Donnerstag, 26. September 2013

Kuhreigen


In dem schönen Roman von Friedrich Theodor Vischer Auch Einer findet sich ziemlich am Anfang folgendes Zitat: Fehlt ein Abschreckungs-Bädeker, daß es wieder einsam würde und stille Menschen ein vertrautes Wort mit der Natur reden könnten oder von ihr anhören. Wollte auch morgens den Kerl nicht erleben, der in alter Schweizertracht den Kuhreigen bläst zum Sonnenaufgang, dann im Gasthof sein Trinkgeld einzieht; daher ab, fort, weg noch in der Nacht! Da ist er der Kuhreigen. Sagt Ihnen jetzt nichts? Als ich den ➱Post über Vischer schrieb, war ich versucht, an der Stelle einen kleinen Exkurs über den Kuhreigen zu machen, habe es dann aber doch gelassen. Weil ich mir dachte, dass ich den Kuhreigen noch eines anderen Tages gebrauchen könnte. Heute zum Beispiel.

Vischers Roman ist nicht das einzige Werk der Literatur, in der er vorkommt. In Jean Pauls Selbsterlebensbeschreibung können wir lesen: Nur in Dörfern – nicht in der Stadt, wo es eigentlich mehr Nacht- als Tagarbeiten und Freuden gibt – hat das Abendläuten Sinn und Wert und ist der Schwanengesang des Tags; die Abendglocke ist gleichsam der Dämpfer der überlauten Herzen und ruft wie der Kuhreigen der Ebene die Menschen von ihren Läufen und Mühen in das Land der Stille und des Traums. Das Wort Kuhreigen (auch Chüereihe, Kühreihen oder ranz-de-vaches) ist schon alt, als einem den kuoreien pfyfen wird es 1531 erstmals schriftlich festgehalten. Woraus wir folgern können, dass er wohl auf einer Sackpfeife, Schalmei oder Querpfeife gespielt wurde. Oder einem Alphorn. Und offensichtlich gab es alle möglichen Kuhreigen Melodien, bevor im 18. Jahrhundert Liedtexte dazu kamen.

Und bevor sich die Komponisten seiner annahmen. Also zum Beispiel Friedrich Silcher, Johannes Brahms und Gustav Mahler (hören Sie ➱hier Dietrich Fischer-Dieskau). Da ist ein Text, in dem der Kuhreigen vorkommt, schon zu einem Volkslied geworden:

Zu Straßburg auf der Schanz,
Da ging mein Trauern an;
Das Alphorn hört' ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt ich hinüberschwimmen,
Das ging ja nicht an.

Ihr Brüder allzumal,
Heut' seht ihr mich zum letztenmal;
Der Hirtenbub ist nur schuld daran,
Das Alphorn hat mir's angetan,
Das klag ich an.

Der Text folgt im 19. Jahrhundert meistens Clemens Brentano, der das Lied in Des Knaben Wunderhorn präsentiert hatte. Heinrich Heine konnte sich in Die romantische Schule in Deutschland vor Begeisterung gar nicht mehr einholen: Welch ein schönes Gedicht! Es liegt in diesen Volksliedern ein sonderbarer Zauber. Die Kunstpoeten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen, in derselben Weise, wie man künstliche Mineralwässer verfertigt. Aber wenn sie auch durch chemischen Prozeß die Bestandteile ermittelt, so entgeht ihnen doch die Hauptsache, die unersetzbare sympathetische Naturkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks.

Bei all dem Enthusiasmus müssen wir natürlich leider einwenden, dass auch dieses Lied eine Fälschung ist. Seit der ➱Ossian Fälschung wird bei der Sammlung nationaler Lieder und Geschichten gefälscht, was das Zeug hält. Auch unsere Brüder Grimm sind nicht frei davon. Und unser Lied, wo der Soldat wegen der Klänge des Alphorns aus Heimweh desertiert, sah in einer viel früheren Fassung ganz anders aus:

Zu Straßburg auf der Schanz,
Da ging mein Trauern an;
da wollt ich den Franzosen desertiern
und wollt es bei den Preußen probiern

ei, das ging nicht an.


Man wechselt den Arbeitgeber. Oder den Tyrannen. Es ist aber keine Rede von einem Schweizer. Und auch der das Alphorn blasende Hirtenbub und die Sehnsucht sind nicht da, stattdessen - wie es beim Kommiss so ist - ein strenger Korporal: 

Ihr Brüder allzumal,
Heut' seht ihr mich zum letztenmal;
Unser Korporal, der gstrenge Mann
ist meines Todes Schuld daran

Das klag ich an.


Was ist passiert? Es hat hier eine Vermischung mit einer ganz anderen Geschichte stattgefunden. Und da müssen wir mal eben Jean Jacques Rousseau mit seinem Dictionnaire de la musique zitieren, wo es heißt (ich kürze das lange Zitat mal ab): J’ai ajouté dans la même Planche le célèbre Rans-des-Vaches, cet Air si chéri des Suisses qu’il fut défendu sous peine de mort de le jouer dans leurs Troupes, parce qu’il faisoit fondre en larmes, déserter ou mourir ceux qui l’entendoient, tant il excitoit en eux l’ardent desir de revoir leur pays. Da sind also Schweizer Soldaten in französischen Diensten. Das sind sie schon seit Karl dem Kühnen, die Schweizer Kantone verkaufen und vermieten ihren Überschuss an männlicher Bevölkerung (die sogenannten Reisläufer) in ganz Europa. Sodass sich in manchen Schlachten wie in ➱Malplaquet Schweizer Soldaten gegenüberstehen.

Und die Schweizer Söldner fernab der Alpen hören gerne das Lied vom Kuhreigen. Und dann werden sie melancholisch und heimwehkrank und desertieren. Und deshalb dürfen sie bei Todesstrafe dieses Lied nicht singen oder spielen. So oder so ähnlich geht eine Geschichte, die seit dem frühen 18. Jahrhundert belegt ist. Die Schweizergarde in Paris verteidigt in der Revolution das Königshaus. Und wie dankt man ihnen? Marie Antoinette soll einen Soldaten gezwungen haben, das Lied zu singen, dann hat sie ihn angeblich hinrichten lassen. Das ist sicherlich revolutionäre Propaganda, Marie Antoinette ist ja für jede Verleumdung ein dankbares Objekt. Aber Tatsache ist, dass die Gardes Suisses große Verluste bei der Verteidigung der Tuilerien gehabt haben.

Die Geschichte mit den heimwehkranken Reisläufern ist auch ein Stück Medizingeschichte. 1688 hatte der Arzt Johannes Hofer aus Basel die Schweizerkrankheit in seiner Schrift De Nostalgia vulgo Heimwehe oder Heimsehnsucht beschrieben. Das Heimweh, das die Romantik auszeichnet, hatte es zuvor nicht gegeben. Und wenn das kleine Männchen aus dem Ricola Werbespot uns fragt Wer hat's erfunden? müssen wir antworten: Natürlich die Schweizer. Neben Johannes Hofer werden noch zwei berühmte Gelehrten den morbus helveticus beschreiben. So Theodor Zwinger in De Patropatridalgia (1714) und Johann Jacob Scheuchzer in De Nostalgia Helvetiorum (1731). Wir lernen daraus, dass die Schweizer immer Söldner sind und aus Heimweh immer singen. Wenn sie im eisigen Wasser der ➱Beresina stehen, dann singen sie natürlich das ➱Beresinalied. Aber sonst singen sie immer den Kuhreigen. Ein Lied der Sehnsucht. Saudade.

Die Cantilena Helvetica der Kühe-Reyen dicta hat es auch in die Welt der Oper geschafft. 1809 erschien Joseph Weigls Singspiel Die Schweizer Familie. Darin importiert ein deutscher Adliger einen Schweizer Bauern, der ihm in den Alpen das Leben gerettet hat, mitsamt Familie nach Deutschland. Doch die junge Tochter Emmeline ist unglücklich, sie sehnt sich nach ihrem geliebten Hirten, der in der Schweiz verblieben ist. Ihre Liebeskrankheit steigert sich bis zum Wahnsinn. Und wodurch wird der geheilt? Sie ahnen es schon, natürlich durch das Erklingen des Kuhreigens. In seiner Zeit war das Singspiel des Salieri Schülers Weigl sehr erfolgreich, heute ist es beinahe vergessen. Ist aber noch als CD lieferbar. Kulturgeschichtlich bleibt Weigls Schweizer Familie von ➱Bedeutung, weil sie den Mythos von der glücklichen Schweiz begründete.

Davon lebt Helvetia ja immer noch. Sie exportieren heute keine Soldaten mehr, sie brauchen sie selbst. Sie geben mehr Geld als jedes andere Land der Erde für ihren Verteidigungshaushalt aus. Wahrscheinlich haben sie Angst, dass - wie in Weigls Oper - deutsche Adlige kommen und Schweizer Familien entführen. Als ➱Peer Steinbrück der Schweiz mit der 7. Kavallerie im Fort Yuma, die man auch ausreiten lassen kann drohte, hätte er sich wohl besser mal den Schweizer Verteidigungsetat angeschaut. Und vielleicht hätte er auch besser einmal in ein Geschichtsbuch geschaut: die 7. Kavallerie war nie in Yuma stationiert. Und wodurch ist die 7. Kavallerie in die Geschichte eingegangen? Durch ein Massaker an Indianern am Washita River und durch ihren Untergang im ➱Gefecht von Little Big Horn.

Seine berühmteste Form hat der Kuhreigen allerdings nicht bei Weigl, sondern in der Oper Der Kuhreigen von Wilhelm Kienzl gefunden. Die Oper spielt während der französischen Revolution in Paris. Und natürlich sind Schweizer Soldaten dabei. Natürlich auch hübsche Frauen, die Sopran singen. Hören Sie doch einmal in die ➱Arie der Blanchefleur Ein Tanz war mein Leben - gesungen von Eva von der Osten im Jahre 1912 - hinein. Vielleicht wäre Kienzls Oper heute auch vergessen, wenn da nicht diese eine Stelle mit dem Kuhreigen wäre. Ach, hören wir doch einmal ➱Fritz Wunderlich zu. Ich kriege da jedes Mal das Heulen. Obgleich ich kein Schweizer bin und mein Vaterland mich nicht in die Fremde verkauft hat.

1 Kommentar:

  1. Ich hatte mich schon arg gewundert, wie man in Straßburg das Alphorn hätte hören können. Selbst die Exemplare, die irgendwann von Exilschweizern in die Vogesen gebracht wurden, hört man an der Esplanade nicht, und die Schweiz ist doch arg weit weg. Der ursprüngliche Text dagegen erinnert an die feindliche Übernahme der Reichsstadt durch die Franzosen.

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