Heute vor 160 Jahren ist Gustav Schwab gestorben. Er ist ein deutscher Dichter gewesen, an dessen Dichtkunst sich wohl kaum jemand erinnert. Er selbst hat sein dichterisches Werk auch in den wenigen Wochen vor seinem Tod geschrieben Zeilen nicht sehr hoch eingeschätzt:
Du fragst, von welcher Dichtersort’ ich sei?
Ich bin, wie Viele, halt ein morscher Knochen,
Vom Alter in das Mittelreich gesprochen;
Die Gegenwart ist längst für mich vorbei,
Und die Vergangenheit nicht angebrochen!
Er hat viele Balladen geschrieben, was damals eine beliebte Gedichtform war, wenn wir an Theodor Fontane denken. Aber an den reicht er natürlich nicht heran. Schwab hatte sich sicher seinen schwäbischen Landsmann Ludwig Uhland als Vorbild genommen, was Friedrich Theodor Vischer (der den wunderbaren Roman Auch einer geschrieben hat) zu dem bösartigen Satz veranlasste: Schwab hab ich auch bei Uhland kennen gelernt, der schwätzt natürlich dem Herrn und Meister als getreuer, süßer, fetter Geselle nach. Und der Literaturwissenschaftler Gerhard Storz, der einmal Kultusminister von Baden-Würtemberg war, konstatierte nur nüchtern: Kirchenstiftungen alter Grafen, Narrheiten schwäbischer Schildbürger, aber auch sensationelle Tagesnachrichten, ob vom griechischen Schauplatz oder vom Blitzestod in einer Bauernstube oder im Turmverlies zu Biberach - das alles geht in endlose Kolonnen gereimter Vierzeiler ein, wird zu versifizierten Erzählungen.
Endlose Kolonnen gereimter Vierzeiler, die der getreue, süße Geselle von Uhland nachschwätzt, das alles klingt nicht sehr nett. Heinrich Heine hatte immerhin anerkannt, dass der Pastor Schwab vielleicht der bedeutendste schwäbische Schriftsteller sei, aber seine Würdigung ist nicht so recht überzeugend: Er ist ein Hering in Vergleichung mit den anderen, die nur Sardellen sind; versteht sich, Sardellen ohne Salz. Er hat einige schöne Lieder gedichtet, auch etwelche hübsche Balladen; freilich, mit einem Schiller, mit einem großen Walfisch, muß man ihn nicht vergleichen. Sardellen, Heringe, Walfische, jetzt wissen wir Bescheid.
Und dennoch hat dieser Mann einen ungeheuren Einfluss auf die Kultur des deutschen Bürgertums gehabt. Weil er Die schönsten Sagen des klassischen Altertums herausgegeben hat. Die kann man 170 Jahre später immer noch kaufen. Natürlich sind Schwabs Geschichten aus der Götter und Heldenheld nicht the real thing, sie sind sorgfältig nach dem Biedermeier Zeitgeschmack bearbeitet. Wie der Herausgeber im Vorwort festhält, dass zwar alles nach den Originaltexten sei, aber daß alles Anstößige entfernt bleibe. Denn es ist uns klar, dass es im Liebesleben der griechischen Götter nicht so zugeht wie in einem schwäbischen Pastorenhaushalt. Schwab folgt hier dem Engländer Thomas Bowdler (dem die englische Sprache das schöne Verb to bowdlerize verdankt), der schon Shakespeares Werk von allem Schweinkram gereinigt hatte (das, was man in dem Klassiker Shakespeare's Bawdy von Eric Partridge lesen kann). Man findet dieses Ziel, die Weltliteratur so zu reinigen, dass sie von 15-jährigen Backfischen ohne Erröten gelesen werden kann, häufig in dieser Zeit. Und auch später noch.
Als ich klein war, habe ich natürlich Gustav Schwab gelesen. Wie Generationen von Deutschen seit 1840. Seit Winckelmann (der ja nie in Griechenland war) diese Botschaft gepredigt hat, dass eine bürgerliche Bildung ohne die Griechen unmöglich ist, haben wir Deutsche diesen Griechenlandtick. Also den, bevor Alexis Sorbas, der Ouzo und der Grieche um die Ecke zu uns kamen. Und die spezielle Art der griechischen Staatshaushaltsführung uns ein wenig von der Ilias und der Akropolis ablenkte. Da wünscht man sich schon, dass sie mal zu Hause aufräumen, so wie Odysseus auf dem Bild da oben. Und es muss Griechenland mit der edlen Einfalt und der stillen Größe sein, nicht etwa Rom. Da hat schon Lessing in seinem Laokoon Vorbehalte gegenüber Vergil, und Herder wendet sich in Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit völlig gegen die römische Kultur. Und das ohne Berlusconi und die Mafia zu kennen.
Wir sind in Deutschland in dieser Zeit nicht die einzigen, die jetzt Nachhilfe zur griechischen Mythologie bekommen. Die Amerikaner haben Thomas Bulfinch mit seinem Age of Fable, ein Buch, das bis heute ein kleiner Klassiker ist. Und das vorweg bekannte: Our work is not for the learned, nor for the theologian, nor for the philosopher, but for the reader of English literature, of either sex, who wishes to comprehend the allusions so frequently made by public speakers, lecturers, essayists, and poets, and those which occur in polite conversation. In der Welt der Klassik zu hause sein, das möchte man in der Welt dessen, die man im Englischen so schön als genteel bezeichnet. Aber bei Bulfinch soll es nicht nur Belehrung sein, das Buch, das unter der Widmung an Longfellow die Zeile This Attempt To Popularize Mythology, And Extend The Enjoyment Of Elegant Literature trägt, soll auch ein Vergnügen sein: an attempt to solve this problem, by telling the stories of mythology in such a manner as to make them a source of amusement. We have endeavored to tell them correctly, according to the ancient authorities, so that when the reader finds them referred to he may not be at a loss to recognize the reference. Thus we hope to teach mythology not as a study, but as a relaxation from study; to give our work the charm of a story-book, yet by means of it to impart a knowledge of an important branch of education. The index at the end will adapt it to the purposes of a reference, and make it a Classical Dictionary for the parlor. Das Buch, das natürlich expurgated of all that would be offensive ist, ist heute noch lieferbar und wird noch an amerikanischen Schulen verwendet. Und warum auch nicht.
Natürlich gibt es zur gleichen Zeit auch Bücher, die wissenschaftlichen Anforderungen genügen. Die sind allerdings nicht so leicht zu lesen wie Bulfinch. Und das Element des telling the stories of mythology in such a manner as to make them a source of amusement fehlt da völlig. Ich meine damit Sir William Smiths Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology. Ein Monsterwerk von beinahe viertausend Seiten. Es hat davon im 19. Jahrhundert noch eine gekürzte Ausgabe (immerhin noch 688 Seiten) gegeben. Und dankenswerterweise hat Sir James George Frazer sein 12-bändiges Werk The Golden Bough: A Study in Magic and Religion auf 756 Seiten kondensiert. Weshalb Sir Paul Harvey das Werk von Smith in seinem Oxford Companion to Classical Literature 1937 nicht erwähnt (Frazer erwähnt er natürlich), wird mir immer unerfindlich bleiben.
Das Verlangen, uns die griechische Götterwelt nahezubringen, scheint kein Ende zu finden. Und damit meine ich nicht Hans Joachim Schädlichs charmante Nacherzählung des Äsop Roman in Gib ihm Sprache (Rowohlt 1999), sondern Größeres, sprachlich Zeitgemäßeres als Schwab und Bulfinch. Also zum Beispiel Robert (Ranke) Graves The Greek Myths (1955 bei Penguin). Und natürlich Karl Kerényis Die Mythologie der Griechen, die der Autor eine Mythologie für Erwachsene nannte. Nicht dieser kiddie stuff wie Gustav Schwab. Kerényi zitiert im Vorwort als ein Beispiel für das, was er vorhat den Engländer Sir George Gray, den die Krone nach Neuseeland geschickt hat. Er kann die Einwohner nicht verstehen, und er merkt auch, dass seine Übersetzer ständig Fehler machen:
To my surprise, however, I found that these chiefs, either in their speeches to me or in their letters, frequently quoted, in explanation of their views and intentions, fragments of ancient poems or proverbs, or made allusions which rested on an ancient system of mythology; and, although it was clear that the most important parts of their communications were embodied in these figurative forms, the interpreters were quite at fault, they could then rarely (if ever) translate the poems or explain the allusions, and there was no publication in existence which threw any light upon these subjects, or which gave the meaning of the great mass of the words which the natives upon such occasions made use of; so that I was compelled to content myself with a short general statement of what some other native believed that the writer of the letter intended to convey as his meaning by the fragment of the poem he had quoted or by the allusions he had made. I should add that even the great majority of the young Christian natives were quite as much at fault on these subjects as were the European interpreters.
Clearly, however, I could not, as Governor of the country, permit so close a veil to remain drawn between myself and the aged and influential chiefs whom it was my duty to attach to British interests and to the British race, whose regard and confidence, as also that of their tribes, it was my desire to secure, and with whom it was necessary that I should hold the most unrestricted intercourse. Only one thing could under such circumstances be done, and that was to acquaint myself with the ancient language of the country, to collect its traditional poems and legends, to Induce their priests to impart to me their mythology, and to study their proverbs. For more than eight years I devoted a great part of my available time to these pursuits. indeed, I worked at this duty in my spare moments in every part of the country I traversed and during my many voyages from portion to portion of the islands. I was also always accompanied by natives, and still at every possible interval pursued my inquiries into these subjects. Once, when I had with great pains amassed a large mass of materials to aid me in my studies, the Government House was destroyed by fire, and with it were burnt the materials I had so collected, and thus I was left to commence again my difficult and wearying task.
Und unser synthetisches Griechenland, das die gebildeten Stände weitergeben, ist ja nichts anderes als fragments of ancient poems or proverbs, or... allusions which rested on an ancient system of mythology. Der englische Soldat und Staatsmann wird so zu einem Wissenschaftler, der die Polynesian Mythology and Ancient Traditional History of the New Zealand Race schreibt (was der Wikipedia Artikel völlig unerwähnt lässt!). Weil er einer der ganz wenigen Kolonialherren ist, der seine Untertanen verstehen will. Er lässt sie erzählen und hört ihnen zu. Und schreibt dann alles auf. Und so stellt sich Kerényi auch eine Situation vor, in der er die Sprache und die Mythen erlernt, um die Griechen zu verstehen. Seine Mythologie für Erwachsene ist wieder einmal (wie die von Robert Graves) eine Erzählung, aber es ist jetzt eine wissenschaftlich fundierte Erzählung mit Fußnotenapparat.
Durch das Erzählen bleibt die Welt lebendig, und deshalb erzählen, erklären und übersetzen uns deutsche Klassische Philologen von Ulrich von Millamovitz-Moellendorff über Wolfgang Schadewaldt bis Manfred Fuhrmann Heroisches und Alltägliches aus dem Olymp noch einmal. Weil es auch Teil unserer Kultur ist, das hat unserer Bundespräsident vielleicht noch nicht gemerkt. Ich habe mit den drei Herren berühmte deutsche Philologen genannt, aber wir sollten nicht glauben, dass nur wir die Deutungshoheit in der Klassischen Philologie seit dem Pfarrer Schwab haben. Da muss ich noch einmal auf die Engländer kommen. Denn das Buch von Sir William Smith ist da keine Ausnahmeerscheinung. Die haben durch ihre Public Schools und ihre alten Universitäten eine ganz andere Tradition in der Bewahrung der sogenannten toten Sprachen.
Wir wissen, wofür Französischkenntnisse gut sind. Um garçon, une bouteille de champagne! zu rufen, falls wir mal mit Carla Bruni ausgehen sollten. Und um schmutzige Dinge zu verstehen, die ein französischer Fußballspieler seinem Trainer sagt. Aber was sollen wir mit toten Sprachen? Warum habe ich Latein gelernt? Also, es hat mir bis heute nicht geschadet, eher im Gegenteil. Und für das sogenannte Große Latinum (nicht dieses billige KMK Latinum von 1979) bin ich bis heute dankbar, auch wenn ich meinen letzten Lateinlehrer gehasst habe - aber das hatte andere Gründe. Natürlich kommt man durchs Leben, ohne Latein oder Griechisch zu können, außer wenn man Papst werden will. Und natürlich kann man eine klassische Bildung vortäuschen, in dem man aus Büchmanns Geflügelten Worten die lateinischen Sentenzen auswendig lernt und von Zeit zu Zeit in die Unterhaltung einflicht. Dieses Verfahren, das in Stephen Potters ironischem und satirischem Buch über die One- Upmanship schon beschrieben wurde, reicht ja heute schon aus, um ihm Fernsehen vorzugaukeln, man sei Philosoph. Lernen Sie zwanzig Namen von Philosophen von Aristoteles bis Foucault oder Luhmann auswendig und fügen Sie diese Namen in jeden dritten oder vierten Satz ein! Alle werden Sie für einen Philosophen halten. Thea Dorn hat damit Erfolg.
Die Heldensagen von Schwab habe ich auch gelesen, fand den moderneren Fühmann aber viel interessanter. Ich glaube, das hab ich schon einmal erwähnt.
AntwortenLöschenDas mit der Bereinigung der Literatur von "Schweinkram" erinnert mich seltsamerweise an die Bereinigung der Literatur von nicht politisch Korrektem.
Negerkönig wird zu Südseekönig in Pipi Langstrumpf. Zumindest möchte das die amtierende Familienministerin. So was eben...
So langsam find ich in Ihrem Blog immer mehr schöne Posts. Daher viele Grüße an Jay, dessen Blog schon mal zum fast täglichen Begleiter wird.