Donnerstag, 4. Juli 2019

Sommerkino


Ich kam aus dem Supermarkt bei mir um die Ecke, als ich diese schöne Frau barfuß auf der Straße tänzeln sah. Es war ein heißer Sommertag, ich hatte mir gerade ein Langnese Cremissimo Eis geholt. Langnese nehme ich immer. Ich habe mal kurzzeitig mit Häagen-Dazs geflirtet, bin aber reumütig zu Langnese zurückgekehrt. An meinem ersten Tag an der Hamburger Uni hatte ich mich in der langen Schlange bis zur Essensausgabe vorgearbeitet, als mir ein Mann mit einem weißen Kittel und der roten Aufschrift Langnese auf der Brusttasche noch einen Teller in die Hand drückte. Und eine Riesenportion Eis darauf plazierte. Bei der Firma Langnese war ein Kühlaggregat ausgefallen, und da hatten sie eine halbe Tagesproduktion zur Mensa der Hamburger Uni gebracht. Fand ich intelligent. War so ziemlich das Beste, was mir am ersten Tag an der Uni passierte. Meine hübsche Nachbarin im Karoviertel hatte ich noch nicht kennengelernt. Man kann nicht alles an einem Tag haben.

Ich komme jetzt also mit meiner Langnese Packung aus dem Supermarkt, und vor mir auf dem Bürgersteig tanzt diese schöne Frau, barfuß. Wäre ich François Truffaut gewesen, ich hätte ihr sofort eine Hauptrolle in meinem nächsten Film angeboten. Und sie sofort geheiratet. Aber das ging nicht. Erstens war ich nicht François Truffaut, und zweitens hatte sie schon einen Mann. Der lehnte sich gelangweilt an seinen schwarzen SUV, Potsdamer Autonummer, der im Halteverbot stand und rauchte. Betont mit der linken Hand, damit jeder seine Rolex sehen konnte. Er beachtete seine tänzelnde Frau nicht. War sie glücklich mit dem Typen? Was hatte sie in Potsdam für Nachbarn? Wolfgang Joop, Günther Jauch oder Alexander Gauland?

Die Frau hatte sich wahrscheinlich nur nach langer Fahrt die Beine vertreten wollen, aber dann war mehr daraus geworden. Sie trug ein bräunliches Sommerkleid mit kleinen gelben und grünen Blümchen. Ich hätte mir das den ganzen Nachmittag angucken können, aber dann wäre das Eis geschmolzen. Und sie hat bestimmt irgendwann zu tanzen aufgehört. Und mitnehmen konnte ich sie ja leider nicht. Aber das Bild für das Kopfkino, das nehme ich mit, a thing of beauty is a joy forever. Im meinem Kopf ist noch viel Speicherplatz für Bilder von schönen Frauen.

In dem Teil Teufelsmoor, der sich in dem Post 'Findorff' findet, habe ich über ein anderes Sommererlebnis geschrieben: Der Sonntagnachmittag, den ich da beschreibe, liegt über sechzig Jahre zurück, aber ich habe nichts von der Stimmung vergessen. Ich habe etwas geerbt, was in der Familie läuft, von dem ich manchmal nicht weiß, ob es ein Segen oder ein Fluch ist. Es ist dieses Gedächtnis. Ich kann mich an beinahe alles erinnern, noch nach Jahrzehnten. Ich kann es mir visuell wieder vor Augen führen, es ist auch ein eidetisches Gedächtnis. Ich habe den Kopf voller kleiner Filme. Manche Augenblicke im Leben, der genius loci mancher Orte, manche Stimmungen scheinen mich zu überwältigen. Ich scheine gleichzeitig alles zu sehen, hören, riechen. Es ist aber nicht immer schön, an manche Dinge möchte man lieber nicht erinnert werden. An diesen Tag im Moor schon.

Als ich aus dem Fenster schaute und mein Eis aß, war die Tänzerin verschwunden. Der schwarze Luxus SUV, also solch ein Teil, das man in London Chelsea Tractor nennt, war noch da. Die Tochter, die missmutig mit ihrem Smartphone spielte, saß immer noch im Auto. Der nerdige Ehemann lehnte sich noch immer gegen den Wagen. Er rauchte immer noch. Aber sie war weg. Vielleicht holte sie sich im Supermarkt ein Eis. Vielleicht Langnese?

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