Mittwoch, 23. März 2016

Liaisons dangereuses


Am 23. März des Jahres 1782 erschien der Roman Les Liaisons dangereuses. Ein Skandalerfolg. Der Briefroman von Choderlos de Laclos gilt heute als ein Hauptwerk der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts und zählt zur Weltliteratur. Das war mir nicht so klar, als ich den Roman las, über den Hermann Hesse sagte: Unter den erotischen und gesellschaftskritischen Romanen des französischen 18. Jahrhunderts vielleicht der klügste, kühlste, unsentimentalste. Literarisch und psychologisch glänzend. Ich glaube, ich habe den Roman damals gelesen, weil mir jemand erzählt hatte, dass da Sex drin vorkäme. Das ist für Jugendliche natürlich ein Grund, um Romane zu lesen. Vor allem die, die in dem Schrank mit den abgeschlossenen Glastüren sind.

Dieses sex sells war offensichtlich im 18. Jahrhundert die große Entdeckung, mir fallen ohne langes Nachdenken neben den Liaisons dangereuses noch Klassiker der schlüpfrigen Literatur wie Fanny Hill und de Sades Justine ein. Und dann kommen diese Unmengen von Gothic Novels, in denen halbbekleidete junge Damen (meistens adlig) von Bösewichten (immer adlig, niemals englisch) durch die dunklen Verliese des Schlosses gejagt werden. Ich lasse das jetzt einmal weg, Sie können alles dazu in dem Post lesen, der ↝Gothick heißt.

Als ich in dem Tageskalender von Wikipedia für den 23. März las, dass an diesem Tag der Roman von Choderlos de Laclos veröffentlicht worden ist, hatte ich eine Assoziationskette, die Berlin - Regenmantel - Ingrid hieß. Geht nicht anders. Berlin deshalb, weil ich den Film Gefährliche Liebschaften von Roger Vadim (die erste von vielen Verfilmungen) damals kurz nach seiner Erstaufführung dort gesehen habe. Regenmantel: weil ich einen ganz tollen ↝Trenchcoat hatte, gegen den dieser hier von Jean-Louis Trintignant mickrig aussah. Und Ingrid: das war diese Frau, die immer wieder durch mein Leben irrlichterte. Und in diesem Blog auch immer wieder auftaucht, sodass manche Leser sie schon für ein literarisches Phantasieprodukt halten. Aber das ist sie nicht, es gibt heute sogar mal ein Photo von ihr.

Was ich damals nicht wusste, war die Tatsache, dass man das französische ↝Original beschnitten und umgeschnitten hatte, bis man das Prädikat Nicht freigegeben unter 18 Jahren und für stille Feiertage von der Freiwilligen Selbstkontrolle bekam. Es wird in dieser Zeit um jeden Quadratzentimeter nackter Haut gekämpft, ob es da um ↝Ulla Jacobsson in Sie tanzte nur einen Sommer geht oder um ↝Ingmar Bergmans Das Schweigen. Was die Freiwillige Selbstkontrolle nicht unter der Kontrolle hatte, waren die Nacktbadestrände von Sylt, wo man auch schöne Frauen sehen konnte. Ohne Kinokarte. Manche von denen (in Begleitung fetter Sugardaddys mit Goldkettchen) träumten wohl auch davon, einmal auf die Leinwand zu kommen.

Dies ist ein Nostalgie Blog, das wissen Sie schon. Ich nehme Sie mal eben mit zurück in die Vergangenheit. Nicht in das Frankreich des Jahres 1782, nein, in das Berlin des Jahres 1961. Die Filme sind noch schwarz-weiß. Ich auch. Unter meinem italienischen Trenchcoat trage ich einen dunkelgrauen Anzug aus einem ↝Tonic Stoff; ich trage ein weißes Hemd mit einem schmalen Schlips und habe schwarze ↝Apollo Schuhe an meinen Füßen. Ich sehe mindestens so gut aus wie ↝Jean-Louis Trintignant oder ↝Gérard Philipe. Das bildet man sich ein, wenn man achtzehn ist.

It was about eleven o'clock in the morning, mid October, with the sun not shining and a look of hard wet rain in the clearness of the foothills. I was wearing my powder-blue suit, with dark blue shirt, tie and display handkerchief, black brogues, black wool socks with dark blue clocks on them. I was neat, clean, shaved and sober, and I didn’t care who knew it. I was everything the well-dressed private detective ought to be. I was calling on four million dollars. So beginnt ↝Raymond Chandler seinen Roman The Big Sleep. In meiner Geschichte ist es auch Oktober, ich bin auch well-dressed, aber ich mache keinen Besuch bei einem Millionär. Es ist kurz vor acht, und ich warte vor dem  Kino auf Ingrid. Ich ahne schon, dass sie nicht kommt.

Sie besitzen und Sie verlieren, das heißt, einen Augenblick Glück mit einer Ewigkeit Sehnsucht erkaufen. Schreibt der Vicomte von Valmont an die Marquise von Merteuil. Ich weiß nicht mehr, wer wer ist, in dem Liebesgewirr und den Intrigen von Les Liaisons dangereuses. Ich könnte jetzt noch So gibt es denn überhaupt keine Frau, die nicht die Herrschaft mißbraucht, deren sie sich zu bemächtigen wußte! zitieren. Der Roman von de Laclos ist voll von Sentenzen, Aphorismen und Platitüden. Ich lasse des jetzt beiseite, ich habe angefangen, eine Geschichte zu erzählen. Und ↝Geschichten wollen zu Ende erzählt werden:

Neben den Museen ist das Schönste, was mir Berlin zu bieten hat, die Welt der Filmpaläste (und natürlich 1962 ↝Juliette Gréco). Hier werden schon Filme gezeigt, die sich erst viel später in die Bremer Kinos verirren. Die Kinos heißen noch nicht Cinemaxx oder Astor Film Lounge, der Zoo Palast heißt aber schon damals Zoo Palast. Da kann man noch nach dem Kino bei Aschinger am Zoo ein Würstchen im Stehen essen. Und so viel Brötchen, wie man will. Die heißen hier Schrippen und sind ziemlich klein, stehen aber seit 1900 immer auf den runden Stehtischen. Seit den siebziger Jahren nicht mehr, es gibt kein Aschinger mehr. In diesem Herbst sind wir in einer Jugendherberge in Zehlendorf untergebracht, das ist der Berlinaufenthalt, bei dem ich auf die ↝S-Bahn verzichte. Ich nehme nachts nach Kino oder Oper diese tollen Doppeldeckerbusse, die nachts die Clayallee herunter rauschen. Die passen in meine Inszenierung vom einsamen Stadtwolf, nachts in meinen Trenchcoat gehüllt, oben in den leeren Bussen auf der Clayallee, beschlagene Scheiben, vorbeihuschende Neonleuchten, die nächtliche Lyrik der Großstadt.

Ich hatte Ingrid eingeladen, mit mir Gefährliche Liebschaften im Kino zu sehen, Ku’damm, Erstaufführungstheater, wie das damals so schön heißt. Wer nicht kommt, ist Ingrid. Ich habe für meinen italienischen Trenchcoat den teuersten Garderobenplatz von ganz Berlin neben mir. Passt zum Trenchcoat. War von Hans Kalich in Bremen, schweineteuer, wie alles bei Kalich. Mammi musste erst zuhause Vaddi anrufen, um zu fragen, ob sie ihn mir kaufen dürfe. Vaddi hat natürlich Ja gesagt. Ich hätte im Kino lieber diese schöne Frau mit den Sommersprossen neben der Nase neben mir gehabt statt des Trenchcoats, aber sie zickt immer rum. Das haben Frauen in den fünfziger Jahren schon gelernt, die Unnahbare zu spielen.

Aber hinter der scheinbaren Überlegenheit ist auch viel Unsicherheit, das Rouge auf ihrer Unterlippe bröckelt ab, weil sie immer mit den Zähnen darauf knabbert, wenn sie nervös ist. Fang mich auf, sagt sie in den Dünen von ↝Langeoog, dann ist sie wieder ganz anders. Wenn irgendetwas eine amour fou ist, dann ist es meine Beziehung zu Ingrid. L’amour est un oiseau rebelle, schreibt sie mir wenig später aus Frankreich. Und l’amour est simple, il est ou il n’est pas... Aber jetzt hasse ich sie erstmal. Nachts auf dem Flur der Jugendherberge sehe ich sie im Licht der Notbeleuchtung, ich drücke ihr die zweite Karte in die Hand und sage Hier hast Du Deine Karte, es waren die besten Plätze. Aber ich kann ihr nicht böse sein, vor allem nicht, wenn sie mir am nächsten Morgen das Butterbrot schmiert. Les Liaisons dangereuses war schon der richtige Filmtitel für uns.

Jahrzehnte später werde ich ↝Jimmy plötzlich zwingen, auf die Bremse von seinem Alfa Romeo zu treten, mitten auf dem Teltower Damm. Warte auf mich, sage ich ihm. Ich habe im Vorbeifahren diesen kleinen Park gesehen. Mit dieser Telephonzelle an der Ecke. Hier war ich mal mit ihr verabredet, sie ist natürlich nicht gekommen. Der kleine Park hat sich in einem Vierteljahrhundert nicht verändert, hier ist die Zeit stehen geblieben. Es ist Oktober wie damals, die roten und gelben Blätter auf dem Boden sehen aus, als lägen sie seit 1961 hier, ↝Les feuilles mortes. Der Geruch von der Brauerei reicht noch immer bis hier. Ich drehe mich abrupt um. Fahr los, sage ich zu Jimmy. Manchmal kann man es nicht ertragen, vom Zauber eines Ortes wieder gefangen zu werden. Ich könnte Jimmy jetzt in ein philosophisches Gespräch über Kierkegaards Die Wiederholung verwickeln. Der kleine, jetzt piekende Muskel, den wir Herz nennen, würde lieber Jay Gatsbys Satz Can’t repeat the past? Of course, you can hören.

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