Mittwoch, 2. Dezember 2020

Schülerfilmclub


Du musst Dir unbedingt den Film 'Mord im Fahrpreis inbegriffen' angucken, sagte mir Ekke. Ich radelte in der Dunkelheit nach Blumenthal, um noch zur 20 Uhr Vorstellung zu kommen. Ich wusste, wo das Kino war, meine Tante Tilla wohnte im Haus nebenan. Ekkes Filmtips waren immer gut, ✺Compartiment tueurs war ein Klassefilm. Neben Yves Montand spielt da die ganze Crème de la Crème der Franzosen mit, Jean-Louis Trintignant und Michel Piccoli auch. Heute radelt niemand mehr in der Winternacht wegen eines Film von Vegesack nach Blumenthal, es gibt in Blumenthal kein Kino mehr. In Vegesack auch nicht.

Dabei hatten wir mal (wenn man das Kino in Hammersbeck mitzählt) vier Kinos im Ort. Oder fünf, wenn man das Capitol Kino in Grohn einbezieht. Da habe ich damals Bambi gesehen, als ich klein war. Dies hier ist ein Blick in die Scala in der Breiten Straße, da passten tausend Leute rein. Das Kino war 1917 als Vegesacker Lichtspiele eröffnet worden, war damals aber noch nicht so groß. Und es war auch nicht das erste Kino im Ort, das waren die Tonhallen in der Gerhard Rohlfs Straße, die schon 1888 im Bremer Adressbuch auftauchen. Sie hatten auch Säle für Festlichkeiten. Ich habe ein Photo aus den 1920er Jahren, auf dem mein Opa neben dem Bürgermeister Dr Werner Wittgenstein bei einer großen Festivität der Schlaraffia zu sehen ist. In den 1920er Jahren waren die Tonhallen auch die Heimat des Stadttheaters. Das 1953 eröffnete Kino Stadttheater Tonburg in der Gerhard Rohlfs Straße war dann das erste, das schloß, da zog ein scheußlicher Supermarkt namens Kepa ein.

Das Haus da hinten an der Ecke der Hafenstraße war einmal Brockmanns Hotel, es wurde 1955 ein Kino, das Roxy hieß. Kinos heißen aus ungeklärten Gründen immer Roxy oder Scala. So wie Hotels früher Bristol hießen. Das Roxy gehörte einem gewissen Herbert Bereit, die Scala auch, aber er versuchte zu vermeiden, dass das bekannt wurde. Das Roxy versuchte, ein wenig ein Filmkunsttheater zu sein, es hatte weniger Plätze als die Scala (es waren 403). Die Wandbespannung war ein häßlicher tabakbrauner Stoff, der Vorhang aus silberweissem Plüsch Lamée. Neben der Scala war noch eine Kneipe, in der scheinbar nur Schüler des nahegelegenen Gerhard Rohlfs Gymnasiums verkehrten. Da ist mir mal mein geliebter Tweedmantel geklaut worden, danach bin ich da nie wieder drin gewesen. Der geizige Bereit, mit dessen Sohn ich in der Volksschule gewesen war, hat sich geweigert, mir den zu ersetzen. Er soll noch zehn weitere Kinos in Bremen besessen haben, man weiß das nicht so genau.

Heute gibt es in ganz Bremen-Nord, das immerhin beinahe 100.000 Einwohner zählt, keine Kinos mehr. Wenn man ins Kino will, muss man nach Osterholz-Scharmbeck, Schwanewede (wo es noch einen Filmpalast gibt) oder Ritterhude fahren. Die Kinokultur ist zuende, auf jeden Fall in Bremen-Nord. Den Schülerfilmclub meines Gymnasiums gibt es auch nicht mehr, das Gymnasium ist auch nicht mehr da, wo es einmal war.

Mein Freund Ekke hatte nicht nur gute Filmtips, er konnte auch ganze Filme nacherzählen. Er hatte in den fünfziger Jahren als erster von uns  ✺Arsenic and Old Lace gesehen. Er hat mir den ganzen Film erzählt. Immer nach dem Sport, wenn wir vom Sportplatz den kleinen Berg der Poststraße hinauf zu Schule gingen. Er konnte den Film beinahe auswendig und spielte beim Gehen alle Rollen. Jede Woche. Je langsamer wir gingen, desto mehr bekam ich vom Film erzählt. Es hat Wochen gedauert, bis ich den Film kannte. Bis Martha Brewster Are you leaving, Doctor? sagt, und Peter Lorre Yes, please antwortet. Und der Film mit den Worten endet: Ich bin kein Taxifahrer, ich bin eine Kaffeekanne! Heute kann man jederzeit eine DVD einlegen. Aber das ist nicht dasselbe. Die Kunst des Filmerzählens erscheint noch nicht ganz ausgestorben, inzwischen gibt es für diese Art der Ekphrasis schon ein Festival des nacherzählten Films.

Unseren Schülerfilmclub habe ich schon häufiger hier erwähnt, zuletzt wahrscheinlich in dem Post Die Mädchen, wo es heißt: Der Film lief damals nicht in einem normalen Kino, sondern in einem Filmkunsttheater, hieß studio für filmkunst. Kleingeschrieben. So etwas gab es damals noch. Es gab auch überall Filmclubs. Selbst das Angebot der Filme in unserem Schülerfilmclub war auf hohem Niveau, wie zum Beispiel ✺Tod eines Radfahrers, ✺Sie küssten und sie schlugen ihn oder ✺Asche und Diamant

Es gab natürlich viel mehr, ich sollte noch Wilde Erdbeeren und Hiroshima mon amour erwähnen. Ich weiß nicht, ob man den ✺Schimmelreiter wirklich hätte zeigen müssen, es ist ja eine Art Propagandafilm der Nazis. Aber er hat doch ästhetische Qualitäten und war nach 1945 nie verboten, die FSK erlaubte ihn sogar ab sechs Jahren. Aber er passt natürlich nicht so ganz zu Truffaut, Andrzej Wajda, Resnais und Bergman.

Der Schülerfilmclub hatte den etwas hochtrabenden Namen Schülerfilmgilde, er war 1957 gegründet worden. Man kaufte ein Programm für das Schuljahr und war im Club (oder in der Gilde), und man hatte damit eine Eintrittskarte für die Welt des wirklichen Films: 1957 gab es in Deutschland Ferien auf Immenhof, in Italien Il Grido. Es gab in den fünfziger Jahren viele Filmclubs, unsere Gilde war der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Jugend-Filmclubs und-Gruppen angeschlossen. Nicht alle Schüler machten von dem Angebot guter Filme Gebrauch, 1965 war nur ein Drittel der Schüler des GRG Mitglied der Gilde. Kino gab es am späten Mittwochnachmittag in der Aula. 16 Millimeter, kein 35 Millimeter Kinoformat. Mein Klassenkamerad Wuddel hatte sogar in Bremen bei der Landesbildstelle einen Filmvorführerschein gemacht. Die Bestuhlung der Aula war der Schule von der Lürssen Werft gestiftet worden, das war hartes Holz. Selbst ein durchgesessener Rasiersitz im Kino war bequemer als diese Stühle. Die auch verhinderten, dass man mit seiner Freundin knutschte. Im Kino ging das, in der Aula nicht. Aber dennoch war die Schülerfilmgilde, ebenso wie der berühmte Chor unserer Schule, eine Art Eheanbahnungsinstitut.

Als die Schülerfilmgilde gegründet wurde, war das Haus für das studio für filmkunst am Herdentorsteinweg in Bremen noch nicht ganz fertig, aber Filme konnte man da schon sehen. Das Atlantis in der Böttcherstraße hatte auch immer ein gutes Programm. Da war ich häufig mit Peter, und einmal mit Traute, als wir dachten, wir könnten einfach so eine Kinokarte für Das Schweigen kaufen. Die hätte man damals drei Wochen vorher bestellen müssen, das gibt es heute wohl auch nicht mehr.

Das einzige Kino bei uns, in dem ich nie war, war das Kino in Hammerbeck. Ute wollte mit mir dahin, um ✺Wenn die Kraniche ziehen zu sehen, aber ich wollte nicht, ich hielt das für russischen Kitsch. Ich habe die Geschichte mit der kleinen Liebestragödie schon in den Post Sergei Bondartschuk hineingeschrieben. Ich habe Ute zu dem Kino nach Hammersbeck gebracht, wo schon eine Freundin auf sie wartete. Ute ist mir aber nicht wirklich böse gewesen und ist weiterhin mit mir in die Vorstellungen des Schülerfilmclubs gegangen. Nach dem Film brachte ich sie immer zum Bahnhof, weil sie in St Magnus wohnte. Bahnhöfe sind für Ankunft und Abschied eine schöne Lokalität, vor allem für Filme. Man denke nur an ✺Anna Karenina oder ✺Brief Encounter (Bild). 

Das ist das Problem: wenn man zu früh zu viele Filme sieht, will man so leben wie im Film. Bei mir war es der französische Film der Nouvelle Vague, der mich für das Leben verdorben hat. Weil ich ja auch wie Jean-Louis Trintignant aussah. Der Weg zum Bahnhof gehörte zum Film dazu, es war immer schon dunkel, wenn der Film zuende war und wir die Bismarckstraße hinuntergingen. Einmal schien der Mond, es war ein riesiger Mond. Das ist eine optische Täuschung, der Mond ist immer gleich groß. Aber an diesem Abend war es ein riesiger Mond unten über dem Bahnhof. Und wir gingen Hand in Hand die Straße hinunter in den Mond hinein. Das war nicht der Mond von Eichendorff, das war der Mond von Dean Martin: When the moon hits the sky like a big pizza pie, that's amore. Welchen Film wir damals gesehen haben, weiß ich nicht mehr.

1 Kommentar:

  1. Der Mond ist verschieden groß, je nachdem wie weit er von der Erde weg seine Kreise zieht.

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