Ich könnte einen Roman über sie schreiben, sagte ich zu Gabi. Wir redeten über die Frau aus meiner Vergangenheit, die mich an meinem Geburtstag angerufen hatte. Teile des Telephongesprächs habe ich in den Post Wiederholungen hineingeschrieben. Haben viele Leser gelesen, sehr viele. Die mögen diese kleinen autobiographischen Stücke, vor allem, wenn sie von Frauen handeln. Das kennen Sie ja auch schon, ich komme häufiger darauf zurück, mögen die Posts Vergil, Sommerkino oder Kunsterziehung heißen. Ein Leser schrieb mir letztens, dass er den Post Gudrun jede Woche einmal lesen würde, denn, so schrieb er, wir haben alle eine Gudrun in unserem Leben.
Der Roman ruinierte das bisschen Karriere, das er hatte. Kritiker nannten es Silly Billy’s Tomfoolery, indecent trash oder schrieben the dirty abominations of the raffs of literature are far below notice. Nur ein oder zwei positive Kritiken gab es. Zum Beispiel diese: The 'Liber Amoris' is unique in the English language; and as, possibly, the first book in its fervour, its vehemency, and its careless exposure of passion and weakness—of sentiments and sensations which the common race of mankind seek most studiously to mystify or conceal—that exhibits a portion of the most distinguishing characteristics of Rousseau, it ought to be generally praised. Kierkegaard hat seine Trennung von Regine Olsen philosophisch verarbeitet, vielleicht auch mit fervour, vehemency, careless exposure of passion und weakness.
Dass ich am Schreiben bin, habe ich der Frau, über die ich, wie gesagt, einen Roman schreiben könnte, schon gesagt. Ich schreibe jetzt unsere Geschichte auf, sagte ich ihr am Telephon. Da musst Du Dich aber beeilen, sagte sie. Sie weiß nicht, wieviel an Autobiographischem ich schon geschrieben habe, sie liest meinen Blog nicht. Sie ist im Alter resignativ geworden, das tut mir weh. Ich kann lieb sein wie eine Katze, hat sie mir in das kleine Buch mit Katzencartoons von Siné geschrieben, das sie mir mal schenkte. Damals war ich noch nicht allergisch gegen Katzen, denen ich meinen ersten Asthmanfall verdanke. Die Sache mit unserer Geschichte ist doppeldeutig. Woran ich schreibe, ist zwar eine Geschichte von ihr und mir, aber es ist auch die Geschichte unserer Generation. Ich wäre derjenige, der den Roman der im Krieg Geborenen schreiben könne, hat mir Jimmy immer wieder gesagt. Und ich habe ihm immer wieder gesagt, dass ich kein Romanautor bin.
Ein Freund sagte mir vor Monaten, dass es eine gewisse Analogie zwischen mir und Proust gäbe. Ich habe darüber nachgedacht, und wenn ich mich auch keinen Augenblick lang mit Proust vergleichen will, es ist schon etwas dran. Früher habe ich gelesen, jetzt schreibe ich. Nicht im Bett wie Proust, und mein Asthma ist auch unter Kontrolle. Doch vieles in diesem Blog ist das niedergeschriebene Ergebnis einer Suche nach der verlorenen Zeit. Es ist natürlich keine verlorene Zeit, es ist eine gelebte Zeit. Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, sagt Jean Paul. Ich habe das erstaunlicherweise noch nie zitiert, obgleich ich auf dem Schreibtisch einen Zettel habe, auf dem der Satz steht. Ich verdanke ihn einem Leser, der mir schrieb, dass es ein schönes Motto für meinen Blog sei. Aber man muss den Satz weiterdenken.
Was ich glücklicherweise nicht zu tun brauche, denn Urs Widmer hat das schon getan: Wie alle Schriftsteller bin ich ein Erinnerungselefant. Alle Schriftsteller sind das, durchaus unfreiwillig. 'Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können', sagt Jean Paul in einem berühmten, eigentlich stets zustimmend zitierten Satz. Vermutlich hat er ihn nicht so plakativ positiv gemeint. Denn zum einen ist die Erinnerung nur in den seltensten Fällen ein Paradies, viel häufiger eine Hölle und in der Regel das eine und das andere, zum andern können wir sehr wohl aus diesem Höllenparadies vertrieben werden. Schreiben ist Erinnern, und Erinnern ist eine Arbeit, die ganz nie geleistet werden kann.
Das mit dem Erinnerungselefanten hat mir besonders gut gefallen, das trifft auch auf mich zu. Diese Frau hier hat in meinem Leben keine Rolle gespielt, da bin ich ganz sicher. Ich bin nur auf die gekommen, weil ich letztens bei der Bildersuche von Google meinen Namen eingegeben habe. Also nicht nur dieses Jay, unter dem mich viele kennen, sondern der volle Name. Und was finde ich? Diese Frau, die ich überhaupt nicht kenne. Irgendwie ist das witzig. Aber ich brauche die nicht in meiner Welt, das ist mir zu cool, hat zu viel Styling. Nicht, dass nicht irgendjemand mit ihr glücklich werden kann, vielleicht ist sie ja auch nett. Das weiß ich nicht.
Nein, ich schreibe über andere Frauen. Frauen, die ich kenne. Oder zu kennen glaube. Wobei die Erinnerung auch in die Hölle führen kann. Die Frau, über die ich einen Roman schreiben könnte, mag inzwischen so aussehen wie Marika Lagercrantz, mit Spuren des Lebens im Gesicht. Die beiden sehen sich ein wenig ähnlich. Die Welt des Kinos bedeutete unserer Generation nach dem Krieg viel. Nicht die deutschen Heimatfilme und Kriegsfilme, aber all das, was aus Frankreich und Italien kam. Wir stilisierten uns nach Schauspielern, sie war immer Catherine Deneuve. Ich glaube, sie hat all ihre Filme gesehen.
Als ich den Post Wiederholungen geschrieben hatte, schrieb mir ein Freund, dass ich mich sehr weit vorgewagt hätte mit der Offenlegung von Gefühlen. Aber tue ich das nicht immer, wenn ich über Frauen schreibe? Wir waren ja so verklemmt damals, wir konnten uns unsere wahren Gefühle nicht so einfach mitteilen, sagte mir meine Jugendfreundin Ute letztens am Telephon. Jetzt im Alter können wir alles sagen. Und dann fügte sie hinzu: Du warst immer in meine kleine Schwester verliebt. Ich war baff. Wie kam sie darauf? Nein, ich war nicht in ihre kleine Schwester verliebt, aber ich fand sie sehr sexy. Eine kleine Brigitte Bardot mit roten Haaren und Stupsnase, die die ganze Schule bewunderte.
Wir redeten damals viel, aber wir fanden vielleicht nicht die richtigen Worte. Es ist nicht leicht, das Zauberwort zu finden, sodass die Welt zu singen anhebt. Ich redete damals viel, aber ich wusste nicht, was ich wollte. Da war ich wie Jean-Louis Trintignant in dem Film Ma Nuit chez Maud, zu dem Françoise Fabian sagt: J 'aime bien les gens qui savent ce qu'ils veulent.
Mein Satz Ich könnte einen Roman über sie schreiben, provozierte Gabis Antwort: Warum tust Du es dann nicht? Ich weiß, warum ich das nicht tue, ich hasse das Tippen. Ein paar hundert Seiten schreiben, das wäre nicht Schwierigkeit, aber das Tippen. Brrrr. Ich sitze nicht in der Würde des Alters in der Herbstsonne auf einer Parkbank, wie der Maler Peder Severin Krøyer den Maler und Dichter Holger Drachmann gemalt hat. Ich sitze barfuß am Computer, mit einer zerschlissenen Chino und einem alten Sweatshirt. Immerhin trage ich ein italienisches Luxushemd darunter. Ich will ja durchaus noch schreiben, aber ich will mich nicht durch einen Roman an den Computer fesseln lassen. Vielleicht fürchte ich mich aber auch vor dem Schreiben, denn sicherlich gilt Emmanuel Berls Satz: Le domaine du souvenir est trop vaste pour que je ne m'y perde pas, fût-ce dans ses moindres parcelles, et celui de l'oubli l'est encore davantage.
Ich glaube, ich belasse es erst einmal bei diesen kleinen autobiographischen Posts. To accept a mediocre form and make something like literature out of it is in itself rather an accomplishment, hat Raymond Chandler gesagt. In meinem Blog heißt die Frau, über die ich, wie gesagt, einen Roman schreiben könnte, Ingrid. Das heißt aber nicht, dass sie wirklich so heißt. Ich habe das schon in dem Post poetic licence gesagt, dass viele der in diesem Blog erwähnten Frauen andere Namen bekommen haben. Ingrid ist häufig erwähnt worden. Auf dem Photo hier, das sich auch in dem Post Mit siebzehn findet, stehen wir nebeneinander. Das ist sicher kein Zufall, ich suchte ihre Nähe.
Sie taucht in vielen Posts auf, zum Beispiel in dem Post Heinrich Vogeler, da steht sie mit hochgezogenen Schultern am Fenster. Das war sicher eine Pose, im Posieren war sie gut. Sind alle Frauen. In dem Post Strände liegt sie mit ihrem neuen Bikini neben mir am Strand, das war keine Pose. Frauen werden sofort eins mit dem Strand, wenn die Sonne scheint. In manchen Posts ist sie die Hauptfigur, Liaisons dangereuses ist eigentlich nur für sie geschrieben. Der Post würde direkt in den Roman wandern, wenn ich ihn denn schriebe. Ein Roman, der eine careless exposure of passion and weakness ist.
Und manches steht schon in diesem Blog, das so aussieht, als sei es für diesen ungeschriebenen Roman geschrieben: Warum hast Du mich damals in den Dünen nicht aufgefangen, als ich sagte, fang mich auf? Du hättest mich haben können. Es ist Jahre später, sie liegt neben mir im Bett und raucht eine Zigarette. Das weißt Du genauso gut wie ich, sage ich, wir kennen uns so gut, dass wir die Gedanken des anderen lesen können. Vielleicht doch nicht so gut, wir leben auch alle damals an einander vorbei. Vielleicht wäre wirklich etwas aus uns geworden?
Wir sind damals achtzehn, neunzehn, aber auch wenn unsere Generation mit achtzehn viel erwachsener ist als spätere Generationen, in der Liebe bleibt man ein Kind. Wir beziehen unsere Idee von der Liebe aus der Literatur, diese wunderbare Sublimierung unserer Gedanken, Träume und Hoffnungen. Eine zärtliche Gebärde, eine halbe Wendung des Kopfes, die Andeutung eines Gefühls, ein verhaltenes Wort. Oft nur ein Duft oder die flüchtige Erinnerung eines solchen genügen, und das schafft ja Marcel Proust beinahe auf jeder Seite, um das Wunder der Liebe aufleuchten zu lassen. Und wir sammeln atemlos diese Augenblicke des Glückes, so wie Opa seine Schmetterlinge und Hirschkäfer aufspießt.
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