Lassen Sie uns noch einen Augenblick bei den Alpen bleiben. Albrecht von Hallers Die Alpen wird nicht das einzige literarische Zeugnis im 18. Jahrhundert bleiben. Alle Engländer, die sich im 18. Jahrhundert auf ihre Grand Tour begeben, werden über sie schreiben. Plötzlich muss man die Berge gesehen haben, Jahrhunderte lang hatten sie niemanden interessiert, waren sie Warzen auf dem Gesicht der Erde gewesen, jetzt wird der Alpentourismus chic. Das 18. Jahrhundert vollzieht den Schritt von mountain gloom zu mountain glory, wie Marjorie Nicolson ihre große Studie über die Ästhetisierung des Bergerlebnisses genannt hat. Am Anfang des 19. Jahrhunderts wird Thomas Cook den Massentourismus in die Schweiz lenken. Nach den Gentlemen der upper class auf ihrer Bildungsreise wird eines Tages die neue Gattung Mensch, der Bergsteiger, kommen. Einer von ihnen, Sir Leslie Stephen (der Vater von Virginia Woolf und Vanessa Bell), wird mit seinem Buch The Playground of Europe einen neuen Namen für die Schweiz finden. Auf diesem helvetischen playground wird jetzt auch der Wintersport erfunden, den gab es vorher nicht.
An einem kalten, nebligen Novembertag des Jahres 1864 hatte Johannes Badrutt mit seinen letzten englischen Sommergästen gewettet, dass sie Weihnachten in Hemdsärmeln vor seinem Hotel Kulm in St. Moritz sitzen könnten. Er vertraut auf die Sonne von St. Moritz und baut sofort eine Curlingbahn. Was wären die Engländer ohne einen playground? In Würdigung des Vorreiters des schweizerischen Wintertourismus wurden in den Jahren 1928 und 1948 die Olympischen Winterspiele im Park des Kulm Hotel St. Moritz eröffnet. So wirklich verstanden hat Badrutt seine englischen Gäste aber wohl nicht. Die Engländerin Mrs. Aubrey LeBlond, eine große Alpinistin und Photographin der Bergwelt, weiß in ihrer Autobiographie nur wenig Schmeichelhaftes über Badrutt zu sagen. Als ein englischer Gast anregt, einen zweiten Tennisplatz zu bauen, lehnt er das ab: he turned down the idea with the remark that he had never seen more than two people playing on each side of the net, while there was room for many more, another court would be unnecessary for a long time to come.
Den Reiseberichten und Briefen der reisenden Engländer kann man im 18. und frühen 19. Jahrhundert entnehmen, dass es mit der Qualität der Schweizer Gasthöfe nicht so weit her sein kann (scarcely habitable, I never had so disagreeable a lodging etc) - vielleicht sind die Briten aber auch nur notorische Nörgler. Die jeweilige Landessprache verstehen sie ja eh nicht. Natürlich stellt man sich in den Alpen auf den neuen Tourismus ein, wenn manchmal auch nur, indem man dem Hotel einen neuen Namen gibt. Plötzlich heißen alle Hotels Bristol (hier das Bristol in Karlsbad). Oder Victoria, Stadt London, Hôtel d'Angleterre, Hôtel Grande Bretagne oder Hôtel Royal. Wahrscheinlich wäre man auch am oberen Peneios auf die Briten vorbereitet, erkundigt sich doch Mephistopheles in Goethes Faust: Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel, Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen, gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen, das wäre hier für sie ein würdig Ziel.
Aber in der Zeit von Johannes Badrutt verändert sich die Hotellandschaft schnell zum Besseren und Luxuriöseren. So dass ein Hotelerbe seinem zukünftigen Schwiegervater sagen kann: I have nine thousand six hundred pairs of sheets and blankets, with two thousand four hundred eider-down quilts. I have ten thousand knives and forks, and the same quantity of dessert spoons. I have six hundred servants. I have six palatial establishments, besides two livery stables, a tea garden and a private house. I have four medals for distinguished services; I have the rank of an officer and the standing of a gentleman; and I have three native languages. Show me any man in Bulgaria that can offer as much. Der hier redet, heißt Bluntschli. Er ist der Schokoladensoldat aus Shaws Theaterstück Arms and the Man. Ich hatte mal einen reizenden stellvertretenden Bataillonskommandeur, der ebenso wie Hauptmann Bluntschli immer nur Schokolade im Pistolenhalfter hatte. Ich weiß das ganz genau. Als er einmal kurzfristig zu einem General gerufen wurde, fragte er mich, ob ich ihm meine P38 leihen würde. Ich bekam dafür seine Schokolade. Die Geschichte glaubt mir keiner, sie ist aber wahr.
Die Literaturwissenschaft hat lange gebraucht, wenn man mal von Kracauers Hotelhalle absieht, sich des Themas der großen Hotels in den Alpen anzunehmen. Abhilfe schaffte da die Berliner Dissertation von Cordula Seger, die mit Mitteln des Schweizer Nationalfonds zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses 2005 in einer renommierten literaturwissenschaftlichen Reihe gedruckt wurde. Das mit der Abbildung eines Kofferzettels vom Grand Hotel St. Moritz um 1913 verzierte Buch Grand Hotel: Schauplatz der Literatur passt mit seinen 522 Seiten nicht in jede Kroko-Damenhandtasche. Der Schweizer Nationalfonds hat sein Geld gut angelegt, diese Arbeit hat es auf jeden Fall verdient, gefördert zu werden (das Buch ist auch sauteuer, wahrscheinlich wollen die Schweizer Gnome ihr Geld wieder haben). Die Autorin versteht nicht nur etwas von Literatur, sie kann sich auch über Fragen der Architektur äußern. Das hatte damals Kracauer nicht interessiert, als er Hotelhalle schrieb. Und obgleich sich die Verfasserin manchmal um das neumodische, angesagte Wissenschaftsvokabular bemüht, ist ihr Buch doch über große Strecken sehr gut zu lesen.
Was ich auch sehr originell finde, ist das Buch Proust im Engadin (Hoffmann und Campe 2011) von dem Zürcher Romanistikprofessor Luzius Keller. Der Herausgeber der Frankfurter Proust Ausgabe spürt hier detektivisch Prousts Aufenthalt in der Schweiz und einer rätselhaften Eintragung in einer Skihütte am Bernina Pass nach. Wir können uns die Herzoginnen und die Barone, die Prousts Romane bevölkern gar nicht so recht in der Schweizer Bergwelt vorstellen, aber sie sind - genau wie Proust im Sommer 1893 - alle hier gewesen.
Ich muss noch ein Buch erwähnen, dessen Verfasser ebenso detektivisch wie Luzius Keller vorgeht und das auch mit dem Grand Hotel zu tun hat. Es ist von keinem Literaturwissenschaftler, sondern von einem Journalisten. Der Hamburger Günther Schwarberg hat vor Jahren mit Es war einmal ein Zauberberg: Eine Reportage aus der Welt des deutschen Zauberers Thomas Mann ein wirklich nettes Buch (die NZZ fand es nicht so gut, aber die Schweizer haben ja immer etwas zu mäkeln) über Thomas Mann und das Grand Hotel in Davos geschrieben. Günther Schwarberg kommt aus dem gleichen Bremer Vorort wie ich, sein Vater war ein Kollege meines Opas an der Schule. Günter Schwarberg ist nach einer Vielzahl von journalistischen Stationen beim Stern gelandet. Er hat wichtige Bücher geschrieben, wie zum Beispiel Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm oder Das Getto: Spaziergang in die Hölle (über unseren Vegesacker Kriegsverbrecher Többens), von solcher Bedeutung ist Es war einmal ein Zauberberg nicht. Dies ist der Versuch, die reale Basis von Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu finden, vom Bechstein Klavier (Fabrikationsnummer 112629) bis zum Bleistift, den Madame Chauchat dem jungen Hans Castorp leiht. Aber Schwarberg wäre nicht Schwarberg, wenn er nicht auch Politisches in das Buch brächte. Und so fehlt hier auch die Ermordung von Wilhelm Gustloff in Davos und die Vertreibung Thomas Manns aus Deutschland nicht.
Hotels interessieren mich eigentlich nicht wirklich - literarische Hotels schon. Als kleiner Pöks bin ich in Bad Essen kilometerweit durch den Wald gestapft, um das Waldhotel (links) oben auf dem Berg anzugucken. Das erschien mir Ende der vierziger Jahre wie die große Welt, es kann auch heute nicht verleugnen, dass es aus der großen Zeit der Hotels um 1900 stammt. Wahrscheinlich finde ich solche Hotels so eindrucksvoll, weil sie die Reste von einer vergangenen Epoche sind. Ich war schon mal in Paris im George V, als es noch kein Four Seasons Hotel war, ich habe schon einmal vor einem halben Jahrhundert im Herbst all die vor sich hin modernden Luxushotels an der holländischen und belgischen Nordseeküste abgeklappert. Ich hätte sie photographieren sollen. Sah alles ein wenig aus wie Bruges-la-morte. Hotels heute, vor allem die mit der postmodernen Innenausstattung, finde ich todlangweilig. Es ist sicherlich gut zu wissen, dass die Currywurst im Adlon 16,50 € kostet, aber ich weiß auch, dass feine Leute heutzutage in ganz alten Pensionen absteigen, die nie im Internet zu finden sind. Das Grand Hotel St. Moritz ist 1944 abgebrannt, da bleibt nur noch das Grand Hotel Abgrund.
Great article! I'm currently writing my bachelor's thesis on historic luxury hotels, and ghostwriter oesterreich has been a huge help. It made collecting all the detailed information and organizing it much easier. This piece on the Grand Hotel provided fantastic insights. Thanks for sharing!
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