Sonntag, 3. September 2017

Heimatkunde


Sie erinnern sich an dieses Traumpaar? Sind beide weg vom Fenster. Meinen Post über die ➱Kultusministerin haben damals viele tausend Leser gelesen, ich bekam sogar Lob von einem ehemaligen Chefredakteur einer renommierten Zeitung. Frau Wende hätte die Heimatkunde ja glatt abgeschafft, aber dann wurde sie selbst abgeschafft. Und alle im Land atmeten auf. Man hatte sie schon völlig vergessen, aber jetzt in der silly season kann sich offensichtlich jeder zu Wort melden. Wara Wende sieht sich jetzt als Opfer einer Hexenjagd. Aber was will sie? Man hat sie ja nicht aufs Rad geschlagen, nicht gefoltert oder verbrannt für all den Unsinn, den sie angerichtet hat. Sie kriegt eine fette Pension für den Rest ihres Lebens, wozu die Aufregung? Wo ist die Hexenjad? Ihr ist doch nix passiert, nicht mal den Besen hat man ihr weggenommen.

Heimatkunde heißt heute nicht mehr Heimatkunde, es hat immer wieder Diskussionen um den Heimatkunde Unterricht gegeben. Wie auch über die ➱Volkskunde, eine Wissenschaft, die auch nicht unumstritten ist. Volkskunde heißt heute Europäische Ethnologie oder auch Kulturanthropologie (und es gibt noch andere Namen). Es ist ein Fach, das sich immer noch mit der Definition schwer tut.

Vor 1945 war in der Volkskunde alles klar, als man Begriffe wie Volksgemeinschaft, Volksleben und Volkskultur hatte und alles blond, arisch und germanisch war. Jahrzehnte später ist von dem ➱Germanentum nur noch der Cartoon Hägar der Schreckliche übrig. Und damit beschäftigen sich in Amerika die Popular Culture Studies, die sich mit der deutschen Volkskunde inhaltlich in vielem überschneiden.

Als ich zur ➱Volksschule ging, die ein majestätisches Gebäude war, das den Krieg ohne größere Schäden überstanden hatte, bedeutete die Heimatkunde noch etwas. Die Volksschule dauerte damals sechs Jahre, darauf bestanden die Amerikaner. Es hat aber niemandem geschadet. Und die Amerikaner bezahlten die Schulspeisung, ich nahm immer Kakao. Zu Hause gab es immer nur Milch. Und Lebertran. Unsere Welt sah etwas anders aus als heute. Eher so wie auf dem Photo im oberen Absatz. Die Volksschule wurde 1964 durch das Hamburger Abkommen abgeschafft. Da war ich längst weg von Volksschule und Gymnasium. Aber, wenn man so will, immer noch in der Schule: der Schule der Nation.

Zugegeben, wir lernen in der Volksschule mehr über die Franzosenzeit als über die Jahre zwischen 1933 und 1945. Damit wird sich die Schule, auch später das Gymnasium, schwer tun. Heimatkunde (das Fach wird in den Zeugnisheften eines Tages einen anderen Namen haben, Sachkunde heißen und entemotionalisiert werden) ist sicherlich ein Fach, das den Nationalsozialisten am Herzen gelegen hat. Aber die Kunde von unserer Heimat ist lange vor den Nazis aufgeschrieben, meistens in Frakturschrift. Vielleicht nicht ideologiefrei. Das ist Geschichte wohl nie. Truth is the daughter of time, heißt es im Englischen.

Aber es ist nichts Böses, alles über die Geschichte des Ortes zu wissen, zumal wenn der Ort durch Werften, Handel, ➱Fisch- und ➱Walfang mit der ganzen Welt verbunden ist. Und wir haben das Gefühl, in einem besonderen Ort zu leben. Unser ➱Ruderverein gewinnt eine Silbermedaille bei den ersten Olympischen Spielen nach dem Krieg, bei denen Deutschland wieder dabeisein darf. Und der Bundespräsident ➱Theodor Heuss besucht unseren Ort, um einen Rettungskreuzer der ➱DGzRS zu taufen.

1991 übersendet meine ehemalige Klassenlehrerin in der Volksschule, Lotte Zschernitz, meiner Mutter ein Heft, das sie nach vierzig Jahren beim Aufräumen zu Hause gefunden hat. Es ist ein blaues Heft, auf dem von mir selbst geschrieben steht: Heimatkunde - Jay - Klasse 3b. Mit mehrfarbigen eigenhändigen Illustrationen verziert, äußert sich der junge Verfasser hier zu allen Aspekten der bremischen Geschichte: ➱Schiffbau in Vegesack - Töpferei in Vegesack (es gab hier einmal eine Fayencemanufaktur) - Wie Bremen entstanden ist - Die Hunnen in Bremen (Die Hunnen eroberten Bremen zweymal, und jedesmal wurde die gute Stadt von ihnen geplündert, verbrannt und völlig zerstöhrt) - Gräfin Emma und der Krüppel - Der ➱Bremer Roland.

Wofür der Bremer Historiker Herbert Schwarzwälder fünf Bände brauchen wird, hier ist alles konzis in einem Heft. Es ist ein rührendes Zeugnis eines Heimatkundeunterrichts, der nach dem Krieg an der Schule einen großen Stellenwert hat. Auch wenn sich unser Klassenlehrer Gerhard Blume nicht auf der gleichen wissenschaftlichen Ebene bewegt wie die renommierten Lokalhistoriker Franz Buchenau, Lüder Halenbeck oder Diedrich Steilen (der Opa das Haus in der Weserstraße verkauft hat), hat er doch die Werke all seiner Kollegen gelesen. Und er gestaltet über Jahre einen guten Unterricht. Und baut mit uns ein Pappmodell des Ortes.

In langwieriger Arbeit, in Pappmachee. Die Mädchen schneiden Bäume aus Karton aus, bemalen sie und kleben sie in den Park von ➱Albrecht Roth ein. Ein paar Jahre später werden wir unter diesen Bäumen knutschen, wenn wir aus der ➱Tanzschule von Nico Arff kommen, die auf dem Parkgelände von Senator Fricke liegt. Da war man dem Dr Roth schon dankbar, dass er diesen schönen Park angelegt hatte. Goethe hätte den Botaniker gerne in Jena gesehen, so schreibt er an Dr Nikolaus MeyerNun haben wir, um den von Professor Batsch erlittenen Verlust zu ersetzen, die Augen auf Herrn Dr. Roth in Vegesack geworfen, dessen schöne Einsichten in die Botanik uns durch seine Schriften bekannt geworden sind. Der Briefwechsel des Dichters mit Albrecht Roth ist in unserem ➱Heimatmuseum. Das heißt noch Heimatmuseum, auch wenn die Heimatkunde nicht mehr Heimatkunde heißt.

Nach dem Tod von Dr Roth werden Teile des Parks an zwei Bremer Kaufleute verkauft, an den Weinhändler Albert Dietrich Finke (Bild) und den Senator Carl Wilhelm August Fritze. Die dort natürlich Villen errichten. Wenn man in Bremen reich ist, dann kauft man sich einen ➱Landsitz in Vegesack auf der ➱GeestkanteHier liegen die Villen der Aristokraten, deren Anlagen das Weserufer eine kleine Strecke hin wirklich sehr verschönern, schreibt 1841 ein junger Mann, der in Bremen seine kaufmännische Ausbildung absolviert. Vier Jahre später wird er nicht mehr im Morgenblatt für gebildete Leser über die Dampferfahrt auf der Weser von Bremen nach Bremerhaven schreiben, da schreibt er Die Lage der arbeitenden Klasse in England.

Die Fritzes, die ihre Villa neben dem Finkenhof des Weinhändlers Dietrich Finke hatten, haben Ende des 19. Jahrhunderts ihre Villa abreißen und durch diesen scheußlichen ➱Neubau ersetzen lassen. Links war die Tanzschule von Nico Arff, rechts das Ortsamt. Heute ist das Ganze in Eigentumswohnungen zerteilt worden.

Dies Gemälde von Carl Justus Harmen Fedeler hing früher im Ortsamt, ich weiß nicht, ob man das heute bei einer Eigentumswohnung dazu bekommt. Von dem Finkenhof (der in der Familie Finke auch manchmal Kio heißt) ist auch nichts mehr übrig, er ist aber berühmter als die Villa der Nachbarn. Weil ein gewisser ➱Klaus Groth die Tochter des Weinhändlers heiratet und hier so manchen Sommerurlaub verbringen wird.

Unser Pappmodell zeigt die Geestkante und das Urstromtal, in dem die Weser fließt. Die Mündung der Aue in die Lesum, an der Vegesack entsteht. Zeigt den Hafen, der im frühen 17. Jahrhundert von holländischen Ingenieuren angelegt wird, der erste künstliche Hafen in Deutschland. Wir vergessen auch die kleine Drehbrücke zum Haven Hööv’t nicht. Papierschicht um Papierschicht wird auf das Modell geklebt.

Wir vergessen natürlich die Fähren nicht, die zwischen Vegesack und Lemwerder hin- und herpendeln. Und auch nicht die kleine Fähre (das war wieder eine Fummelarbeit), die Hol Ober hieß. Sie brachte uns immer zum ➱Schönebecker Sand zum Baden. Hier habe ich Schwimmen gelernt, der Bademeister Plebansky ruderte neben seinen Schülern durch die Weser. Ich habe Jahre später erfahren, dass Hermann Plebansky gar nicht schwimmen konnte. Die Fähre Hol Ober gibt es nicht mehr, auf der Halbinsel Schönebecker Sand kann man nicht mehr baden, und in der Weser würde heute auch wohl niemand mehr freiwillig schwimmen.

Meine Mutter träumte als junges Mädchen davon, über den Ärmelkanal zu schwimmen, wahrscheinlich war die ➱Rolex Reklame mit Mercedes Gleitze schuld daran. Meine Mutter nahm sich die Weser von Vegesack bis Bremerhaven als Trainingsstrecke. Als sie für den Ärmelkanal fit war, kam der Krieg. Das war das Ende ihrer Träume. Aber den Totenkopf trug sie noch in den fünfziger Jahren auf ihrem schwarzen Badeanzug. So etwas sieht man selten auf dem Schönebecker Sand. Meine Mutter ist, auch als sie achtzig war, noch jede Woche geschwommen.

Wie der historische Ort, so wächst unser Modell von den ersten Häusern um die Mündung der Aue, den Flecken Alt-Vegesack. Dann den Berg und die Geestkante hinauf bis Fähr und Lobbendorf. Oben in den Ort wird die Kirche gesetzt, die Jacob Ephraim Polzin 1832 für die gerade vereinigten Gemeinden von Lutheranern und Reformierten umgebaut hat, in einem streng klassizistischen Stil. Polzin hat bei dem berühmten dänischen Architekten Christian Frederik Hansen, dem Meister der klassizistischen Villa, gelernt. Und so wird unser Ort eine der wenigen klassizistischen ➱Kirchen Norddeutschlands erhalten. Im Kirchturm betreibt man noch bis 1851 einen optischen Telegraphen.

Und unten ans Ortsende das Krankenhaus Hartmannstift, das nach Wilhelm Hartmann benannt ist. Der war 1863 mit neunzehn Jahren nach England ausgewandert und hatte später seine Brüder in seine Firma nachgeholt. Er hatte einem gewissen John Rathjen die Zauberformel für einen neuartigen Schiffsanstrich abgekauft, dieses hochgiftige Antifouling Zeug gegen Rost und Algen. War mit seiner Firma Suter, Hartmann & Co. unermesslich reich geworden, hatte sich in Surrey einen Landsitz gekauft und war sogar Friedensrichter geworden.

Er gab sein Vermögen für gute Werke aus und bedachte auch seine Heimatstadt (zu der er bis zum Ersten Weltkrieg immer noch Kontakt wahrte) mit dem Krankenhaus und zahlreichen anderen Schenkungen. Hat es den Vegesackern aber nie verziehen, dass sie beim Kriegsausbruch 1914 das lebensgroße Portrait des nun feindlichen Engländers im Hartmannstift abgehängt haben. Von dem Geld, das beim Tode von William Hartmann noch da war (und das waren 450.000 Pfund Sterling), hat Vegesack keinen Pfennig gesehen.

Der Sedanplatz, der 1895 angelegt wurde, ist einfach herzustellen, wir lassen die Fläche frei und malen sie grau an. Aber die Eiche in der Mitte muss schon sein. Nicht aus nationalen Gründen, sondern weil wir sie beim ➱Fußball als Torpfosten brauchen. Es ist sicher eine Entweihung, aber ich glaube, 1950 weiß niemand mehr, dass die Eiche Bismarckeiche heißt und aus dem aus dem Sachsenwald stammt. Und wenn wir schon dabei sind, gibt es auch noch ein kleines Papphäuschen, das Scheffels Wurstbude darstellen soll. Wir wissen wenig von der Schlacht von Sedan, aber Scheffels Wurstbude kennen wir alle. Jemand macht den Vorschlag, Karussells und Buden auf den Platz zu stellen, aber das kommt nicht in Frage, der Vegesacker Markt, der beinahe so berühmt ist, wie der Bremer Freimarkt, findet nur einmal im Jahr statt. Als wir unbedingt ein Hertie Hochhaus brauchten, wurde unter den Sedanplatz eine Tiefgarage gebaut. Als da bei der Abnahme zum Test Polizei- und Krankenwagen hineinfuhren, stellte man fest, dass man die Höhe der Tiefgarage nicht richtig berechnet hatte. Wie beim Hallenbad, wo die 25-Meter Bahn auch nicht ganz 25 Meter lang war. Wir sind auch ein bisschen Schilda. Und Hertie ist längst pleite, das Haus steht leer.

Wenn unsere kleine Pappstadt fertig ist, wird sie liebevoll angemalt, die Weser in blau. Und dann ein Raddampfer in die Weser gesetzt, die Weser, der erste deutsche Raddampfer. Gebaut in Vegesack. Gebaut mit den technischen Kenntnissen von Ludwig Georg Treviranus, dem Bruder der beiden Botaniker, der 1816 in Soho beim Bau der Maschine des Schiffes durch James Watt zugeschaut hat.

Umrahmt wird der Ort von den Werften, Ulrichs’ Werft auf der rechten Seite (aus der der Bremer Vulkan erwachsen wird). Links die Janssen-Sagersche Werft (da wo später die ➱Strandlust ist) und ganz außen die Langesche Werft (Bild). Werften und Schiffe aus Papier zu basteln, ist eine knifflige Sache, so schenken wir es uns, auf die andere Weserseite in Lemwerder noch die Werften von Lürssen (wo die ➱Schnellboote gebaut wurden) und ➱Abeking & Rasmussen zu setzen. Gehört ja streng genommen auch nicht mehr zu Vegesack.

An den Utkiek kommen noch winzig kleine Walkiefer aus gebogenen Streichhölzern, als Zeichen dafür, dass hier auch der Walfang zuhause ist. Wir sind sozusagen das Nantucket von Bremen, ➱Herman Melville hätte sich hier zu Hause gefühlt. Die Walkiefer am Utkiek stehen noch über hundert Jahre, bis sie durch einen Bronzeabguss ersetzt werden; dafür wird mein Freund ➱Peter sorgen, als er beim Landesamt für Denkmalschutz ist (lesen Sie mehr in dem Post ➱Hafenstraße)

Mein Heimatkunde Heft enthält verhältnismäßig wenig zur politischen Zugehörigkeit des Fleckens Vegesack, das wird in der dritten Klasse noch nicht unterrichtet. Eher diese Teile, die in Bremen jeder kennt, die aber meistens in den Bereich der Sage gehören. Die Geschichte mit den Hunnen, die für Namen wie Marterburg und Wüstestette (die schmalste Straße von Bremen) verantwortlich gemacht werden, ist ebenso wenig wahr wie die Geschichte von Gräfin Emma und dem Krüppel  (den man am Fuß des Roland sehen kann) oder die von den Sieben Faulen. 

In einem bestimmten Alter sind Sagen und Märchen einfach schöner als die historische Wirklichkeit. Im Mittelalter sind die wenigen Häuser des Ortes unter der Jurisdiktion des Erzbischofs von Bremen, dem die Bremer aber im Laufe der Jahrhunderte (und darauf sind sie stolz) immer mehr von seiner Machtfülle nehmen werden. Nach dem Krieg mit Schweden im 17. Jahrhundert werden wir durch den Stader Vergleich 1654 schwedisch.

Dass die Bremer gegen die Schweden kämpfen, das steht schon in den Posts ➱Burger Schanze und ➱Lieutenant Lindhövel. Wenn man als Kind Trude Wehes Roman Vryheit do ik ju openbar: Roman aus dem alten Bremen verschlungen hat, dann kennt man den Leutnant Lindhövel. Danach sind wir mal dänisch geworden, aber die Dänen wissen, dass sie die Gegend nicht lange gegen die Schweden halten können. Und so treten sie das Land im Stockholmer Frieden von 1719 an den Kurfürsten von Hannover ab, der in Personalunion König von England ist. Jetzt sind wir englisch, davon träumen die anglophilen Bremer ja immer.

Unser ➱Georgian Age dauert beinahe ein Jahrhundert, bis der Bremer Bürgermeister Dr Georg Gröning (Bild) 1804 den Engländern den Flecken abhandelt. Die bremische Zeit währt allerdings nicht lange, die Franzosen stehen vor der Tür. Erst sind wir französisch, aber neutral, dann für einen Augenblick 1805 englisch. Danach wird Vegesack die Mairie Vegesack en canton Vegesack und gehört zum Département des Bouches du Weser. Die Franzosenzeit, in der Napoleon persönlich den bedeutendsten Bremer Wissenschaftler Dr Wilhelm Olbers zum Mitglied des corps législativ ernennt, ist in Bremen noch in vielen Erzählungen lebendig.

Auch der erste Widerstand, der sich in einer in Vegesack gefundenen Aufschrift an einer Tür Napoleon, de schinnerknecht, de is nech werth dat düütsche recht dokumentiert. Der Freiherr von Tettenborn, Generalmajor in russischen Diensten, wird in Bremen am 6. November 1813 für kurze Zeit die bremische Unabhängigkeit wiederherstellen. Man wird ihn zum Ehrenbürger Bremens machen und fortan den 5. November als Rolandstag feiern und jedes Jahr den Roland mit Blumen schmücken. Den letzten abziehenden Franzosen soll man gefangen und an ein Hoftor in der Hafenstraße genagelt haben. Allerdings wird diese Geschichte auch über einen Schweden im 17. Jahrhundert erzählt, wahrscheinlich ist sie sowieso nicht wahr. Was wir den Franzosen verdanken, sind Heerstraßen und Chausseen. Und eine Vielzahl von Wörtern, die man woanders nicht findet. Wie Muschepunt, süttjepöh (si je peux), schötteldör (j'ai l'honneur) und vrumsi (je vous remercie).

Den nächsten Befreier Bremens 132 Jahre später, den Lieutenant General ➱Brian Horrocks, werden die Bremer nicht feiern. Er wird auch nicht lange bleiben, weil er die Stadt den Amerikanern übergibt. Bremen nennt sich jetzt Vorstadt von New York. Die Amerikaner machen aus dem Rathaus ein Bierlokal, das GI Joe's Beer Bar heißt. Wenn die Amerikaner abziehen, werden im Bremer Ratskeller 400.000 Flaschen des edelsten Ratskellerweins fehlen. Und meine Mutter wird es den Amerikanern nicht verzeihen, dass sie das Meißener Porzellan und das ➱Klavier aus dem Fenster geworfen haben. Der Rahmen des Klaviers ist geschweißt worden, aber es hatte immer einen etwas seltsamen Klang, der den Klavierstimmer jedes Mal verzweifeln ließ.

In die Stadt Bremen eingemeindet wird unser Ort erst 1939. Bis dahin gehörten wir zu Hannover. Nicht mehr dem ➱Hannover des englischen Königs, das haben sich jetzt die Preußen angeeignet. Viele Vegesacker (wie meine in Vegesack geborene Mutter) haben dieses Bremen-Vegesack nicht so gerne. Für sie gilt nur der Ortsname Vegesack. Nach 1945 werden wir amerikanisch, und die Autos bekommen die Autonummer AE (für Amerikanische Enklave). Wenn die Autonummer mit 26 anfing, dann war das Bremen-Nord.

Die ganzen politischen Affiliationen (schwedisch, dänisch, französisch, englisch) gelten wohlgemerkt nur für Vegesack, auf der anderen Seite der Weser und jenseits von Straßen, die Grenzstraße oder Zollstraße heißen, sind die politischen Besitzverhältnisse anders. Was den Ort auch während der Kontinentalsperre und zur Zeit des Deutschen Zollvereins zu einem Paradies für Schmuggler werden lässt. Als Rest dieser historischen Zeit haben wir ein Schild vorm Haus, auf dem Zollgrenzbezirk steht (das gilt auch für die Feuerwehr um die Ecke). Der Zollfahnder ➱Kressin dürfte in unser Haus kommen, ohne einen Durchsuchungsbefehl zu haben.

Der englische Premierminister Lord Palmerston wird im 19. Jahrhundert über die schleswig-holsteinische Frage sagen, nur drei Männer in Europa hätten sie verstanden. Der erste sei der Prinzgemahl Albert, und der sei tot. Der zweite sei ein deutscher Professor, der sei wahnsinnig geworden. Und der dritte sei er, Lord Palmerston, aber er hätte alles darüber vergessen. Er hätte ähnliches über die Vegesacker Frage sagen können. Ist klar, dass man so etwas Kompliziertes nicht in der Klasse 3b unterrichten kann. Ein Interesse an Flora und Fauna wie Albrecht Roth werde ich für den Rest meines Lebens nicht mehr entwickeln, ein Interesse für die Geschichte des Ortes schon. Buch um Buch über Bremen wird in den nächsten Jahrzehnten meine Bücherregale füllen. Vieles auch Geschenke von Freunden, die in Bremen geblieben sind. Denn auch wenn man Butenbremer ist, bleibt man dem Ort, der zu einem Sehnsuchtsort geworden ist, verbunden, in Liebe oder Hass.

Die ➱Weser nach dem Krieg ist sicherlich ebenso spannend wie der Mississippi für den kleinen Huckleberry Finn. Man vergisst das nie, an diesem Fluss aufgewachsen zu sein. Ein ➱Schüler des Gymnasiums wird sich später geradezu poetisch an seine Jugend an der Weser erinnern (oder einer seiner Ghostwriter hat ihm das unter Benutzung von Ottjen Alldag aufgeschrieben): Unten an der Weser war es heiß. Das hatte seine Gefahren. Tiroler Landwein, Wermut oder gar schlimmere Drogen wie etwa Kosaken-Kaffee entfalteten so eine ganz tückische Wirkung. Aber auch dafür war der Stadtgarten ein angenehmer Ort. Man lag, statt in der Schule zu sein, einfach in der Sonne, die Weser plätscherte. 

Wenn man die Schule schwänzt und an der Weser liegt, dann werden die schulischen Leistungen darunter leiden. Mein Klassenlehrer ➱Gustav Renziehausen (links neben unserem ehemaligen Klassensprecher ➱Konny) hat mir erzählt, dass er diesem Schüler Nachhilfeunterricht in Mathematik gegeben hat. Sonst wäre der nicht versetzt worden. Und was wird aus dem Schüler? Natürlich Politiker. Er heißt Jürgen Trittin. Und dann muss man noch in der Presse lesen, dass mein Gymnasium als Tummelplatz "roter Rabauken" und als Hochburg linksradikaler Pennäler galt. Damit waren wahrscheinlich Hermann Rademann und der Krakeler und Randalierer Trittin gemeint. Oder war es die von Hermann Rademann und dem Studenten der Theologie Ingbert Lindemann unterschriebene ➱Anzeige, dass Gott tot sei?

Ich kann dazu nichts sagen, als ich die Schule verließ, habe ich nie zurückgeschaut, bin da nie wieder gewesen. Aber ich weiß, dass das Niveau der Lehrerschaft ganz gewaltig gesunken war. Es muss ja einen Grund haben, dass Bremen in den Bildungsstatistiken ganz weit unten rangiert (das Schleswig-Holstein der Wara Wende auch).
Unser Direktor Dr Johannes Schütze (der vierte von rechts in der ersten Reihe) war von der Todesanzeige für Gott wirklich nicht begeistert. Aber statt sich über solche Dinge zu ärgern, hätte er lieber dafür sorgen sollen, dass er einen guten Nachfolger bekam. Und nicht die Flasche, die das dann geworden ist.

Das Gymnasium, das in Teilen von ➱Ernst Becker-Sassenhof umgebaut war, ist 1977 aufgelöst worden. Das kleine Haus links ist von Becker-Sassenhof für unseren Hausmeister ➱Kalle Klemm gebaut worden. Und auf der Straße hier habe ich zusammen mit meiner Mutter 1948 gestanden, um das neue Geld abzuholen. Gegenüber der Schule war der Milchladen von Martin Bogaschinski, daneben ein Friseur. Zu dem mein Vater immer ging. Nicht, weil der besonders gut die Haare schneiden konnte, sondern weil er Kommunist war. Mit dem Kommunismus hatte mein Vater nichts am Hut, aber man wusste ja nach dem Krieg nicht, was kommen würde.

Die Kenntnis der Heimat fördert die Heimatliebe - und in dieser wurzelt die Vaterlandsliebe, schreibt Lüder Halenbeck 1874 in seinem Buch Zur Geschichte der Stadt Vegesack: Ein Beitrag zur Heimathkunde. Nach dem Krieg gegen Frankreich kann man so etwas schreiben. Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit, sagt Martin Walser 1968 in seinem Essay Heimatkunde. Der Unterricht in Heimatkunde bedeutete uns etwas, mir haben Bekannte erzählt, dass der Heimatkunde Unterricht das einzige sei, dass sie aus der Volksschule mitgenommen haben. Heimatkunde einte uns nach dem Krieg, nicht alle kamen aus dem Ort, weil sie Heimat-Vertriebene waren. Auch ich hatte eine ➱Zweite Heimat, bis die Amerikaner endlich unser Haus räumten. Heimat, Heimatliebe und Vaterlandsliebe sind heute Begriffe, die Herr ➱Gauland oder irgendwelche Reichsbürger verwenden würden. Wir sind weit weg von Eichendorffs Heimat hinter den Blitzen rot oder seinem Gedicht ➱Heimat für seinen Bruder.

Wenn man heute ein Pappmodell des Ortes bauen würde, es sähe ganz anders aus. Die Werft im Hintergrund ist pleite, der Strand hat nichts mehr von der idyllischen Strandstraße, wie sie ➱Willi Vogel gemalt hat. Der Strand ist weg, da ist heute eine Spundwand. Große Teile des Ortes sind abgerissen worden. Die Arbeitslosigkeit ist höher als irgendwo anders in Bremen. Und man kann im Internet lesen: Der Niedergang Vegesacks offenbart sich am Bilde seiner Schaufenster: viele Geschäfte sind nicht vermietet, auch im Haven Höövt stehen immer mehr Geschäftsräume leer. Was sich hält, sind Second-Hand-Textil- und Elektrogeräte - oder Möbel-Läden, billige 1-EUR-Shops, Spielhallen, Discounter, Döner und Imbisse und die immer nötiger werdenden Sozialstationen, und die Tafeln für jene, die sich den Kauf von Lebensmitteln nicht mehr leisten können. Bremen-Nord hat nach meiner Einschätzung ein massives Armuts- und Verelendungsproblem, ist wirtschaftlich wie sozial extrem schwach aufgestellt - beispielsweise gibt es kaum irgendwo in Deutschland einen so hohen Anteil minderjähriger Mütter wie in Bremen-Nord.

Man mag den Ort eigentlich gar nicht mehr besuchen. Aber in den Träumen kommt man immer wieder hierher.

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