Sonntag, 2. Mai 2021

Marschendichter


Die Herren hier befinden sich auf einem Pilgerzug ins Land der Kunst, das Photo aus dem Jahre 1895 hat auch den Namen Gänseblümchenparade. Offenbar muss man ein Gänseblümchen in der Hand halten, um die Kunst zu entdecken. Die Herren, die hier dem Marschendichter Hermann Allmers folgen, sind beinahe alle Künstler. Von links sind das die Maler ⇾Heinrich Vogeler und ⇾Fritz Overbeck, dann folgen Hans Müller-Brauel (ein Archäologe und Heimatforscher) und die Maler ⇾Fritz Mackensen und Otto Modersohn. Halb ⇾Worpswede hat sich hier bei Allmers versammelt. Er war, so schreibt ein Biograph, ein Genie der Freundschaft, dem die Herzen zuflogen und der sich überallhin verschenkte und verschwendete. Er fördert finanziell auch die Herren mit den Gänseblümchen, er ist ein reicher Mann.

Der Landwirt Allmers aus Rechtenfleth, der nebenbei Vogt und Deichgraf ist, hat keine Schule und keine Hochschule besucht. Sein Reichtum ermöglicht ihm private Studien und weite Reisen, er war lange in Italien. Für seine erste Italienreise hatte ihm sein Vater eine Rolle mit dreihundert Goldtalern auf die Geburtstagstorte gelegt. Allmers' Buch Römische Schlendertage wird zum meistgelesenen Reisebuch des 19. Jahrhunderts. Er hat einen großen Freundeskreis, seine Korrespondenz umfasst mehr als elftausend Briefe, der Allmershof wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem kulturellen Zentrum Norddeutschlands. Wo sollen wir Allmers in der deutschen Literatur einsortieren? Vielleicht nicht ganz oben, aber vielleicht doch in Augenhöhe. Wir müssen mal eben einen Blick auf die Kultur in Bremen am Ende des 19. Jahrhunderts werfen.

Lesen tut der Bremer ja nicht so gerne, ⇾Klaus Groth wird das erfahren, wenn er die Tochter eines Bremer Rotweinhändlers heiratet. Aber schon vorher hat ein Volontär in der Bremer Leinenhandlung H. Leupold  konstatiert: Eine Teilnahme an der fortlaufenden Literatur des Gesamtvaterlandes findet hier nicht statt: Man ist so ziemlich der Ansicht, dass mit Goethe und Schiller die Schlusssteine in das Gewölbe der deutschen Literatur gelegt seien, und lässt allenfalls die Romantiker noch für später angebrachte Verzierungen gelten. Der junge Mann heißt Friedrich Engels. 

Und im selben Jahr 1840 sagt ⇾Arnold Duckwitz: Ein Lesen, Studieren und Forschen ohne praktischen Zweck ist hier nicht zu Hause und muss da gesucht werden, wo man die Zeit hat. Der Robinson Crusoe des gleichnamigen Romans heißt eigentlich Kreutznaer, sein Vater kommt aus Bremen. Wenn es unseren Robinson auf seine Insel verschlägt, wird er, ganz englischer kapitalistischer Kaufmann, sein Hauptbuch des Lebens mit Errungenschaften und Verlusten füllen. Es ist aber nicht nur das ökonomische System des britischen Kapitalismus, das ⇾Karl Marx aus dem Buch herausliest, es ist auch die Ideologie der Bremer Kaufleute. Der Großkaufmann Arnold Duckwitz, der zum Handelsminister des Frankfurter Parlaments aufsteigt, würde das ebenso sehen. 

Wir sehen, die Bremer Pfeffersäcke und Rotweinimporteure haben es nicht so mit der Literatur. Wenn man dem bei Schünemann erschienenen Band Geistiges Bremen folgt, gibt es im 19. Jahrhundert vier bedeutende Bremer Schriftsteller: ⇾Otto Gildemeister, ⇾Heinrich Bulthaupt, Arthur Fitger und Hermann Allmers. Das sind Zeitgenossen von Fontane, Raabe, Stifter, Keller und Storm. Oder, in der Welt des Dramas: Grabbe, Büchner und Hebbel. Man muss schon sehr heimatverbunden sein, wenn man manche dieser Bremer Schriftsteller in das oberste Regal der deutschen Literatur stellen will. Vielleicht kommen sie nicht mal in das Regal, in dem ⇾Karl Gutzkow steht, jener Gutzkow, der wenn er nächtens am Goethe und Schiller Denkmal in Weimar vorbeikommt, die Faust hebt und ruft: Aber neunbändige Romane habt ihr nicht geschrieben

Die Bremischen Biographien des 19. Jahrhunderts von 1912 widmen den schlechtesten Schriftstellern die längsten Artikel: Bulthaupt (14 Seiten) und Fitger (13 Seiten) schlagen Hermann Allmers (7 Seiten) um Längen. Temporis filia veritas, der literarische Geschmack ist es auch. Gibt man die vier Namen bei Amazon ein, wird man sehen, dass Hermann Allmers überlebt hat. Gildemeister auch, wenn auch nur wegen seiner Essays und seiner Dante- und Byronübersetzungen. Fitger ist als Schriftsteller berechtigterweise völlig vergessen. Bulthaupt führt, erstaunlicherweise, noch ein zähes Leben als Verfasser von Regelwerken, wie das Schauspiel oder die Oper zu sein habe. Er denkt da Lessings Hamburgische Dramaturgie weiter, ohne jemals an Lessing heranzureichen. Nicht mal an seinen Zeitgenossen Friedrich Spielhagen. Verdächtig häufig findet sich bei Lexikoneintragungen zu Bulthaupt und Fitger das Wort Epigonentum. Das scheint ja spätestens seit Karl Immermanns Roman Die Epigonen eins der größten Probleme der Künstler des 19. Jahrhunderts zu sein. 

Prachtvoll, großartig war das gestern Abend. Habe drei Stunden andächtig zu deinen Füßen gesessen! sagt Allmers zu Bulthaupt nach einer Premiere. Jeder weiß, dass Allmers nach einer Viertelstunde das Weite gesucht hat und in den Ratskeller gegangen ist. Fitger ist die schillerndste Figur, er ist gleichzeitig Maler, Dichter und Dramatiker. In allen Gebieten ist er, wie man heute sagen würde, grottenolmschlecht. Aber Bremen liegt ihm zu Füßen, man vergöttert ihn. Er ist der Bremer Kunstpapst, der sich herablassend, geradezu vernichtend, gegenüber der neuen Kunst, wie der von Paula Becker Modersohn, äußern wird. 

Über Paula Becker schreibt er am 20. Dezember 1899 in der Weser-Zeitung (deren Chefredakteur sein Bruder Emil ist): Unsere heutigen Notizen müssen wir leider beginnen mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns darüber, daß es so unqualifiercirbaren Leistungen wie den sogenannten Studien von Maria Bock und Paula Becker gelungen ist, den Weg in die Ausstellungsräume unserer Kunsthalle zu finden, ja daß man ihnen ein ganzes Cabinet eingeräumt hat.... daß so etwas hat möglich sein können, ist sehr zu beklagen. Für die Arbeiten der beiden genannten Damen reicht der Wörterschatz einer reinlichen Sprache nicht aus, und bei einer unreinlichen wollen wir keine Anleihe machen... so ist auch uns in diesem Augenblick der Gedanke an unsere Kunsthalle so widerwärtig geworden, daß wir den lebhaften Wunsch nicht mehr unterdrücken können, möglichst bald sie uns aus dem Sinn zu schlagen und uns Erfreulicherem zuzuwenden.

Wenn man Fitger als Makart für Arme charakterisieren würde, dann ist er noch gut bedient. Er ist übrigens auf einem Auge blind und kann überhaupt nicht zeichnen, aber große Flächen mit großen Emotionen füllen, das kann er. Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten. Doch Fitger, das muss man sagen,  verdankt seinen Aufstieg Hermann Allmers. Das hat mich immer gewundert, denn immerhin ist Allmers auch mit ⇾Friedrich Theodor Vischer, dem Autor von Auch Einer, befreundet, korrespondiert mit der geistigen Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts und fördert die junge Worpsweder Malerkolonie. Aber er lässt sich von Fitger seinen Antikensaal gestalten. Und das scheußliche Bild da oben (Barbarossas Erwachen im Kyffhäuser) hängt auch bei ihm in einem Salon.

Ich gebe gerne zu, dass ich ein offenes Herz für den Kitsch des 19. Jahrhunderts habe, ich bewundere die gelackten Flächen von ⇾Franz Xaver Winterhalter und James Tissot, alle Historienmaler sind mir lieb. Das liegt an Opas Kunstbüchern, da war immer nur die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts drin, mit den großen patriotischen Szenen, ob Friedrich der Große bei Leuthen, Friedrich der Große in Lissa (Bonsoir, messieurs), Prinz Louis Ferdinand bei Saalfeld, ⇾Bismarck und Napoleon III nach der Schlacht von Sedan, ich kenne jede Uniform, jedes sterbende Pferd. Selbst ⇾Lawrence Alma-Tadema geht bei mir noch durch, aber mit Fitger sind geschmackliche Grenzen nach unten unterschritten. 1973 habe ich in Hamburg die zum ersten und letzten Mal ausgestellte ⇾Sammlung Schwabe gesehen, und bin gleich am nächsten Tag noch mal hingefahren. Und auch die Sammlung des ⇾Barons Sir John Henry von Schröder (Hamburger Kunsthalle 1984) ist unter den Aspekten des hochglanzpolierten Kitsches nicht schlecht (beide Sammlungen haben hier schon einen Post). Im Gegensatz zu diesen beiden Hamburger Millionären, die ihre Anglomanie voll ausleben, sind die Bremer, die sich ihre Gründerzeitvillen von Fitger ausmalen lassen, wirkliche Banausen. Und über die literarische Produktion dieser gründerzeitlichen Doppelbegabung sei am besten der Mantel des Schweigens ausgebreitet.

Aber das Verhältnis zu Fitger und auch zu Bulthaupt wird sich abkühlen, in der Festgabe zu Allmers achtzigstem Geburtstag, die ihm sechzig Schriftsteller und Maler widmen, sind beide nicht mehr vertreten. Wenn man mit den von Allmers gesammelten Märchen wie Hake Betgen siene Duben, dem Kyffhäusermärchen, dem von Brahms vertonten Gedicht Feldeinsamkeit und dem Marschenbuch aufgewachsen ist, kommt einem Allmers als ein in seiner Landschaft verhafteter Dichter wie selbstverständlich vor (wenn man Student in einer Verbindung ist, singt man heute noch Dort Saaleck, hier die Rudelsburg). Das habe ich schon in dem Post An der Saale hellem Strande erwähnt.

Allmers ist mit ganzem Herzen ein Anhänger der 48er Revolution gewesen. Er wird ihr immer nachtrauern. Er wird ein Lebensbild vom Hauptmann ⇾Heinrich Böse schreiben, das auch ein Sittenbild aus dem Bremen der Franzosenzeit ist. Böse (Bild) ist ein freiheitsliebender Bremer, der aus seinem privaten Vermögen ein Bremisches Jäger Corps zum Kampf gegen Napoleon ausrüstet und damit nach Frankreich zieht (es wird in keine militärischen Aktionen verwickelt sein). Der auch für die 48er Revolution eintritt (und den Mittellandkanal mitbegründet). So einer erscheint Allmers als der Inbegriff patriotischer Tugenden. Allmers wird den flüchtigen Arnold Ruge, den ehemaligen Mitarbeiter von Karl Marx, beherbergen (und dafür später zu einer Geldstrafe verurteilt werden). Zum Gedenken an die Märztage pflanzt er in seinem Garten eine Eiche, die er später mit einem eisernen Schild verziert: Nichts als die Worte ’Deutschlands Frühling 1848’ steht daran, darüber ein aufgehend Hoffnungssternlein und drunter --- ein böser Querstrich

Der Admiral ⇾Rudolf Brommy, ein überzeugter Demokrat, der die deutsche ⇾Reichskriegsflotte befehligte, ist nicht zu einem deutschen Helden geworden. Für den Marschendichter Hermann Allmers, der immer noch ein alter 48er Revolutionär ist, ist Brommy aber ein zu Unrecht vergessener Held. Und so sorgt er nach Brommys Tod für ein Ehrenmal, auf dem seine Verse stehen:

Karl Rudolf Brommy ruht in diesem Grabe
Der ersten deutschen Flotte Admiral
Gedenkt des Wackren und gedenkt der Tage,
An schöner Hoffnung reich und bittrer Täuschung,

Das Land, das Allmers geerbt hat, hat er gewinnbringend verpachtet, das Haus baut er jetzt zu einem kleinen Kulturzentrum der Wesermarsch aus, es wird, wenn man so will, das erste öffentliche Museum zwischen Weser und Elbe. In diesem Saal kann man unter der Decke den sechsteiligen Marschenfries von Heinrich von Dörnberg sehen, der die Geschichte der Marsch mit Themen wie Urzeit der Marsch, Fischer- und Jägerleben der Marschen, Gründung der Deiche, Die Bauernschlacht, Die Sturmflut und das Bauerngericht unter der Stadteiche von Hagen, alles mit brauner Tönung al fresco an die Wand gebracht.

Allmers begründet etwas, das man die Heimatbewegung, manchmal auch Heimatschutzbewegung (wie in dem kunsthistorischen Begriff Heimatschutzarchitektur), nennt. Eine Bewegung gegen die Entfremdung durch die Industrialisierung, eine Rückkehr zur Natur und zur Landschaft der Wesermarsch. Diese Heimatbewegung mit all ihren positiven Werten ist sicherlich auch die Grundlage unseres Bremer Heimatkundeunterrichts, der uns alle in meiner Schulzeit eng an unseren Ort binden wird. Sie wird allerdings auch von den Nationalsozialisten geschickt ausgebeutet, wie auch alle späteren Bewegungen der 20er Jahre. Der Satz von Allmers Das Volk zu bilden, zu veredeln und auf die Höhe der Wahrheit zu führen gilt all mein Sinnen und Trachten, klingt heute etwas seltsam, aber es war ihm ernst damit.

Der Schriftsteller Hermann Bahr hatte Allmers in den 1880er Jahren in Berlin getroffen, und seine Beschreibung stelle ich mal an den Schluß, sie sagt uns viel über den Menschen: Bei ihm traf ich eines Tags einen hochgewachsenen Sechziger so leuchtenden Wesens, daß mir beim bloßen Anblick wunderlich wohl ward; etwas Bezauberndes ging von ihm aus. Es war Hermann Allmers. Wer diesen Namen hörte, sagte damals automatisch: der Dichter der Marschenlieder. Er war von der gewissen Berühmtheit, die darin besteht, daß sie jedermann anerkennt, aber niemand lesend nachprüft. Ich kannte keine Zeile von ihm, aber nie wieder hat ein Dichter persönlich auf mich so dichterisch gewirkt. Er war selber ein Gedicht, und eins der höchsten Art, durch dessen bloße Gegenwart man eines höheren Daseins gewiß, ja fast schon selber teilhaft wird. Ich kann mich kaum eines anderen Mannes von solcher Arglosigkeit, Herzenseinfalt und Innigkeit entsinnen. Friese, geboren und gewachsen auf uraltem Hof, der den Seinen seit einem halben Jahrtausend gehörte, hatte der baumstarke Recke das Gemüt eines Kinds und rührend war nun, zugleich aber höchst lächerlich, gar in der großen Stadt hier, sein Unvermögen, sich vorzustellen, es könnte jemand auch anders sein als er.

Es gab hier vor zehn Jahren schon einmal einen Post für ⇾Hermann Allmers; aber ich dachte mir, es könnte nicht schaden, wenn ich noch einmal über ihn schreibe. Viele der hier genannten Maler und Schriftsteller haben auch schon einen Post, ich habe diese Links mit einem kleinen Pfeil (⇾) versehen.

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