Donnerstag, 20. Oktober 2011

Sergei Bondartschuk


Der russische Filmregisseur Sergei Fjodorowitsch Bondartschuk ist heute vor siebzehn Jahren in Moskau gestorben, er war einer der ganz Großen des russischen Films. Der ja nicht arm ist an großen Regisseuren, was wäre der Film ohne Pudowkin und Sergei Eisenstein? Oder Sergei Gerassimow und Andrei Tarkowski? Und Aleksei German wollen wir nun gar nicht vergessen. Seinen Film Moy drug Ivan Lapshin, der im Englischen ➱My friend Ivan Lapshin heißt, habe ich dreimal gesehen. Ich halte ihn filmisch für einen der größten russischen Filme. Es ist mir gerade geglückt eine russische DVD zu bestellen, hoffentlich wird etwas daraus. Im Internet habe ich gelesen, dass Andrei Tarkowski meiner Meinung ist und Ivan Lapshin auch für den größten russischen Film hält, das beruhigt mich sehr. Als ich den Film zum ersten Mal sah, wusste ich nichts über den Film und den Regisseur, ich hatte auch keinen Computer, um etwas über den Film herauszufinden. Dank des Internets bin ich jetzt etwas schlauer. Und wenn die DVD jemals ankommt, schreibe ich bestimmt darüber. Bis dahin können Sie ja mal in den ➱Trailer hineinschauen.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich ein Fachmann für den russischen Film wäre, meine erste Begegnung mit dem russischen Film hätte beinahe zu einer Liebestragödie geführt. Meine damalige Freundin fand Wenn die Kraniche ziehen großes Kino, ich fand den Film furchtbaren Kitsch. Man hat es schwer als angehender Filmkritiker. Inzwischen habe ich natürlich eine Vielzahl russischer Filme gesehen, und wenn ich Eisenstein mal beiseite lasse, haben die Filme Moy drug Ivan Lapshin und Bondartschuks Krieg und Frieden mit ihren Bildern bei mir tiefe Eindrücke hinterlassen. Von ➱Krieg und Frieden habe ich glücklicherweise seit einigen Jahren endlich eine Kopie von der Firma Icestorm. Auch wenn das auch nur die digitale Version einer schlechten DEFA-Kinokopie ist, es muss irgendwo eine bessere Version geben, die 2009 auf der Berlinale gezeigt wurde. Es gibt noch eine teurere DVD von der Firma Russico, aber ich weiß nicht ob die besser ist.

Beide DVD Päckchen bieten mit über 400 Minuten den Film in einer Länge, die an die Originallänge herankommt. Die bei der Berlinale gezeigte 70 mm Sovskop Version war auch noch eine halbe Stunde länger als die DEFA Version. Im deutschen Kinoverleih (ab 1967) gab es nur eine gekürzte dreiteilige Fassung (337 Minuten) zu sehen, die vierteilige DEFA-Version wurde von der ARD zum ersten Mal 1979 gezeigt. Ich musste das alles aus wissenschaftlicher Genauigkeit mal eben sagen, wenn Sie 26,98 € für die Version der Firma Icestorm Entertainment GmbH investieren, machen Sie aber keinen Fehler - es ist ein einmaliges Filmerlebnis. Das natürlich im Kino noch überwältigender ist als mit dem Fernsehgerät, aber man kann nicht alles haben. Außer man kauft sich eine Kopie der 70 mm Version und ein Kino dazu.

Ein Filmregisseur oder ein Drehbuchautor (oder wie hier, wo der Regisseur auch der Drehbuchautor ist) wird einen Roman mit anderen Augen lesen als ein normaler Leser. Er wird sich die Stellen markieren, bei denen sich eine Verfilmung des Textes ohne Schwierigkeiten realisieren lässt, und er wird sich die Romanpassagen markieren, auf die er verzichten kann. Es ist übrigens ein interessantes Experiment, das jeder Leser selbst machen kann (dazu brauchte man nun nicht unbedingt Krieg und Frieden nehmen), dass man einen Roman auf seine Verfilmbarkeit hin liest. Sie werden merken, dass Sie plötzlich einen ganz anderen Text bekommen. Obgleich Bondartschuk beinahe sieben Stunden zur Verfügung hat, streicht er viel von Tolstois Text. Manches fordert im Roman geradezu heraus, gestrichen zu werden: die langen Passagen, die von Pierre Besuchows Karriere bei den Freimaurern erzählen, fielen als erstes dem Rotstift zum Opfer. Ich habe sie zwar knurrend gelesen, hätte sie aber schon beim Lesen gerne gestrichen. Auf irgendetwas muss man immer verzichten, es gibt bei ➱Literaturverfilmungen keine 1:1 Kopien.

Tolstois Roman ähnelt in manchem dem Barockdrama, da gibt es eine Ebene der Könige und des Adels und eine Ebene der kleinen Leute. Letztere enthält auch immer ein wenig comic relief, einen Hanswurst, einen Pickelhering, einen Arlecchino. Die meisten Verfilmungen von Tolstois Roman beschränken sich auf die Ebene des russischen Adels. Oder reduzieren die Handlung wie King Vidor 1956 auf drei Personen, Natascha, Pierre und Andrei. Und wenn dann noch Natascha von Audrey Hepburn gespielt wird, ist der ganze Film gerettet, und die Filmkritiker finden alle die rehäugige Audrey toll. Dass das Drehbuch, an dem nicht weniger als neun Autoren mitgeschrieben haben, wenig mit dem Roman zu tun hat, interessiert dann nicht mehr.

Das Schöne an Bondartschuks Film ist, dass da Audrey Hepburn, Henry Fonda und Mel Ferrer nicht mitspielen. Wir kennen keinen der Schauspieler (vielleicht außer Bondartschuk, der es nicht lassen kann, Pierre Besuchow selbst zu spielen), sie überzeugen uns als Schauspieler, nicht weil sie Stars sind. Und es gibt bei Bondartschuk auch nicht nur die Welt des russischen Hochadels. Ähnlich wie Tolstoi scheinen ihm die einfachen Menschen näher zu stehen. Wie der Hauptmann Tuschin, der nichts Offizierhaftes an sich hat und eine Art Komplementärfigur zu Mütterchen Russland ist. Der seinen General, den Fürsten Bagration (der im Film genau so aussieht wie auf den Portraits, die es von ihm gibt), auf eine seltsame Weise grüßt: wobei er mit einer verlegenen, ungeschickten Bewegung, ganz und gar nicht in der Weise, wie Militärpersonen zu salutieren pflegen, sondern eher ähnlich wie Geistliche den Segen erteilen, drei Finger an den Mützenschirm legte. Er wird zum stillen Helden der Schlacht: Wohin er feuern solle und mit welcher Art von Geschossen, darüber hatte Tuschin von niemandem Befehl erhalten; sondern er hatte sich mit seinem Feldwebel Sachartschenko, vor dessen Sachkenntnis er großen Respekt hatte, beraten und war zu der Ansicht gelangt, daß es zweckmäßig sei, das Dorf in Brand zu schießen. Der Hauptmann hat Respekt vor der Sachkenntnis des Feldwebels, in der Welt der Fürsten im Stabsoffiziersrang ist von Respekt für die Feldwebel nicht die Rede.

Bondartschuk macht viel aus dieser Szene mit dem kleinen pfeiferauchenden Hauptmann Tuschin - und natürlich kommt bei ihm die große Welt nicht zu kurz. Auch wenn Audrey Hepburn und Anita Ekberg nicht mitspielen. Die Kritik an seinem  Film reduzierte sich zehn Jahre nach der Hollywood Produktion immer wieder darauf, ob Ljudmila Michailowna Saweljewa der Rollengestaltung von Audrey Hepburn gerecht würde. Nach der Natascha des Romans von Tolstoi fragte niemand. Die damaligen Filmkritiken sind sowieso ein wenig einfältig. Man ereiferte sich alle Details eines Monumentalfilms aufzuzählen: teuerster Film aller Zeiten, eine halbe Armee für die Dreharbeiten abkommandiert, der Neubau von Fabriken, die nur die Kostüme und Uniformen nähten etc. etc. Als ob Bondartschuk es vorgehabt hätte, sich in einen Wettbewerb mit Cecil B. DeMille zu begeben!

Niemand redet über die Bilder, über die Photographie (wie bei der Einstellung, wo das zweigeteilte Bild Natascha neben einem Spiegel zeigt), über die Mise en scène, über den Film als Kunstwerk. Es ist erstaunlich. Natürlich kann man über die Massenszenen reden, aber die machen den Film im Grunde seiner russischen Seele nicht aus. Natürlich kann man sich fragen, ob für die Statisten zwei verschiedene Uniformen angefertigt werden mussten, weil die Uniformen der russischen Armee 1805 anders aussahen als 1812. Bei der aufwendigen europäischen Neuverfilmung, die das ZDF vor Jahren sendete, hatte man offensichtlich für den Fürsten Andrei Bolkonski nur eine Uniform geschneidert, die er den ganzen Film lang trug. Das war schon ein wenig peinlich. Über diese Verfilmung, die offensichtlich von einer Firma namens Euro Trash gemacht wurde, möchte ich lieber nichts sagen. Wenn dies alles ist, was bei einer gesamteuropäischen Bemühung herauskommt, sollte man über Europa noch einmal nachdenken.

Bondartschuk zieht in dem Film alle Register, ein Bild vom Fürsten Andrei Bolkonski auf dem Schlachtfeld hingegossen liegend (wie ein Jesus Christus, den man gerade vom Kreuz genommen hat), ist sicher schon am Rande des Kitsches. Wie dieses Bild von der Sterbeszene Bolkonskis. Aber es sind mächtige Bilder und immer wieder überraschende Einstellungen von einem Regisseur, der Schüler von Podowkin und Gerassimow war, der alle Register zieht. Vergessen Sie jegliche Originalität von Steven Spielberg! Alles, was die Filmkamera kann, haben die Russen lange vor Steven Spielberg auf die Leinwand gebannt, denken Sie an die Treppe in Panzerkreuzer Potemkin.

Alles, was die Filmkamera kann, ist in Krieg und Frieden zu sehen. Wenn Fürst Andrei auf dem Schlachtfeld liegt und über sich den fernen, hohen, ewigen Himmel sieht und jetzt alles zwischen seiner Seele und diesem hohen, unendlichen Himmel mit den darüber hinziehenden Wolken vorging, dann folgt die Kamera der Seele des Fürsten Andrei Bolkonski. Wenn die kleine Natascha auf ihrem ersten Ball tanzt, dann fangen die Kameraleute, sich auf Rollschuhen bewegend, die fliessende Bewegung dieses Tanzes auf. Wenn die ganze Entourage auf den Tod des Grafen Besuchow wartet, dann fängt die Kamera das Gespenstische dieser toten Seelen ein. Das ist großes Kino, das den Sätzen des Romans Wort für Wort, Bild für Bild folgt.

Neuerdings werfen irgendwelche linken Filmkritiker-Fuzzis Bondartschuk vor, er hätte es in der Tauwetter Periode Russlands verpasst, einen progressiven Film zu drehen. Dies sei ein rückwärts gewandter Film. Ja, es ist ein rückwärts gewandter Film, die Verfilmung eines russischen Romans, der 1868 erschien und der die Jahre 1805 bis 1812 behandelt. Aber es ist gleichzeitig auch eine Rückbesinnung auf etwas, das nach Stalin alle in Russland durch ein Heraufbeschwören der gemeinsamen Wurzeln einer nationalen Tradition einen konnte. Darin liegt die politische Dimension des Filmes. Wir sollten Sergei Bondartschuk für den Film dankbar sein, nicht nur, weil er vielleicht die Romanlektüre ersetzt.

Ich hatte viele schöne Bilder aus dem Internet gefischt, die alle verschwunden sind. Stattdessen kann man tausend Bilder dieser schrottigen ZDF Verfilmung finden. Aber hier können Sie Auswahl von Filmbildern sehen. Und den Film habe ich natürlich auch für Sie.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen