Samstag, 6. November 2010

Stars and Stripes Forever


1959 war ich mit meiner Jugendgruppe in Frankreich, das Programm hieß Versöhnung über Gräbern. Wir haben in wochenlanger Arbeit einen verfallenen deutschen Soldatenfriedhof in Ailly-sur-Somme nördlich von Amiens wieder in einen ordentlichen Zustand versetzt.

Die englischen ➱Soldatengräber ein paar hundert Meter weiter waren in einem sehr gepflegten Zustand, grüner Rasen und all diese weißen Steine, die die Engländer ihren Soldaten überall auf der Welt spendieren. So wie Rupert Brooke das im Ersten Weltkrieg gedichtet hat: If I should die, think only this of me: That there's some corner of a foreign field That is for ever England. Vierhunderttausend Engländer sind hier an der Somme im Ersten Weltkrieg gestorben, auf deutscher Seite waren es ebenso viele.

Damals war ich zum ersten Mal in ➱Frankreich, viele aus unserer Gruppe waren zum ersten Mal im Ausland. Wir alle waren noch im Krieg geboren, jetzt konnten wir noch einmal das Ergebnis sehen. Dass ich fünf Jahre später mit meiner Brigade auf dem französischen Truppenübungsplatz ➱La Courtine im massif central sein würde, wusste ich damals noch nicht. Da war ich dann der dritte der Familie, der in Uniform in Frankreich war, Opa im Ersten Weltkrieg, mein Vater im Zweiten und nun ich. Aber in dem wunderschönen Spätsommer 1964 war kein Krieg, Deutschland und Frankreich waren jetzt glücklicherweise keine Erbfeinde mehr. Und vielleicht haben wir damals im Sommer 1959 in Ailly-sur-Somme (wie zehntausende anderer deutscher Jugendlicher in Frankreich, die in dem Programm des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge mitgearbeitet hatten) dazu beigetragen.

Der Sommer 1959 war ein schöner heißer Sommer in Frankreich, die verrosteten Stahlhelme auf den Gräbern waren so heiß, dass man sich die Finger daran verbrennen konnte. Wir arbeiteten vormittags und hatten nachmittags frei. Konnten in der Somme schwimmen oder mit dem Bus nach Amiens fahren. Im Ort liebten sie uns, der ganze Ort war kommunistisch. Die arbeiteten alle in der Jutefabrik der Nachkommen von James Drummond Carmichael, deren Villa oben auf dem Berg vor sich hin gammelte. Wir waren die ersten Deutschen nach dem Krieg hier. Touristen gab es noch nicht. Die hatten im Ort auch nichts gegen die Deutschen, mit denen hatten sie sich im Krieg irgendwie arrangiert. Die hassten die Amerikaner. Weil sie bei der Invasion alles sinnlos bombardiert und kaputtgemacht hatten. Dass Amiens im Zweiten Weltkrieg zu sechzig Prozent zerstört wurde, das sind die Deutschen nun mal ausnahmsweise nicht gewesen. An den Wänden von vielen Ruinen stand noch Ami Go Home! zu lesen, ich habe das photographiert. Jedes Jahr wurde in der Nacht vor der Feier zum Ende des Zweiten Weltkriegs die amerikanische Flagge aus der Kathedrale von Amiens geklaut.

In der Mittagshitze auf den Straßen von Amiens, wo ältere Männer auf Stühlen vor den Häusern saßen und aus Kofferradios die Übertragung der Tour de France hörten und so taten, als käme das Peloton jeden Moment um die Ecke gescheeßt, da hörte ich jemanden einen zündende, einprägsame Melodie pfeifen. Jeder pfiff die damals auf den Straßen. Bald konnten wir sie auch pfeifen. Ich hielt es für etwas typisch Französisches. Die Melodie ging ➱so. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich herausfand, dass dies nichts typisch Französisches war, sondern John Philip Sousas Marsch Stars und Stripes Forever. Da hatten die Franzosen in der Picardie bei allem Hass auf die Amerikaner vierzehn Jahre nach Kriegsende doch noch etwas von ihnen behalten. Das ist irgendwie schon sehr komisch.

Der amerikanische Militärmusiker und Komponist John Philip Sousa, der Stars and Stripes forever (und hunderte anderer Märsche) geschrieben und dirigiert hat (aber auch Operetten schrieb), wurde heute vor 156 Jahren geboren. Auch das etwas seltsam aussehende Sousaphon ist nach ihm benannt. Sousas Vater war Militärmusiker, da bleibt das Ganze in der Familie. Stars and Stripes forever ist heute - zusammen mit America the Beautiful - so etwas wie eine zweite Nationalhymne. Es gibt unzählige Plattenaufnahmen davon. Wenn man bei You Tube danach schaut, kann man es von Lennie Bernstein dirigiert sehen oder sich die Version mit Sam the Eagle und den Muppets anschauen. Und dann gibt es noch diese seltsame Version.

Zwanzig Jahre nach Sousa wird ein anderer amerikanischer Komponist geboren, der auch Sohn eines Militärmusikers ist und der auch eine Vielzahl von Marschmelodien verwenden wird. Hören Sie doch einmal in den ➱Circus Band March hinein. Seltsame Musik. Der junge Sousa wäre ja am liebsten zu einer Circus Band ausgebüxt (obgleich die bestimmt nicht solche Musik gespielt haben), da hat ihn sein Vater beim United States Marine Corps angemeldet. Der Vater von Charles Ives lässt seinem Sohn freie Hand, und so studiert der in Yale Musik. Und erfindet die moderne Musik für Amerika. Er wird aber sicherheitshalber Direktor einer Versicherungsgesellschaft. Wahrscheinlich weil er weiß, dass mit seiner Art Musik kein Geld zu verdienen ist.

Ives flicht in seine Kompositionen immer wieder Kirchenlieder ein, Melodien von ➱Stephen Foster. Und immer wieder Marschmusik. Ähnliches wird auch der amerikanische Komponist Aaron Copland machen, aber dessen Musik ist nicht so kompliziert wie die von Charles Ives. Und eins muss man natürlich klar sagen, eine Melodie von Charles Ives kann der berühmte Mann auf der Strasse nicht pfeifen. So wie der Franzose in Amiens 1959. Auch Sousa hatte mit der Musik seines Kollegen wohl leichte Schwierigkeiten. Als der ihm 1923 seine 114 Songs geschickt hatte, bedankte sich Sousa mit den Worten Some of the songs are most startling to a man educated by the harmonic methods of our forefathers.

Es gibt eine Anekdote, wonach der junge Charles Ives zwei marching bands beobachtete, die aufeinander zu marschierten und deren Musik sich irgendwann zu überlagern begann. Wenn man so will, besteht Ives's Musik aus sich überlagernden Clustern von Melodien. Es hat lange gedauert, bis die Öffentlichkeit ihn als den musikalischen Revolutionär Amerikas akzeptiert hat. Die Aufführung mancher seiner Werke hat er nicht mehr erlebt. Während man vor Jahrzehnten Schwierigkeiten hatte, eine Aufnahme seiner Werke zu finden und dankbar war, dass Columbia in der Reihe Masterworks Portrait herausgebracht hatte, kann man heute sein Werk leicht erreichen. Man muss sich dafür Zeit nehmen, denn - wie schon gesagt - es ist nichts zum Mitpfeifen. Aber je länger man es hört, desto mehr beginnt man, diese ruhige, kontemplative Musik zu verstehen.

Den Franzosen, die im Sommer 1959 so fröhlich auf den Straßen Stars and Stripes Forever pfiffen, war wahrscheinlich nicht klar, dass diese Musik ein Relikt des amerikanischen Bürgerkriegs war. Denn als der beginnt, hat der spätere American March King Sousa schon seit Jahren Musikunterricht. Und seine Heimatstadt Washington, in der hunderttausende von Soldaten zusammengezogen sind, beherbergt jetzt auch hunderte von marching bands, die mit klingendem Spiel durch die Straßen marschieren. Vom Anfang bis zum bitteren Ende des Krieges werden beide Seiten von Musik begleitet. I don't believe, hat Robert E. Lee gesagt we can have an army without music. Als Ken Burns der amerikanischen Öffentlichkeit seine Produktion The Civil War präsentierte, schaffte es der Soundtrack mit den Liedern und Melodien des Bürgerkriegs in die Charts. Der Krieg ist der Vater aller Dinge.

Killing's easy with a weapon in your hand
Killing's easy and they say that war is grand
With their music and their drums
They don't see the slaughter of the guns
Killing's easy and they say that war is grand


2 Kommentare:

  1. I like to joke about Richard Wagner that his orchestral music is so good that if he hadn't tried to write operas, he could have won an enduring fame as great as John Philip Sousa's.

    Not only did Ives as a child see and hear the bands marching toward and past (maybe even through) each other. We are told that one of his pieces reproduces the effect. I haven't been able to rediscover which one it is — possibly "Putnam's Camp," the second of the "Three Places in New England" — but I'm not quite certain.

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  2. Thanks! Maybe I should add what Ives once wrote about hearing marching bands in his youth - "a moment of vivid power" which he wrote into his "Decoration Day": "In the early morning of a Memorial Day, a boy is awakened by martial music -- a village band is marching down the street -- and as the strains of Reeves' majestic '[Second] Regiment March' come nearer and nearer -- he seems of a moment translated -- a moment of vivid power comes, a consciousness of material nobility -- an exultant something gleaming with the possibilities of his life -- an assurance that nothing is impossible, and that the whole world lies at his feet."
    -- Charles Ives: "Essays Before A Sonata" (1919)

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