Montag, 23. September 2013

Schweigen


Regt sich heute noch jemand auf? Vor genau fünfzig Jahren schon, da kam Ingmar Bergmans Film Das Schweigen ins Kino. Schwarzweiß, drei Personen, zwei Frauen und ein kleiner Junge, eine fremde Stadt, geheimnisvolle Räume, kaum Handlung. Ein typischer Bergman Film. Hervorragend photographiert, ein Filmkunstwerk. Aber das Filmkunstwerk interessierte die deutsche Öffentlichkeit kaum, irgendwie war das für uns Schweinkram. Der kam ja immer aus Schweden.

Was hatte man sich nicht zwölf Jahre zuvor über die Nacktszene mit Ulla Jacobsen in ➱Sie tanzte nur einen Sommer aufgeregt. Der Untergang des Abendlands schien gekommen. Das mit poetischen Bildern und maßvoller Freizügigkeit für die freie Liebe eintretende Filmdrama erregte durch eine für seine Zeit unübliche Nacktszene moralische Entrüstung und wurde dadurch zum Publikumserfolg, schreibt heute das International Filmlexikon, das der katholischen Kirche nahesteht. Man möchte nicht wissen, was die katholische Kirche damals sagte. Wenn Sie doch alles über die Rezeption des Films wissen wollen, lesen Sie hier von ➱Claudia Beindorf 'Sie tanzte nur einen Sommer': Konstruktion und Rezeption von Stereotypen.

Bei den schwedischen Regisseuren schien die skandinavische Sommersonne, Mittsommernacht inklusive, in den fünfziger Jahren ständig. Ingmar Bergman dreht damals eine Reihe von Sommerfilmen wie Einen Sommer lang (1951), Die Zeit mit Monika (1953), Lektion in Liebe (1954) und Das Lächeln einer Sommernacht (1955), aber die regten niemanden auf. Doch Das Schweigen, das regte auf. Die Hexenjagden in Salem waren nichts gegen das, was jetzt im deutschen Blätterwald stattfand (lesen Sie doch ➱hier einmal einige Leserbriefe). Viele regten sich darüber auf, dass sich die Filmkritiker nicht genügend aufregten. So ➱Marcel Reich-Ranicki in der Zeit, der sich weniger über die Nacktszenen enragierte als über die Verehrung von Ingmar Bergman: Wie dem auch sei: Ich protestiere nicht gegen Bergman und sein 'Schweigen'. Ich protestiere gegen die deutsche Bergmanie. Man will aus diesem Regisseur einen Heiligen machen, einen Gottsucher, einen Seher, einen Propheten. Er ist aber nicht mehr und nicht weniger als ein hochbegabter, wenn auch sehr überschätzter, raffinierter und bisweilen zynischer Filmkünstler, ein Mann mit Routine und Instinkt für das Gängige. Nicht ihn muß man bekämpfen – nicht den Heiligen, sondern seine Narren.

Es regnete Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft. Sogar der Deutsche Bundestag beschäftigte sich am 19. März 1964 mit dem Film. Was wolle die Bundesregierung gegen unsittliche Filme und die augenscheinliche Lockerung der Spruchpraxis der Freiwilligen Selbstkontrolle unternehmen? Die Bundesregierung wolle keine Zensur, wie Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) versicherte, er hatte da aber eine etwas seltsame Begründung: Das Moment des Abschreckenden, Abstoßenden, des Schauderns vor tierischer Triebhaftigkeit scheint der Ausschuss als so beherrschend angesehen zu haben, dass eine etwaige spekulative Laszivität oder Schmuddligkeit dabei überdeckt wird. Peter M. Ladiges kommentierte das in der Zeit mit dem Satz: Nichts zeigt die innere Verlogenheit unserer bundesrepublikanischen Welt deutlicher als die Zustimmung jener Zensurstellen zu erotischen Szenen, nur weil sie unerotisch seien und Abscheu erregen. Es ging übrigens um 'Sexszenen', die zusammengezählt ganze 108 (in Worten: einhundertundacht) Sekunden ausmachten. Bei einer Spielfilmlänge von 95 Minuten. Diese Relation beleuchtet sicher die groteske damalige Diskussion.

Immerhin befand der Innenminister (oder sein Ghostwriter), dass der Film eine wichtige Aussage zur menschlichen Situation in unserer Zeit sei. Die Katholische Filmkommission (unterstützt erstaunlicherweise von dem Magazin Stern - eine seltsame Allianz), empfahl ihren Gäubigen, nicht in den Film zu gehen. Das ging nicht so weit, wie ein Pfarrer in Arnstein, der Jahre zuvor jeder Familie ein Jahr Gottesdienst verweigern wollte, die die einen von der Katholischen Filmkommission als abzuraten (Note 3) oder oder gar abzulehnen (Note 4) eingestuften Film anguckte. Those were the days. Dem allen zum Trotz verlieh die Filmbewertungsstelle Wiesbaden das Prädikat besonders wertvoll. In der Zeitschrift Filmkritik (in der schon Martin Ripkens und Wilfred Berghahn zuvor über den Film geschrieben hatte) hat Rainer Heynig 1965 unter dem Titel Bergmans 'Schweigen' und unsere Tabus die bundesrepublikanischen Reaktionen nachgezeichnet. Inzwischen gibt es im Internet aber auch eine interessante ➱Seite zu dem Thema.

Es sind jetzt überall Sittenwächter in Deutschland. 1957 wurde in Bad Godesberg ein Verein zur Selbstkontrolle der deutschsprachigen Unterhaltungsliteratur gegründet, der als erstes versuchte, dem Rowohlt Verlag den Verkauf von ➱James Mallahan Cains Roman The Postman Always Rings Twice zu verbieten. Dank des Gutachtens des renommierten Literaturprofessors Wilhelm Emrich konnte Rowohlt den Prozess gewinnen. Wir müssen bei der ganzen Frage der Zensur bedenken, dass erst mit dem Urteil im Fall Joseph Burstyn, Inc. v. Wilson im Jahre 1952 durch den Supreme Court in den USA dem Film Kunstfreiheit zugestanden worden war. In England wird erstaunlicherweise erst 1968 durch den Theatres Act die Macht des Lord Chamberlain aufgehoben, Theaterstücke zu zensieren.

Im Bereich des deutschen Films wurde auf Inititative eines Politikers namens Adolf Süsterhenn (den Heinrich Böll als Professor Lüsterhahn verspottete) die Aktion Saubere Leinwand gegründet. Denn wir wollen unsere Leinwände sauber haben, am besten ajaxsauber. Denn es kann nicht angehen, dass unter dem Deckmantel der Kunst die Leinwand beschmutzt wird. Die SPD Zeitung Vorwärts bemerkte über die Diskussion des Bergman Films, dass es zwar auch in anderen Ländern Aufregungen gegeben hätte, daß es aber nirgendwo zu einer Debatte im Parlament kommt wie bei uns, zu wiederholten scharfen Erklärungen höchster kirchlicher Autoritäten, zu Boykottmaßnahmen, zu Verboten und gerichtlichen Auseinandersetzungen.

Der Regisseur selbst beteiligte sich nicht an dieser Diskussion, er sagte nur Über 'Das Schweigen' will ich überhaupt nicht diskutieren. Ich finde in dieser Diskussion ist der Film selbst meine einzige Antwort. Da will ich wirklich schweigen. Hatte er Wittgensteins Satz Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen gelesen? Die meisten Filmkritiker (und natürlich auch Reich-Ranicki, der kein Filmkritiker war) hatten gemerkt, dass es in diesem Film eigentlich um alles andere ging, aber nicht um Sex. Denn Das Schweigen war der dritte Teil zu dem, was Filmhistoriker heute Bergmans Glaubenstrilogie nennen: Wie in einem Spiegel (1961), Licht im Winter (1962) und eben Das Schweigen. Und das war unter dem Deckmantel der Kunst wahrscheinlich noch viel bedrohlicher als Sex. Das mit der Trilogie haben sich die Filmkritiker nicht ausgedacht, Bergman selbst hatte 1963 die Drehbücher unter dem Titel En filmtrilogi erscheinen lassen.

Den Anfang mit einer theologischen Interpretation hatte ➱Martin Ripkens gemacht: Worte und Bilder wie diese – offenbare Indizien der Einsamkeit, des Ekels und der Angst – fordern den Kritiker geradezu heraus, von Entfremdung zu reden. Ingmar Bergman aber hat mit diesem Begriff, zumindest solange wir ihn rein innerweltlich und rein gesellschaftsbezogen begreifen, nichts im Sinn. Ihm ist es zu tun um die Situation des Individuums in einer Welt, auf der das Schweigen Gottes lastet. Die Frage, die ihn quält, ist die Frage Christi am Kreuze: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Bergmans jüngsten Film anders zu verstehen, ist unmöglich. Jeder, der „Wie in einem Spiegel“ und „Licht im Winter“ gesehen hat, erkennt untrüglich, daß hier radikal alle Konsequenzen der beiden voraufgegangenen Werke gezogen werden. Nachdem „Licht im Winter“ uns mit einem Menschen konfrontierte, der sich verlassen fühlt von Gott, der nicht mehr glauben kann und doch so tut, als wäre sein Weltbild noch unzerbrochen – nach jener Herausforderung konnte nur noch dieser Film kommen. Das „Schweigen“ ist ein einziger Schrei und ein Skandal in des Wortes tiefster Bedeutung. Wir sind aufgefordert, zu entscheiden, ob dieser Schrei, dieser Skandal, uns angeht. Das war nun genau das, was Reich-Ranicki nicht haben wollte. Für ihn blieb Bergman ein überschätzter, raffinierter und bisweilen zynischer Filmkünstler.

Der Film brachte fast elf Millionen Zuschauer an die Kinokassen. Mich auch. Ich weiß noch genau, wie ich damals mit meiner blonden Freundin (die glatt für eine Schwedin hätte durchgehen können) an der Kasse zwei Karten verlangte. Und erfuhr, dass die Vorstellung ausverkauft war. Und für die nächsten Tage auch. Wir haben gelacht und sind in ein anderes Kino gegangen. Und haben ➱Liebe mit Zwanzig gesehen, passte irgendwie auch.

Zwanzig Jahre nach Das Schweigen kamen wieder massenhaft Schwedinnen auf die mehr oder weniger sauberen Leinwände. Aber die hießen jetzt nicht Ulla Jacobsen, Harriet Anderson oder Gunnel Lindblom, sondern Marianne Aubert, Jane Baker und Brigitte Lahaie. Und die spielten in Filmen, die 6 Schwedinnen von der Tankstelle6 Schwedinnen auf Ibiza6 Schwedinnen hinter Gittern und 6 Schwedinnen auf der Alm hießen. Produziert von einem Schweizer namens Erwin C. Dittrich. Keine Filmkunstwerke, nur Softpornos. Regten sich Reich-Ranicki und die katholische Kirche auf? Keine Spur, wir waren jetzt eine permissive society, die sexuelle Revolution hatte stattgefunden. Zu deren Vorreiter Ingmar Bergmans Film wohl ungewollt geworden war, obgleich er ansonst nichts damit zu tun hatte. Es hatte sich übrigens schon im Jahre 1971 niemand mehr über den Film aufgeregt, als er zum ersten Mal im deutschen Fernsehen gezeigt wurde.

L' Enfer c'est les autres, heißt es in Sartres Huis Clos. Dieser Film ist Bergmans Version von Sartres Hölle. Du kannst es einfach nicht aushalten, wenn nicht alles lebenswichtig bedeutungsvoll ist. Wenn nicht alles mit tiefgründiger Absicht geschieht, sagt Anna zu ihrer sterbenden Schwester Ester. Vielleicht kann man den Satz mal dafür gebrauchen, um den Filmkritikern und selbsternannten Filmkritikern zu raten, auf dem Teppich zu bleiben. In England und Amerika ist die Diskussion des Filmes - wenn man die führenden Filmkritiker betrachtet - ganz anders gelaufen als hier. Einmal davon abgesehen, dass der Film aus kommerziellen Gründen für die Amerikaner bewusst und kalkuliert als schwedischer Sexfilm offeriert wurde, was man an diesem ➱Trailer sehr schön sehen kann. In dem Trailer sind übrigens beinahe alle Sexstellen des Films enthalten.

Mit ➱Pauline Kael verbindet mich eine Art Hassliebe. Doch manchmal kann man ihr nicht widersprechen. Und deshalb zitiere ich einmal, was sie im New Yorker im Jahre 1973 über Bergman schrieb: Bergman is not a playful dreamer, as we already know from nightmarish films like 'The Silence', which seems to take place in a trance. He apparently thinks in images and links them together to make a film. Sometimes we may feel that we intuit the eroticism or the fears that lie behind the overwhelming moments in a Bergman movie, but he makes no effort to clarify. In a considerable portion of his work, the imagery derives its power from unconscious or not fully understood associations; that's why, when he is asked to explain a scene, he may reply, "It's just my poetry." Bergman doesn't always find ways to integrate this intense poetry with his themes. Even when he attempts to solve the problem by using the theme of a mental breakdown or a spiritual or artistic crisis, his intensity of feeling may explode the story elements, leaving the audience moved but bewildered. 

Like Bergman, his countryman Strindberg lacked a sovereign sense of reality, and he experimented with a technique that would allow him to abandon the forms that he, too, kept exploding. In his author's note to the Expressionist 'A Dream Play', Strindberg wrote: 'The author has sought to reproduce the disconnected but apparently logical form of a dream. Anything can happen; everything is possible and probable. Time and space do not exist; on a slight groundwork of reality, imagination spins and weaves new patterns made.'

Die sterbende Ester gibt dem kleinen Johan einen Brief: Johan! Es ist wichtig, verstehst du! Du mußt ihn genau lesen. Es ist alles wie...Du wirst es verstehen. Johan kann die fremde Sprache nicht entziffern. Mit dem Satz Johans Gesicht ist bleich von der Anstrengung, die fremde Sprache zu verstehen - die geheime Botschaft endet das Drehbuch. Der kleine Johan ist nicht allein, wir Zuschauer verstehen den Film auch nicht, wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.

Lesen Sie auch: ➱Schwedinnen, ➱Ingmar Bergman

1 Kommentar:

  1. Zu Adolf Süsterhenn.
    Arno Schmidt hat seiner Erzählung "Caliban über Setebos" folgendes Zitat vorangestellt:
    GEORG DÜSTERHENN entertäind se Mjuses - (tschieper Bey se Lump) - ietsch Wonn of semm re-worded him for hiss hoßpitällittitie wis Sam Bladdi mäd-Teariels.
    Ich habe mich immer gefragt, ob er mit diesem sprachlich vieldeutigen Text jenen katholischen Sauberkeitsapostel persiflieren wollte.

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