von einem Johannes Climacus oder einem Johannes de Silentio sind. Ein Verbalerotiker. Ein verhinderter Don Juan, der seine Empfindungen philosophisch sublimiert.

Reden kann er, der Disputierteufel aus dem Norden, wie sie ihn in Göttingen genannt haben. Und schreiben kann er auch, die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischen sich bei ihm. Die arme Regine Olsen weiß nicht, was sie von all der Schwärmerei halten soll. Immerhin treibt der melancholische Troubadour aus Kopenhagen seine Geliebte nicht in den Wahnsinn wie der melancholische Dänenprinz aus Helsingör die arme Ophelia. Regine wird die berühmteste Frau der Philosophiegeschichte werden. Von Xanthippe mal abgesehen. Verheirate dich, du wirst es bereuen; verheirate dich nicht, du wirst es auch bereuen. Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen. Verlache die Thorheiten der Welt, du wirst es bereuen; beweine sie, beides wirst du bereuen. Traue einem Mädchen, du wirst es bereuen; traue ihm nicht, du wirst auch dies bereuen. Wohin bringt einen diese Einstellung? Außer meinem sonstigen zahlreichen Umgangskreise habe ich noch einen intimen Vertrauten: meine Schwermut. Mitten, in meiner Freude, in meiner Arbeit, winkt er mir, ruft mich auf die Seite, auch wenn ich dem Leibe nach am selben Flecke bleibe. Meine Schwermut ist die treueste Geliebte, die ich kennen gelernt! Was Wunder, daß ich sie wieder liebe?

Chateubriands Satz Die großen Leidenschaften sind Einsiedler; sie in die Wüste schicken, heißt sie in ihr Reich zurückversetzen stellt er als Motto vor den zweiten Teil von Entweder - Oder. Von großen Leidenschaften und von der Einsamkeit handelt sein Werk. Das vielleicht das Werk eines Philosophen ist, aber auf jeden Fall das Werk eines Dichters. Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, daß, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie schöne Musik ertönen. Es geht ihm, wie einst jenen Unglücklichen, die in Phalaris' Stier durch ein sacht brennendes Feuer langsam gemartert wurden, deren Geschrei nicht bis zu den Ohren des Tyrannen dringen konnte, ihn zu erschrecken: ihm klangen sie wie heitere Musik. Und die Leute umschwirren den Dichter und sprechen zu ihm: »Sing uns bald wieder ein Lied;« das heißt: mögen neue Leiden deine Seele martern, und mögen deine Lippen bleiben, wie sie bisher gewesen; dein Schreien würde uns nur ängsten, aber die Musik, ja, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten herzu und sprechen: So ist es richtig; so soll es gehen nach den Regeln der Ästhetik. Nun, das versteht sich, ein Rezensent gleicht einem Dichter auf ein Haar, nur daß er nicht die Pein im Herzen, nicht die Musik auf den Lippen hat. Siehe, darum will ich lieber Schweinehirte sein auf Amagerbro und von den Schweinen verstanden werden, als Dichter sein und von den Menschen mißverstanden werden. Er wird aber nicht Schweinehirte in Amagerbro, er wird Dichter sein und von den Menschen missverstanden werden.

Kurz vor seinem Tode hat Kierkegaards Vater seinen Kindern von der schweren Schuld erzählt, die ihn sein ganzes Leben zu Boden gedrückt hatte. Der Schrecken eines Mannes, der damals als kleiner Junge Schafe auf der jütländischen Heide hütete, unter Hunger und Kälte litt und Gott verfluchte - und dieser Mann war nicht imstande, es zu vergessen, als er 82 Jahre alt war, schreibt Kierkegaard in seinem Tagebuch. In dieser Welt des religiösen dänischen Kleinbürgertums wird nichts vergessen und nichts vergeben.

Man hat den Eindruck, daß der junge Theologiestudent eher Betrachter als Teilnehmer ist und selbst nicht soviel zu bereuen hat; man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß, während es den Vater ob seiner Jugendsünden, die er bitter bereut hat, gereute, der Sohn bereute, daß er niemals irgend etwas begangen habe, das zu bereuen sich lohnte. Das sagt Joakim Garff in seiner 958-seitigen Kierkegaard Biographie, die ein herausragendes Buch ist. Da gibt es gar nichts zu bemängeln. Ausser der Tatsache, dass er Harald von Mendelssohn nicht erwähnt. Ist das das kleinbürgerlich spießige Dänentum, das Harald von Mendelssohn in seinem Buch Kierkegaard: Ein Genie in einer Kleinstadt so geißelt? Wenn die Kritiker sich vor Jahren nicht mehr einholen konnten zu betonen, dass Garff in seiner Biographie ein Panorama Dänemarks im 19. Jahrhundert entwirft, ja gut. Das macht er, und er macht es gut. Aber Harald von Mendelssohn hat das schon fünf Jahre vorher gemacht. Und siebenhundert Seiten kürzer. Aber das ist dem Doktor der Theologie Joakim Garff keiner Erwähnung wert. Seltsam.

Harald von Mendelssohn (ein Vetter des Thomas Mann Biographen Peter de Mendelssohn) wurde in Kopenhagen geboren und hat in Dänemark seine Kindheit verbracht, seine Mutter war Dänin, sein Vater Deutscher. Als Jude verfolgt, floh er 1934 von Deutschland nach Dänemark, ohne Papiere, ständig auf der Hut vor der dänischen Fremdenpolizei. Er hat aus dieser Zeit gewisse Ressentiments gegen die Dänen. 1938 ist er nach Schweden emigriert aber nach dem Krieg nach Kopenhagen zurückgekehrt. In einer tiefen persönlichen Krise in den dreissiger Jahren suchte er bei Sören Kierkegaard Halt, er wurde enttäuscht. Denn mir bot Kierkegaards subjektive Wahrheit keinen Ausweg; sie schloß den Fanatismus nicht in dem Maße aus, wie ich es nach meinen Erfahrungen wünschte. Auch schien mir der Widerspruch zwischen seinem Lebenswandel und seinen religiösen Forderungen erheblich. Aber später wurde ihm Kierkegaard ein Freund, den ich nicht aus dem wenn auch kritischen Blick verlor. Und so schrieb er nach seiner Pensionierung dieses sehr persönliche Buch, das wahrscheinlich Sören Aabye Kierkegaard näher kommt als viele andere Bücher. Wenn Ihnen mein Blog heute Appetit auf den dänischen Philosophen macht, dann kann ich ihnen nur raten: kaufen Sie dieses Buch! Es wird zur Zeit bei Amazon ab 1,99 € verramscht.

Das Buch ist bei Klett-Cotta erschienen. Die haben da ein Händchen für gute Autoren. Wie den ganzen Erwin Chargaff, die irrwitzige Solal Romantrilogie von Albert Cohen oder den schönen Roman Byron von Sigrid Combüchen. Vom Gesamtwerk Wilhelm Lehmanns mal ganz zu schweigen. Aber die guten Bücher verkaufen sich nicht, Albert Cohens Meisterwerk Die Schöne des Herrn wird genau so verramscht wie Harald von Mendelssohns Kierkegaard Buch. Gibt's auch ab 1,99. Ist irgendwie Sünde, aber auch eine Chance für den Leser.

Kierkegaard begleitet mich jetzt seit einem halben Jahrhundert. Ich brauchte keine existentielle Krise wie von Mendelssohn, um den melancholischen dänischen Philosophen (ich lasse mal den anderen dänischen Melancholiker beiseite. Schon 1953 hatte Denis de Rougemont von den beiden dänischen Prinzen gesprochen und den Vergleich zwischen Hamlet und Kierkegaard gesucht), um Kierkegaard zu lesen. Ich arbeitete mich damals durch mein persönliches Programm Lektüre der Weltliteratur mit Hilfe von Fischers Taschenbuchreihe exempla classica und Rowohlts Rowohlts Klassiker Reihe hindurch. Und bei Rowohlt erschienen Kierkegaards Werke, Der Begriff Angst war 1960 der erste Band der Werkausgabe. 1962 leistete ich mir schon die Tagebücher in der teuren Ausgabe des Eugen Diederichs Verlags. Und im Lauf der Zeit kam immer mehr hinzu. Als ich der Philosophiedozentin, die hier namenlos bleiben soll, Sören Kierkegaard als Prüfungsthema für das Rigorosum vorschlug, lehnte sie das Thema glatt ab. Das sei kein Philosoph, sagte sie. Da wußte ich, dass ich jetzt den Namen Arthur Schopenhauer gar nicht erst ins Spiel zu bringen brauchte. Sie schlug mir Hegel vor, ich sagte nur Igitt. Wir einigen uns auf das Thema des Staatsvertrags bei Hobbes, Locke, Rousseau und Kant. Ist ein nettes Thema, concédé, ist aber eben kein Kierkegaard. Man braucht auch nicht Philosophie zu studieren, um Kierkegaard zu lesen.

Denn er gehört, wie Schopenhauer (dessen Werk er erst kurz vor seinem Tod richtig entdeckte) zu den Philosophen, die man ohne Hilfe von anderen lesen kann. Jeder Leser wird ihn anders verstehen, aber es ist ein Vergnügen ihn zu lesen. Weil er ja eigentlich ein Dichter ist. Es gibt gute Einführungen, wie zum Beispiel How to Read Kierkegaard von John D. Caputo (aus dem englischen Granta Verlag) oder der Band Sören Kierkegaard zur Einführung von Konrad Paul Liessmann, der in dieser vorzüglichen Reihe Zur Einführung des Hamburger Junius Verlags erschienen ist.


Aber man kann sich auch Entweder - Oder nehmen und anfangen zu lesen. Ich gerate dabei immer ins Träumen und denke an den schönen Sommer oben in Jütland (da wo der kleine Michael Pedersen Kierkegaard in seiner Not seinen Gott verfluchte), wo der Wind über die einsame Heide fegte und ich diese schöne Frau zu gewinnen suchte. Und ihr massenweise Zitate aus dem Tagebuch des Verführers in die Liebesbriefe schrieb - wofür man Kierkegaard nicht alles gebrauchen kann, wenn man achtzehn ist! Sie können sich auch zur Einstimmung mal eben das wunderschöne alte dänische Lied anhören, wie ➱Maggie es nachts in ihrer Küche singt. Und dann Kierkegaard lesen.

Sören Aabye Kierkegaard ist heute vor 155 Jahren gestorben. Er war auf dem Weg zur Bank, um die letzte Rate des vom Vater geerbten Vermögens abzuholen.

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