Samstag, 9. November 2019

sattes Gelb


Das geht mit dem satten Gelb heute nicht über die vielzitierte petit pan de mure jaune in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Sie erinnern sich bestimmt an die berühmte Stelle, wo der Schriftsteller Bergotte die Vermeer Ausstellung besucht, um Vermeers Ansicht von Delft zu sehen. Ein Kritiker hatte geschrieben, dass es eine kleine gelbe Mauerecke (an die er sich nicht erinnerte) enthalte, die so gut gemalt sei, dass sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge. Bergotte hat (ebenso wie Proust, als der die Vermeer Ausstellung besuchte) einen Schwindelanfall, als er endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks entdeckte. Er stirbt vor dem Bild, während er sich noch verzweifelt bemüht, Haltung zu bewahren: Ich möchte dabei doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Aber die Schönheit des kleinen Mauerstücks vernichtet sein eigenes Kunstwollen: So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mehr Farbe daran wenden, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist. Wir sind immer auf der Suche nach der kleinen gelben Mauerecke in unserem Leben.

Mir passt das mit der kleinen gelben Mauerecke von Marcel Proust heute am dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls ganz gut, weil ich gerade ein Buch gelesen habe, in dem es auch um gelbe Mauern (und um die Wende) geht. Es ist Hannes Hansens Roman Jenes volle satte Gelb, der den Untertitel Ein zeitgeschichtlicher Roman aus der Wendezeit hat. Der Autor stellt dem Roman ein Motto von Faulkner voran: The past is never dead. It's not even past. Und dann noch ein zweites von François Villon: Où sont les neiges d'antan? Es geht also um die Vergangenheit, und so ist in gewisser Weise auch Jenes volle satte Gelb eine Suche nach der verlorenen Zeit. Denn die Romanfigur Georg Nicolaisen ist in seiner Heimatstadt Potsdam auf der Suche nach der Vergangenheit: Er hatte wirklich davon gesprochen, von jenem schwer satten Gelb, das ihm noch, dessen war er sicher, in der Stunde des Todes leuchten würde vor den blinden Augen als endlich eingelöstes Versprechen der Heimat. Das schwer satte Gelb wird sich als Leitmotiv durch den Roman ziehen.

Aber es ist mit der Erinnerung so eine Sache. Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, hat uns Jean Paul versichert. Das Potsdam, das der Antiquitätenhändler Georg Nicolaisen findet, ist nicht das Potsdam, das er 1960 verlassen hat. Alles ist schneller geworden: Draußen hatte sich die Zeit beschleunigt und war ein hungriger Wolf geworden, der die Ereignisse hetzte und vorwärts trieb, bis er sie in den Fängen hielt und zerfleischte. Und auch das Gelb ist nicht mehr das, was es einmal war, das muss Georg, der in Potsdam seine Jugendliebe Friederike Schönemann wiedergefunden hat, feststellen, wenn sie vor dem Schloss stehen: Im Park wartete eine neue, unangenehme Überraschung auf sie. Das lange verhüllt gewesene Schloss zeigte sich statt im gewohnten satten, ins Ocker spielenden Gelb in einem hellen, selbst an einem verhangenen Novembertag widerlich prahlenden Farbton. Das war empörend, das war kriminell. Ein Anschlag auf seine Kindheit und Jugend war es, ein hinterhältiger Diebstahl.

Aufgebracht wendet er sich an die Parkverwaltung, wird dort aber von einem hergelaufenen Rheinländer, der nichts aber auch gar nichts verstand, eines Besseren belehrt: Das was Sie als satt gelb bezeichnen, ist nichts weiter als das Ergebnis eines Alterungsprozesses. Der setzte früher, bei den damals verwendeten Farben sehr schnell ein. Heute haben wir bessere, die behalten ihren Ton erheblich länger. An dieser Stelle des Romans musste ich lächeln. In unserer Straße, in der beinahe alle Häuser unter Denkmalschutz standen, war einmal ein Nachbarhaus auf Kosten des Landesamts für Denkmalschutz neu gestrichen worden. Früher hatte der Malermeister Wenzel das Haus gestrichen, und das hielt mindestens zehn Jahre. Jetzt kam eine Farbe auf die Mauern, die nach den Originalfarben von 1840 angerührt worden war. Sie hielt bis zum nächsten Platzregen.

Jenes volle satte Gelb ist eine Geschichte von einer Suche, es ist auch eine Geschichte von der großen Liebe. Georg fängt mit Friederike noch einmal da an, wo sie vor dreißig Jahren aufgehört haben, aufhören mussten. Wegen der Mauer. Nur verdrängt hatte er, was schmerzte. Weggeschoben. Abgespalten. Wie immer die Begriffe lauteten, die Vergangenheit hätte tot sein sollen. Und nun war sie seit Monaten schon höchst lebendig. Ebenso wie Jay Gatsby in Fitzgeralds Roman The Great Gatsby glaubt Georg Nicolaisen an das Can't repeat the past? Why of course you can! Sören Kierkegard sagt in Die WiederholungWiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Hätte der Romanheld das lesen sollen, bevor er wieder mit Friederike anbandelte? War es so gewesen? Die Erinnerung zeigte sich als Igel, der sich bei Gefahr zusammenrollte und der Welt seine Stacheln wies. Wenn sie miteinander schliefen, vermischten sich Vergangenheit und Gegenwart, und jeder Liebesakt war eine Wiederholung aller vorangegangen.

Refaire sa vie, sagt der Franzose, und das ist es, was Georg und Friederike versuchen. Aber es gibt kein richtiges Leben im falschen. Vergiss nicht, dass wir heute Abend ins Kino gehen wollen. Kuss, Friederike, liest er am Morgen. Der französische Film, den sie in dem Kino sehen, das abgerissen werden soll, ist ein Liebesfilm. Der Autor verheimlicht uns den Titel (es ist Le mari de la coiffeuse), nicht aber das tragische Ende, wenn Mathilde sich während eines Unwetters in den reißenden Fluss stürzt, weil sie Angst vor dem Ende der Liebe hat. Auch eine Lösung, sagt Georg, wenn sie aus dem Kino kommen. Friederike ist ihm deshalb böse. Doch dann fährt der Text fort: In der Nacht liebten sie sich wie schon lange nicht mehr. Ein verzweifeltes Begehren verzerrte ihre Körper und trieb sie an. Noch einmal roch Friedrike nach Schilf und Schlamm und Pilzen. Noch einmal verschwanden ihre Falten, wurde ihr Bauch glatt. Als sie sich voneinander lösten, fing Friedrike an zu weinen. Ein stilles, tonloses Weinen zunächst, das sich dann in wildes Schluchzen steigerte. Zuletzt hatte er sie vor über dreißig Jahren so schluchzen hören. In jener letzten Nacht, bevor er fortgegangen war.

Hier könnte der Roman aufhören, aber so hört er nicht auf. Er endet auch nicht tragisch wie der französische Film, den sie gerade gesehen haben. Sie leben sich auseinander, mais la vie sépare ceux qui s'aiment, tout doucement, sans faire de bruit. Das volle satte Gelb gibt es heute noch im Internet zu kaufen, es ist die Farbe Sanssouci 078, benannt nach dem Schloss Sans Souci in Potsdam ist Sanssouci ein fröhliches, etwas orange-stichiges, leuchtendes Gelb, das als Wandfarbe sehr beliebt ist. Den Roman Jenes volle satte Gelb von Hannes Hansen, der meine heutige Leseempfehlung ist, kann man natürlich auch kaufen. Im Internet oder besser bei Ihrem Buchhändler, der Roman ist gerade vor einer Woche in der Edition Grabener erschienen. Kein roman-fleuve wie Prousts À la recherche du temps perdu, nur einhundertvierzig Seiten, aber die bieten genug zum Erinnern und Nachdenken.


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