Sonntag, 30. Juni 2013

Friedrich Theodor Vischer


Dies ermutigte mich, ihn zu fragen, woher er komme. »Vom Rigi herunter,« war die Antwort. »Wie? in der kurzen Zeit?« – »Will nicht viel heißen; gestern abend hinauf, in der schönen Mondnacht herunter.« – »Wie war's? Schön, nicht wahr? Es war ja ein prächtiger Abend.« – »Wohl, wohl! Nur viel Bildungsvolk oben! Werden die Berge bald vollends wegätzen. Fehlt ein Abschreckungs-Bädeker, daß es wieder einsam würde und stille Menschen ein vertrautes Wort mit der Natur reden könnten oder von ihr anhören. Dieser wunderbare Gedanke mit dem Abschreckungs-Bädecker findet sich gleich am Anfang des Romans Auch einer: Eine Reisebekanntschaft von Friedrich Theodor Vischer. Ich streiche ja selten etwas in meinen Büchern an, aber diese Stelle hat in meiner Ausgabe doch einen zarten Bleistiftstrich bekommen. Wenn man auf der Suche nach wunderbaren Gedanken und Aphorismen ist, kann man in Auch einer eine Menge Bleistiftstriche machen. Wenige Seiten nach dem obigen Zitat wird die Tücke des Objekts bestimmt eine Markierung bekommen. Und Eine Welt, wo so viel gelacht wird, kann so schlecht nicht sein sowieso. Das Moralische versteht sich doch immer von selbst.

Es ist ein seltsamer Roman, der eher in das achtzehnte als das neunzehnte Jahrhundert gehört. Der ein wenig nach Laurence Sterne und Jean Paul schmeckt, kurzum, ein Roman, der vertrackt und mit Hindernissen erzählt wird. Und der zum Ende hin immer mehr zerfieselt. So wird Richard Weltrich in seinem Lexikonartikel in der ➱Allgemeinen Deutschen Biographie schreiben: das dem Durchschnittspublicum freilich schwerverständliche Werk gießt einen mächtigen Strom von Gedanken, von Lebensweisheit und von Humor aus.

In einem ➱Festvortrag über Friedrich Theodor Vischer (wegen der Schreibweise seines Namens auch manchmal V-Vischer genannt) sagte ➱Hermann BausingerDas Wort Festvortrag klingt nicht nur bedenklich abendfüllend, es passt auch schlecht zu Friedrich Theodor Vischer. Eine angemessene Hommage an Friedrich Theodor Vischer müsste man eigentlich präsentieren als ein Art Happening, als Capriccio (um ein Lieblingswort Vischers zu verwenden), als buntes und provozierendes Spiel. Ein Redner, gewiss, aber einer, der schon auf dem Weg zum Pult stolpert, der vom Katarrh geschüttelt wird, dessen erste Worte von gewaltigem Niesen unterbrochen werden und der bei den nächsten Sätzen plötzlich stockt, verstummt, dem das Wort im Halse steckenbleibt (Vischer hat diesen Alptraum mehrfach geschildert). An seiner Stelle könnte eine Gruppe kleiner Teufel auf die Bühne tanzen, zuständig für die unübersehbaren Mängel unseres banalen Daseins... Dieser Beginn seiner Rede beschreibt eigentlich schön den Roman Auch einer, seinen Helden A.E. und Vischer selbst. Denn dieser 'Roman' ist auch ein Stück Autobiographie und Selbstanalyse.

Friedrich Theodor Vischer hat Theologie studiert, sich danach aber in Deutscher Literatur habilitiert. Er erhielt in Tübingen einen Lehrstuhl für Ästhetik und deutsche Literatur, wurde aber gleich nach der Antrittsvorlesung wegen seines Bekenntnisse zum Pantheismus suspendiert (allerdings mit vollen Bezügen). Der Anhänger des Vormärz hat im Paulskirchenparlament gesessen, die Ideale des Vormärz haben ihn nie verlassen. Er war, so klein er körperlich war, ein Großer in der Geisteswelt. Ein Meister der Essayistik, der gegen Tierquälerei und die Auswüchse der ➱Mode zu Feld zog. Wahrscheinlich wäre er heute Blogger. Dann könnte er als Namen jenen Namen verwenden, den er manchmal als Pseudonym führte: Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky.

Friedrich Theodor Vischer fügte Goethes Faust einen dritten ➱Teil hinzu, versuchte (leider vergeblich), Hebbel davon abzuhalten Die Nibelungen zu schreiben und brachte seinen Freund Gottfried Keller dazu, den Grünen Heinrich umzuschreiben. Mit ➱Wilhelm Raabe konnte er nicht viel anfangen. Dabei ist der ihm doch ein klein wenig verwandt. Aber mit einem anderen Schriftsteller ist er gut ausgekommen: 'Darf ich ...', 'Mein Name ist Vischer'. 'Ah, der V- Vischer', rief ich überrascht. Er lächelte: 'Ja, der bin ich.' Ich sagte ihm nun, wie er in dem Berliner Kreise, in dem ich lebte, ein Gegenstand unsrer aller Verehrung sei, was er freundlich aufnahm. Die beiden Herren teilen sich 1871 zwischen Straßburg und Vitry ein Eisenbahncoupé, sie haben sich sehr gut verstanden. Wir können es in Theodor Fontanes Aus den Tagen der Okkupation nachlesen.

Friedrich Theodor Vischer wurde am 30. Juni 1807 geboren. Ich dachte mir, ich sollte mal an diesen seltsamen Roman erinnern, der ein Stück Philosophie und ein Stück Kauzigkeit ist. Ich besitze eine dreibändige Werkausgabe von Vischer, aber am liebsten ist mir die Insel Ausgabe, die da oben abgebildet ist. Was die germanistische ➱Literaturwissenschaft heute von Vischer hält, weiß ich nicht. Interessiert mich auch nicht wirklich. Neulich hat mir jemand erzählt, dass eine junge Germanistikprofessorin in einer Vorlesung gesagt habe, sie hätte ein bestimmtes Buch nicht lesen können, weil das in Frakturschrift gedruckt sei. Dahin werden wir kommen. Wir bekamen in der Volksschule noch die Grundlagen der deutschen Kurrentschrift vermittelt. In Kindlers Literatur Lexikon geht Harald Landry nicht sehr nett mit dem Roman um. Für ihn war es bis lange nach dem Ersten Weltkrieg ein Lieblingsbuch professoraler und anderer gebildeter Kreise in Deutschland. Kurt-Ingo Flessau hat in seinem Artikel für Auch einer in Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur sehr viel mehr Sympathie für den Roman übrig. Aber lassen wir die Germanistik sein wie sie ist, kümmern wir uns nicht um die Meinungen von Leuten, die eh keine Bücher mehr lesen. Leser wird es immer geben. Und es wird immer Leser für einen krausen Roman wie Auch einer geben. Und wenn wir eine Bedienungsanleitung für die Lektüre von Friedrich Theodor Vischer suchen, bitte, hier ist sie:

Du hoffst von der Dichtung Lust und Behagen
Und pflegst nach dem Sinn erst lange zu fragen?
Laß dem innern Auge das Bild sich zeigen,
So wird auch der Sinn von selber dir eigen;
Erspar' dir, Guter, die Mühe; der Sinn,
Er ist nicht dahinter, er ist darin.

Ein Kunstfreund, dem ein Gemälde man brächte:
Wie wär's, wenn er so an den Sinn nur dächte,
Daß er's nähme, die Rückwand vorwärts drehte
Und auf dem Brett, auf der Pappe spähte,
Ob nirgends darauf eine Glosse steh',
Woraus er des Bildes Sinn erseh'?

Fragst du nach der Dinge Begriff und Wesen,
Greife nach Büchern, leg' dich auf's Lesen,
Und hast du gelesen, so magst du fragen:
Wie hab' ich den Geistgewinn anzuschlagen?
Kannst du nicht schauen, so ist die Kunst,
Gesteh' es nur immer, dir eitel Dunst.

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