Dienstag, 22. Dezember 2020

Futurismus


Die Geschichte des Futurismus beginnt mit einem Autounfall. Ein Gruppe von reichen Nichtsnutzen ist mit dem Auto verunglückt, sie liegen alle am frühen Morgen stockbesoffen im Straßengraben. Italienische Fischer heben den Wagen wieder auf die Straße. Passiert ist niemandem etwas. Aber für den Millionärssohn Filippo Tommaso Marinetti, der am Steuer gesessen hatte, war es eine Art Erweckung.

Den Isotta Fraschini, der beinahe hundert PS hatte, hatte sich Marinetti gerade gekauft. Sein Fahrlehrer hatte ihm geraten, sich einen
Chauffeur zu nehmen, aber davon wollte der junge Dichter nichts wissen. Hatte er doch gerade die Fahrerlaubnis erhalten. Und so fährt er am frühen Morgen die leere Via Domodossola vor Mailand entlang, und da sind plötzlich zwei Radfahrer: im gleichen Augenblick sah ich zwei Radfahrer auf mich zukommen, die mich ins Unrecht setzten und vor mir zauderten wie zwei Überlegungen, die beide überzeugend und trotzdem kontradiktorisch sind. Ihr dummes Dilemma spielte sich auf meinem Gelände ab... Wie dumm! Puh!... Ich bremste hart und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern nach oben, in einen Graben...
      Oh, mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfte gierig deinen stärkenden Schlamm, der mich an die heilige, schwarze Brust meiner sudanesischen Amme erinnerte... Als ich wie ein schmutziger, stinkender Lappen unter meinem auf dem Kopf stehenden Auto hervorkroch, fühlte ich die Freude wie ein glühendes Eisen erquickend mein Herz durchdringen!
      Ein Haufen mit Angelruten bewaffneter Fischer und gichtbrüchiger Naturforscher lärmte schon um das Wunder herum. Mit geduldiger und peinlich genauer Sorgfalt stellten diese Leute große Gerüste auf und legten riesige Eisennetze aus, um mein Auto wie einen großen gestrandeten Haifisch zu fangen. Langsam tauchte der Wagen aus dem Graben auf und ließ wie Schuppen seine schwere Karosserie des gesunden Menschenverstandes und seine weichen Polster der Bequemlichkeit auf dem Grund zurück.
      Alle glaubten, mein schöner Haifisch wäre tot, aber eine Liebkosung von mir genügte, um ihn wieder zu beleben; schon ist er zu neuem Leben erwacht, schon bewegt er sich wieder auf seinen mächtigen Flossen!
      Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt – diesem Gemisch aus Metallschlacke, nutzlosem Schweiß und himmlischem Ruß – zerbeult und mit verbundenen Armen, aber unerschrocken, diktierten wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde:

Und nach dieser Präambel kommt das Manifest des Futurismus, in dem es heißt: Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . .. ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt. Als das Manifest im Februar 1909 veröffentlicht wird, gab es dieses Auto dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, noch nicht. Die Autos sahen eher so aus wie Henry Fords Tin Lizzie. Aber die Firma Isotta Fraschini hatte 1909 schon einen Rennwagen im Programm, das wird Marinetti gewusst haben.

Schon vier Jahre vor dem Manifest des Futurismus hatte Marinetti den Rennwagen bedichtet;

Feuriger Gott aus stählernem Geschlecht,
Automobil, das fernensüchtig
geängstet stampft, in scharfen Zähnen das Gebiß!
Japanisch-fürchterliches Untier, schmiedefeueräugig,
mit Flammen und mit Ölen aufgenährt,
nach Horizonten gierig und nach Sternenbeute,
des Herzens teuflisches Töff-Töff befrei ich dir
und deine riesigen Pneumatiks
zum Tanze auf der Erde Straßen.
Ich lasse den metallenen Zügel los und du
stürmst trunken in befreiende Unendlichkeit!...

Die Verherrlichung der mechanical bride geht noch weiter (das ganze Gedicht finden Sie hier), es ist sicher kein Zufall, dass Marinetti im Ersten Weltkrieg in ein Radfahrer- und Automobilisten-Bataillon eintrat. Der Krieg ist für Marinetti (hier in der Mitte neben den jungen starken Futuristen) ebenso schön wie der Feurige Gott aus stählernem Geschlecht. In dem Manifest des Futurimus, das eine Art intellektueller Amoklauf ist, schreibt er: Wir wollen den Krieg verherrlichen — diese einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.

Obgleich er den Ersten Weltkrieg kennengelernt hat (in dem er sich hier für den Photographen in Szene setzt), haben die Schrecken des Krieges auf unseren Futuristen keine Auswirkungen. In seinem Manifest zum Äthiopien Krieg kämpft er für eine Ästhetisierung des Krieges: Seit siebenundzwanzig Jahren erheben wir Futuristen uns dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird … Demgemäß stellen wir fest: Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft. Dichter und Künstler des Futurismus … erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik … von ihnen erleuchtet werde!

Glaubt er wirklich den Unsinn, den er da schreibt? Mussolini hat ihn einmal einen extravaganten Clown, der Politik spielt und den niemand, ich am wenigsten, ernst nimmt genannt. Und ein Clown war er sicher. Lesen Sie doch einmal sein Gedicht Zang tumb tumb, ein Höhepunkt der futuristischen Lyrik. Es gibt Dinge, bei denen er Recht hat. Zum Bespiel, wenn er 1913 in Die drahtlose Einbildungskraft schreibt (1913): Der Futurismus gründet sich auf die vollständige Erneuerung der menschlichen Sensibilität als Folge der großen Entdeckungen [...] Diejenigen, welche heutzutage Dinge benutzen wie Telephon, Grammophon, Eisenbahn, Fahrrad, Motorrad, Ozeandampfer, Luftschiff, Flugzeug, Kinematograph und große Tageszeitungen, denken nicht daran, daß diese verschiedenen Kommunikations-, Verkehrs- und Informationsformen auch entscheidenden Einfluß auf ihre Psyche ausüben. Ich habe das schon in dem Post Sonia Delaunay zitiert. Dies Bild hier zeigt einen der Höhepunkte der Futurismus, das Buch La cucina futurista, das Marinetti mit seinem Weggefährten Fillia herausgebracht hat. Der Futurist wird nicht mehr mit Messer und Gabel essen, und er wird vor allem keine Pasta mehr essen. Glücklicherweise wird sich die La cucina futurista in Italien nicht durchsetzen. Und Venedig, dessen Paläste Marinetti abreißen und den Schutt im Canale Grande versenken will, kommt auch noch einmal davon.

Wenig von seinem großen Weltentwurf wird sich durchsetzen, und Marinetti hält sich selbst nicht an seine Lehren. Predigte er noch 1909 die Verachtung des Weibes, so ist davon nicht mehr die Rede, als er die futuristische Malerin Benedetta Cappa heiratet. Und dieses Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken, … Leitet den Lauf der Kanäle um, um die Museen zu überschwemmen! wird er nicht durchsetzen, wenn er italienischer Kultusminister wird. Aber seine Kriegsbegeisterung, die hat nie aufgehört. Der Mann, der im Ersten Weltkrieg Leutnant war, wird im Zweiten Weltkrieg mit sechsundsechzig Jahren noch als Oberstleutnant vor Stalingrad auftauchen.

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