Samstag, 30. November 2019

Oase in der bremischen Wüste


Ich persönlich mag Böhmermann nicht, ich finde ihn nicht witzig. Aber ich rufe deshalb nicht Angela Merkel an. Böhmermann trägt slimline Anzüge und möchte gerne Harald Schmidt sein. Er kommt aus Aumund (einem Stadtteil Bremens, aus dem man nicht kommt) und war mal auf meinem Gymnasium (das auch nicht mehr das ist, was es einmal war). Das habe ich vor Jahren in dem Post Erdogan geschrieben, und ein Leser hat sich über dieses in Klammern gesetzte einem Stadtteil Bremens, aus dem man nicht kommt köstlich amüsiert. Der Post, der den Titel des türkischen Diktators trägt, war im übrigen eine Verteidigung von Böhmermann. Auch wenn ich ihn nicht besonders mag. Doch ich habe ihn jetzt schon beinahe liebgewonnen, weil in seinem Urlaub in diesem Jahr auf dem Sendeplatz eine Blondine auftauchte, die von sich sagte, sie sei das Sommerloch von ZDFneo. Und auch noch hinzufügte: Mir wird oft gesagt: Du bist gar nicht so billig, wie du aussiehst. Das lassen wir mal so stehen.

Ich möchte heute noch einmal auf die Grenzen zwischen Stadtteilen zurückkommen, das hat etwas mit einem gewissen Snobismus zu tun, mit dem ich aufgewachsen bin. Wir alle wissen, dass es in einer Stadt feine und nicht so feine Gegenden gibt, Gegenden, aus denen man kommen kann, und Gegenden aus denen man besser nicht kommt. Wenn man in Hamburg in Blankenese residiert, dann ist das etwas anderes als wenn man in St Georg wohnt, obgleich es dort auch schon eine Gentrifizierung gegeben hat. Die es im Karoviertel, in dem ich während meines Studiums in Hamburg wohnte, auch gegeben hat.

Wenn man die Lebenserinnerungen von Ascan Klée Gobert liest, wird man erfahren, dass es vor hundert Jahren auch in den feinen Stadtteilen Hamburgs unsichtbare Grenzen gab. Das Hamburg von Goberts Jugend bestand hauptsächlich aus Harvestehude und Blankenese. Wo sich der regionale Hamburger Uradel angesiedelt hatte: Kaufleute und Reeder wie die Slomans, Amsincks, Laeiszs und Blohms, Bankiers wie die Lutteroths und Mäzene wie Nicolaus Hudtwalcker, Gründungsmitglied des Hamburger Kunstvereins. Von den 723 Millionären, die 1911 in Hamburg Steuern zahlten, wohnten mehr als vierzig am Harvestehuder Weg, weshalb die Straße im Volksmund auch Straße der Millionäre hieß.

Da ich den Ort Aumund erwähnt habe, in dem Jan Böhmermann aufwuchs, möchte ich heute noch einmal auf solche Grenzen zwischen Ortsteilen zurückkommen. Es ist kein Zufall, dass zwischen Aumund und meinem Heimatort Vegesack eine Straße liegt, die Zollstraße heißt. Wir in Vegesack waren nicht bremisch, wir gehörten einmal zu Schweden, später zu Frankreich (Département des Bouches-du-Weser), aber eigentlich gehörten wir seit 1715 zum Kurfürstentum Hannover. Die Hannoveraner hatten damals den Dänen das gerade von denen eroberte Herzogtum Bremen abgekauft. Unser berühmter Botaniker Albrecht Roth bekam das Gelände für seinen Park vom englischen König George III geschenkt, die Hannoveraner waren damals auf dem englischen Thron. Aumund, auf der anderen Seite der Zollstraße, gehörte zum Amt Blumenthal, und das war bremisch. Erst 1939 wurde Vegesack in die Stadt Bremen eingemeindet.

Mein Opa war aus dem Osnabrücker Land nach Vegesack gekommen. Dorfschullehrer zu sein und sonntags in der Kirche die Orgel zu spielen, genügte ihm nicht mehr. Er wohnte zuerst mit seiner Frau Johanna in der Breiten Straße, gleich neben seiner Schule. Als meine Mutter geboren wurde, suchte er eine größere Wohnung, denn die Neugeborene hatte von einem sehr reichen Onkel zu ihrer Geburt eine ganze Wohnzimmerausstattung geschenkt bekommen. Mit Klavier. Mein Opa hätte die an der Lesum gelegene Villa eines pleite gegangenen Zigarrenfabrikanten in St Magnus in den zwanziger Jahren relativ preiswert kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Also kaufte er von seinem Kollegen, dem Heimatforscher Diedrich Steilen, das Haus in der Weserstraße, als Steilen nach Bremen ziehen wollte. Die Weserstraße war nicht der Harvestehuder Weg, aber es war die vornehmste Straße, die der Ort hatte. Das Kapitänshaus aus dem Jahre 1840 hätte mein Opa nicht von seinem Lehrergehalt kaufen können, doch er hatte am Anfang des Jahrhunderts reich geheiratet. Hundert Jahre nach der Hochzeit wird mein Onkel Karl fragen: Wie hatte diese Prinzessin aus der reichen Kornhändlerdynastie zu uns herabsteigen können? Er hat meine stille Oma Johanna immer bewundert.

Hier liegen die Villen der Aristokraten, deren Anlagen das Weserufer eine kleine Strecke hin wirklich sehr verschönern, schrieb Friedrich Engels über seine Dampferfahrt auf der Weser. Er schrieb auch: Vegesack ist die Oase der bremischen Wüste, in Vegesack gibt’s Berge von sechzig Fuß Höhe, und der Bremer spricht wohl von der 'Vegesacker Schweiz'. Vegesack liegt nun auch ganz hübsch oder wie man hier sagt, 'niedlich' oder 'süß'. Der Flecken selbst bietet der Weser eine anmutige Front dar; ehe man hinkommt, sieht man eine Menge Schiffsrümpfe in der Weser liegen, teils ausgediente, teils hier neugebaute. Die Lesum fließt hier in die Weser und bildet mit ihren Hügeln ebenfalls ganz 'niedliche' Ufer, die sogar romantisch sein sollen, wie mich der Schulmeister von Grohn, einem Dorf bei Vegesack, auf Ehre versicherte.

Das mit der Oase der bremischen Wüste hören die Vegesacker natürlich gerne. Die Villen, aus denen man auf die Weser schauen kann, die gibt es, aber man kann sie zählen, dies ist nicht Blankenese. Früher wohnten hier reiche Bremer Kaufleute und Kapitäne (1856 waren es 37 Kapitäne und 9 Steuerleute), heute nicht mehr. Bei einer Frau namens Else Arens kann man lesen, dass die Weserstraße in Bremen-Vegesack zu den schönsten Straßen in Deutschland gehört. Allerdings finden sich in ihrem Buch Kapitäne, Villen, Gärten: Die Weserstraße in Vegesack mindestens drei Fehler pro Seite, Namen und Jahreszahlen stimmen selten. Dass im Haus neben dem unserem in den dreißiger Jahren der SA-Sturmführer Westphal wohnte, den die Nazis 1933 anstelle des entlassenen Dr Werner Wittgenstein zum Bürgermeister gemacht hatten, das steht nicht in dem Buch. Dass Diedrich Steilen in unserem Haus gewohnt hat, auch nicht. Glücklichweise ist dessen Geschichte der bremischen Hafenstadt Vegesack zuverlässiger als das Machwerk von Frau Arens.

Die Weserstraße beginnt bei der Bäckerei Schnatmeyer, gegenüber von dem Kolonialwarenladen von Frau Gießel. Sie zieht sich dann (mit den paar Villen der Aristokraten) über die ganze Geestkante und fällt am anderen Ende zum Bremer Vulkan hin ab. Da unten, wo man im Winter den Berg hinunter mit dem Schlitten fahren konnte, ist sie nicht mehr so fein, Verwaltungsgebäude der Werft und Arbeiterwohnungen bestimmen da das Bild. Die Gärtnerei von Dierksen an der Ecke zur Sandstraße bildet eine Art Grenze. Die Straße ist, wenn wir ehrlich sind, sowieso nicht wirklich fein. Zwar sitzen hier ein halbes Dutzend Ärzte und zwei Werftbesitzer, aber der Rest ist solider Mittelstand: Lehrer (einer davon ein unbeliebter Lateinlehrer), Rechtsanwälte Kapitänswitwen und Ingenieure vom Bremer Vulkan. Doch auch viele Handwerker finden sich hier, wie unser Nachbar, der Malermeister Wenzel, oder die Polsterei von Ühne Flügel. Die Tanzschule von Nico Arff und die Freiwillige Feuerwehr, die in der Straße sind, wollen wir nicht vergessen.

Es war eine stille Straße. Das erste Geräusch am Morgen sind die genagelten Stiefel von hunderten von Vulkanesen, die zur Arbeit marschierten. Sie gingen immer in der Mitte der Straße, der Bürgersteig links und rechts schien für Arbeiter tabu zu sein. Unser Milchmann Martin Bogaschinski kam immer pünktlich mit dem Pferdewagen, sein Pferd wäre wahrscheinlich auch ohne ihn pünktlich gekommen. Es kannte die Strecke. Die Weserstraße hatte nichts vom Lärm der Gerhard Rohlfs Straße, die damals noch Teil der B75 war. Sie hatte auch nichts vom Leben und Treiben der Hafenstraße unten im Ort.

Die Weserstraße ist inzwischen in der deutschen Literatur aufgetaucht, Per Leo, dessen Vorfahren Reeder und Werftbesitzer (Weserstraße 84) waren, hat sie in seinen Roman Flut und Boden hineingeschrieben. Klaus Groth, der viele Sommer in der Villa Finkenhof seiner Schwiegereltern in der Weserstraße verbrachte, hat sie allerdings nicht literaturfähig gemacht. Obgleich er im Jahr seiner Hochzeit einigen Gedichte das Datum und den Ortsnamen Vegesack hinzufügte. Ein Gedicht, das er in der Weserstraße schrieb, sei hier zitiert weil es nirgendwo im Internet steht:

Zu zweien sitzen wir an trauter Stelle, 
Die Welt ist draußen, und das Thor verschlossen, 
Wir treiben Ernst, wir treiben süße Possen, 
Die Lampe leuchtet jetzt behaglich helle. 

Rauscht dort der Strom nicht? und mit Windesschnelle
Vorüber rauscht es wie mit wilden Rossen?
Zieht nur dahin! wir sitzen unverdrossen 
Am stillen Ufer, an des Glückes Schwelle. 

Wir sind wie die, die selig hier gelandet, 
Wo nun den Hafen sanfte Wellen kräuseln, 
Wo Flut und Blut nicht wogt und schäumt und brandet. 
Wir hören Stimmen, die wie Lüfte säuseln. 

Der Strom, der weiter treibt, ist uns versandet, 
Wir sitzen still vertraulich zu karmäuseln.

Vegesack, 2. September 1859 steht unter dem Gedicht, da haben die beiden gerade geheiratet. Die Preussische Akademie der Wissenschaften wird im Jahre 1900 die Verwendung des stillosen Wortes karmäuseln in diesem Sonett kritisieren. Es ist ein Wort, das Google nicht kennt, ab heute wird das anders. Dieses karmäuseln ist nichts als die hochdeutsche Form des plattdeutschen karmüsseln (oder kalmeusern), und das heißt plaudern. Wenn auch das junge Eheglück perfekt ist, so richtig glücklich ist Klaus Groth bei seinen Besuchen in der Weserstraße (die manchmal Monate dauern) nicht. Das Verhältnis zu den reichen Schwiegereltern, die es den armen Dichter bei jedem Aufenthalt spüren lassen, was sie von plattdeutsch dichtenden Nichtsnutzen halten, ist getrübt. Die Tagebücher von Doris Groth, die 1985 unter dem Titel Wohin das Herz uns treibt veröffentlicht wurden, zeigen diese Spannungen deutlich auf. Den Finkenhof gibt es nicht mehr, das Hotel Norddeutscher Hof neben Schnatmeyer, das Doris Groth noch unter dem Namen Bellevue kannte, ist auch nicht mehr da. Die Villa von Arnold Duckwitz, die Klaus Groth und seine Frau gekannt haben, auch nicht.

Arnold Duckwitz ist neben Albrecht Roth der berühmteste Mann, der in der Weserstraße gewohnt hat. Eigentlich wohnt der Präsident der Bremer Bürgerschaft und spätere Bürgermeister in Bremen, dies ist sein Sommersitz. 1848 wurde er als einer der beiden Vertreter Bremens nach Frankfurt entsandt und vom Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich zum Reichshandelsminister bestellt. Und er baute, weil man ihn auch noch mit dem Marinedepartement betraut hatte, die Reichsseewehr - die erste deutsche Flotte -  der 48er Regierung auf. Die hat unter dem ersten deutschen Admiral Rudolf Brommy kein langes Leben. Vier Jahre nach dem Gründungsbeschluss von 1848 wird ihre Auflösung beschlossen, viele Einzelstaaten sind nicht mehr bereit, sie zu finanzieren. Und Preußen will längst unter dem Prinzen Adalbert eine eigene Flotte aufbauen.

Die deutsche Flotte kommt unter den Hammer, Rudolph Brommy hat die traurige Pflicht, all das, was er in kürzester Zeit aufgebaut hat, jetzt wieder abzuwickeln. Er tut das mit peinlich genauer Pflichterfüllung, kümmert sich noch um das Wohlergehen des letzten Matrosen. Aber die Flagge von seinem Flaggschif Barbarossa, die gibt er nicht zurück, die behält er. Sieben Jahre später wird sie seinen Sarg bedecken. Man hat ihn noch zum Contre-Admiral befördert, zahlt ihm eine Abfindung von 2.500 Talern und setzt ihm eine kleine Pension aus. Doch er hatte reich geheiratet und verbringt seinen Lebensabend in einer Villa an der Lesum. Da gibt es am Lesumufer heute noch einen Admiral Brommy Weg. Wäre Brommy ein Engländer gewesen, es gäbe Bücher und Romane über ihn, die Engländer lieben ihre Seehelden.

Der Dichter Hermann Allmers wird nach dem Tode von Brommy ein Gedicht für den Grabstein schreiben, das noch etwas vom Geist von 1848 enthält:

Karl Rudolf Brommy ruht in diesem Grabe
Der ersten deutschen Flotte Admiral
Gedenkt des Wackren und gedenkt der Tage,
An schöner Hoffnung reich und bittrer Täuschung.

Ein großer Teil der Gebäude der Weserstraße, vor allem die Kapitänshäuser zwischen der Breiten Straße und der Kimmstraße, steht heute unter Denkmalschutz. Dafür hat mein Freund Peter gesorgt. Von großen Kriegsschäden sind wir verschont geblieben. Lediglich, als die Engländer in den letzten Wochen den Ort von der anderen Weserseite beschossen, hat das Dach unseres Hauses etwas abbekommen. Der Bremer Vulkan ist während des Krieges im Gegensatz zur AG Weser nicht ständig bombardiert worden, nur am 18. März 1943 gab es schwere Schäden. Der Angriff der amerikanischen B-17 Bomber galt der U-Boot Produktion des Bremer Vulkan, die es nach dem Direktor Robert Kabelac niemals gegeben hat. Kabelac wohnte auch in der Weserstraße, aber niemand von meiner Familie hat ihn je gegrüßt, obgleich sich sonst beinahe alle in der Straße grüßten.

Zehn Jahre nach Kriegsende behauptete Kabelac noch frech, dass der Bremer Vulkan keine U-Boote gebaut hätte. Die vierundsiebzig in Vegesack gebauten U-Boote seien von der damals neu gegründeten 'Vegesacker Werft GmbH' gebaut worden. Die sei nach Kriegsende aufgelöst und ihre Unterlagen vernichtet worden. Dass die Vegesacker Werft GmbH und der Vulkan identisch waren, davon ist nicht die Rede. Truth is the daughter of time. Kabelac beschäftigt für die Werft und den Bau des U-Boot Bunkers in Farge zehntausende von Fremdarbeitern, die in Lagern und KZs untergebracht sind. Viele von ihnen werden durch Unterernährung und Misshandlungen sterben. Dass der Vulkan so selten bombardiert wurde, hat auch etwas mit seinem Eigentümer zu tun. Denn die Werft gehört  dem Baron Heini Thyssen, der sorgt schon bei den Alliierten dafür, dass sein Kapital nicht zerstört wird. Als die Amerikaner den Ort besetzten, geschieht dem Wehrwirtschaftsführer Robert Kabelac nichts.

Die Amerikaner haben, als ihnen die Engländer, die Vegesack erobert hatten, den Ort übergaben, die ganze Weserstraße abgesperrt. Der große Hof des Kaufmanns Redeker wurde eingezäunt und diente kurzzeitig als Gefangenenlager. Die amerikanischen Besatzer hatten auch die meistens Häuser besetzt. Und das Klavier meiner Mutter aus dem Fenster geworfen. Der Rahmen wurde mal geschweißt, aber richtig gut klang das Klavier, auf dem mein Opa mir das Klavierspielen beibrachte, nie mehr.

Ascan Klée Gobert bringt in seinem Buch Kindheit im Zwielicht die hübsche Anekdote: Niemals wäre es umgekehrt einem Pöseldorfer eingefallen, etwa auf der 'anderen Seite', rund um die Alster spazierenzugehen. Die Frau eines Überseekaufmanns vom Mittelweg, in Hongkong befragt, ob sie wohl fast täglich mit ihrer verheirateten Tochter und den Enkeln zusammenkäme, erwiderte klagend 'O nein, sie wohnt auf der Uhlenhorst, und die Alster trennt so rasend!' Ja, diese Trennung von Ortsteilen, es ist etwas, was Sigmund Freud den Narzissmus der kleinen Differenzen genannt hat.

Für Bremer war Vegesack weit weg. Marga Berck gibt in ihrem Buch Die goldene Wolke die schöne Geschichte wieder, die Alfred Heymel seinen Gästen zum Abschied erzählt. Sie handelt von einem Freund, der sich ein flottes Pferd kaufen will, keinen langweiligen Traber. Da sagt der Pferdehändler: Dann kann ich Ihnen nur diesen Braunen empfehlen, sehr empfehlen. Wenn Sie mit dem um neun Uhr früh hier abreiten, sind Sie um zehn in Vegesack. Worauf Heymels Freund antwortet: Dann will ich das Pferd nicht haben, was soll ich denn um zehn in Vegesack?

Für Vegesacker war Bremen weit weg, es wurde zwar beim Nikolauslaufen gesungen: Halli, halli, hallo, nu geiht nach Bremen to, aber im Gegensatz zu den Bremer Stadtmusikanten kamen wir nie dahin. Da mussten wir älter werden, um mit Bahn, Bus und Trolleybus die Stadt zu erreichen. Wenn man nach dem Krieg in Vegesack aufwuchs, war einem der kleine Ort genug an Welt. Und deshalb war das Aumund jenseits der Zollstraße für Vegesacker eine terra incognita. Wobei das ja nur Alt-Aumund ist, nicht das ganze Aumund. Denn das Aumund, in dem einmal die Ritter von Oumünde herrschten, reicht von Fähr, Lobbendorf und Löhnhorst bis Leuchtenburg, bis zur Borchshöhe und Schönebeck. Wenn man so will, ist Vegesack von Aumund umgeben, sozusagen eingekesselt.

Und das bringt mich wieder zu Jan Böhmermann. Er ist stolz darauf, dass er aus Aumund (Aumund-Hammerbeck, um genau zu sein) kommt: Wir haben in einer Genossenschaftswohnung gewohnt. Und es war eine Top-Kindheit. Meine Freunde waren, grob gesagt, kiffende Antifas. Uns verbindet dieses Gefühl von fröhlicher Perspektivlosigkeit, das man hat, wenn man in Bremen Nord aufgewachsen ist. Ich weiß nicht, was aus Jan Böhmermann geworden wäre, wenn er in der Weserstraße aufgewachsen wäre. Bestimmt kein Blogger, der von Zeit zu Zeit nostalgisch über seinen Heimatort schreibt.

Böhmermann hat seine Herkunft aus Aumund immer wieder in seiner Sendung oder dem Podcasts Fest & Flauschig erwähnt. Aber neuerdings wird immer weniger der Stadtteil Aumund und immer mehr der Stadtteil Vegesack erwähnt: Du kriegst den Jungen aus Vegesack raus, aber Vegesack nicht aus dem Jungen. Auf YouTube kann man mit Böhmermann als Fremdenführer mit einem digitalen Bus durch ein digitales Bremen-Nord, eine der traurigsten Regionen Deutschlands, fahren. Er vergisst bei seiner Fahrt auch nicht zu erwähnen, dass die Geiselgangster von Gladbeck einmal hier gewesen sind (wenn die Polizei damals nicht so trottelig gewesen wäre, wäre aus dem Ganzen keine Tragödie geworden). Das Computerspiel OMSI 2-AddOn Bremen-Nord, das Böhmermann zeigt, kann man für 28,99 € kaufen. Ist ganz witzig, den Kommentar von Böhmermann gibt es aber nur bei YouTube. Durch die Weserstraße fährt der digitale Bus allerdings nicht.

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