Mittwoch, 11. August 2010

Die Harmonie der Welt


Am 11. August 1957 ist in München die Oper Die Harmonie der Welt uraufgeführt worden, der Komponist Paul Hindemith stand selbst am Pult (Ferenc Fricsay wurde durch eine Nervenentzündung am Arm vom Dirigieren abgehalten). Es ist eine lange Oper, bestimmt vier Stunden lag. Wirkt aber länger. Ich habe sie einmal gesehen, das ist schon 52 Jahre her. Da wurde sie im Theater am Goetheplatz in Bremen aufgeführt, wieder mit dem Komponisten am Dirigentenpult. Ich hatte eine Freikarte, da musste man natürlich hin. Hindemith kannte ich schon, weil der in dem Sommer manchmal bei uns Musikunterricht gegeben hatte. Er brauchte nämlich für seine Oper unseren Schulchor, der von dem Musiklehrer Ernst Meißner (im Bild oben) geleitet wurde. Der war damals sehr berühmt. War der erste deutsche Chor, der nach dem Krieg zu einem Eisteddfod nach Wales eingeladen wurde. Und im Gegenzug für den Chor gab Hindemith manchmal bei uns Musikunterricht, und wir bekamen die Freikarten für den 3. Juni 1958.

Vom Musikunterricht weiß ich nicht mehr so viel, aber ich weiß, dass Hindemith immer mit einem großen weißen amerikanischen Auto auf den Schulhof fuhr. Das hatte er aus dem amerikanischen Exil mitgebracht, bis 1953 hatte er ja noch in Yale unterrichtet. Die Einfahrt zum Schulhof war für ihn immer ein wenig schwierig, da  unser Hausmeister Kalle Klemm die Zufahrt zum Schulhof gezielt mit Mülltonnen blockierte, er hasste Autos auf dem Schulhof. Die brachten die Harmonie seiner Welt durcheinander. Wir hingen damals immer oben aus den Fenstern der Aula, um zu gucken, ob Hindemith es diesmal schaffen würde, mit seinem Straßenkreuzer durch die Zufahrt zu kommen, ohne Kalle Klemms Mülltonnen zu touchieren. Und so bleibt Paul Hindemith und die Harmonie der Welt in meinem Gedächtnis immer mit seinem weißen Straßenkreuzer und Kalle Klemms Mülltonnen verbunden. Das ist irgendwie sehr komisch.

In der Oper, deren Libretto Hindemith selbst geschrieben hat, kommen keine Mülltonnen und keine amerikanischen Straßenkreuzer vor. Dafür aber zwei Kaiser, und der Feldherr Wallenstein und Johannes Kepler. Und natürlich die Sterne. Und vierzig Streicher. Ich habe schon Mozart Opern gesehen, die weniger als die Hälfte an Streichern hatten. Sie merken schon aus diesen wenigen Sätzen, dass Paul Hindemith nicht zu meinen Lieblingskomponisten zählt. Ich muss auch vorsichtig sein, was ich sage. Mein Freund Peter in Hamburg, der dies bestimmt liest, findet die Oper großartig. Der hat damals auch im Chor mitgesungen. Ich nicht, weil Chormusik für mich etwas ist, wo ich nur mit den unsterblichen Worten eines Hollywoodregisseurs include me out sagen kann. Ich hatte auch zu dem Musiklehrer Ernst Meißner immer ein etwas getrübtes Verhältnis.

Als er aus dem Krieg zurückkam, hat er als erstes den Jugendchor wieder neu gegründet, den er schon vor dem Krieg am Lyceum geleitet hatte. Das war sozusagen eine Woche nach Kriegsende, die Proben wurden damals noch von US Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht. Aber nachdem der Chor, der zuerst noch ein reiner Mädchenchor war, in einem amerikanischen Lazarett deutsche Volkslieder gesungen hatte, wollten die Amerikaner ihn immer wieder hören. Und es gab auch keine Bewachung mit Soldaten mit Maschinengewehren mehr. Weihnachten 1945 trat man in Bremer Kirchen auf, alle Konzerte waren ausverkauft, und ab 1946 (da war der Chor ein gemischter Chor geworden) trat man regelmäßig im Radio auf.

Ernst Meißner war inzwischen vom Lyceum zum Gymnasium gewechselt (dafür brauchte man in unserem Ort nur über die Straße zu gehen), wo er eine Stelle als Musiklehrer hatte. So bedeutend er als Chorleiter war (und da erinnern sich heute noch hunderte dankbar an ihn), so wenig bedeutend war er als Musikpädagoge. Er ließ uns spüren, dass er zu Höherem berufen war und dass der Musikunterricht nur eine ungeliebte Brotarbeit für ihn war. Er hatte ein einfaches Notensystem: wer in seinem Chor war, bekam eine eins. Wer Klavierunterricht hatte oder ein Instrument spielte, bekam eine zwei. Der Rest eine drei oder, wenn man beim Schiffeversenken erwischt wurde, eine vier. Nein, der Musikunterricht interessierte ihn nicht. Man konnte auch überhaupt nicht mit ihm diskutieren, außer man war bei ihm im Chor. Zu denen war er immer nett. Nach 25 Jahren Chorarbeit bekam er das Bundesverdienstkreuz.

Ich habe bei ihm nichts, aber auch gar nichts gelernt. Bei meiner Klavierlehrerin schon, bei der Lektüre von Knaurs Operführer (mit einem Geleitwort von Hans Knappertsbusch) und den drei Rowohlt Bänden Ewiger Vorrat klassischer Musik auf Langspielplatten auch. So wenig Meißner uns beachtete, so wenig beachteten wir ihn. Er wußte schon, dass wir uns eigentlich nur für all das interessierten, was jetzt aus den amerikanischen und britischen Soldatensendern zu uns kam. Dass wir zuhause eher Jazzplatten hatten als Beethovens Eroica. Einmal hat er im Unterricht einen Musikerwitz erzählt, der für Musiker wirklich ganz witzig war, aber das ist das einzige, was ich aus seinem Unterricht erinnere. Natürlich weiß ich noch, wie wir alle bei Notendikaten geschummelt haben. Notendiktate (was ja der Schwachsinn par excellence ist) ergaben bei uns nur das Ergebnis, dass die ganze Klasse das absolute Gehör hatte. Dennoch habe ich den Musikunterricht an meiner Schule auch in guter Erinnerung, die schöne Geschichte mit Hindemith und den Mülltonnen jetzt einmal ausgenommen.

Und das liegt an einem Mann namens Hanns Eckerle, den wir für einige Jahre als Musiklehrer hatten. Der war eigentlich Korrepetitor an der Oper in Bremen, und er hatte in den fünfziger Jahren auch einige Opern in Bremen dirigiert. Unter anderem Gian Carlo Menottis Oper Der Konsul, die war damals ganz neu. Er war zwar auch kein begnadeter Pädagoge, aber er war ein guter Mensch. Wo Ernst Meißner sich als Herrenmensch inszenierte, blieb Hanns Eckerle still und bescheiden. Aber er hatte diese Liebe zur Musik, besonders zur Oper, die ansteckend wirkte. Er spielte ganze Opern auf dem Klavier durch, sang alle Rollen. Man brauchte bei ihm auch nicht auf den fürchterlichen Aulastühlen zu sitzen, man durfte um das Klavier herumstehen. Man konnte ihm auch Fragen stellen, die er geduldig beantwortete, mit Musikbeispielen.

Hanns Eckerle hätte alles dirigieren können, was Karajan dirigierte, er hatte seit den vierziger Jahren gute Kritiken als Dirigent bekommen. Aber er war irgendwie ein Verlierer im Musikgeschäft, weil er so sanftmütig war, und so war er froh, dass er diesen Teilzeitjob an unserem Gymnasium hatte. Die Öffentlichkeit will die Karajans haben, mit dem Kamelhaarmantel, dem Sportwagen, dem Flugzeug und dem französischen Dior Model als Frau. Wie lange hat Günter Wand dirigieren müssen, bis die Öffentlichkeit gemerkt hat, dass er ein guter Dirigent war? Ich hätte mir Hanns Eckerle auch niemals im Porsche vorstellen können. Sowas fuhr damals auch niemand in Bremen, wo der Gipfel des hansestädtischen Understatements ein schwarzer Volkswagen war.

Ich bin schon in der Zeit der Oberstufe ständig in die Oper gegangen, vor allem bei den Berlinfahrten, die vor einem halben Jahrhundert ja staatlich gefördert wurden. Fünfzig Mark für eine Woche Berlin, Unterbringung grauenhaft, aber sieben Tage Oper und Museen. Da holte man alles wieder rein, was die Eltern in den fünfziger Jahren als Notopfer Berlin auf jeden Brief kleben mussten. Der Berlin Soli als Briefmarke. Ich hätte ja gerne mit Ernst Meißner über das geredet, was ich in Berlin in der Oper gesehen hatte, aber niemand redete einfach so mit Meißner. Vor einem halben Jahrhundert konnte man sowieso nicht mit Lehrern reden, oder nur mit ganz wenigen. Und so redete man mit Freunden über Mozart oder über Jazz, man begann Platten zu sammeln, vor dem Plattenspieler mitzudirigieren. Und die Weiterbildung in der Musik wurde zu etwas Privatem. Ich weiß nicht, wer das Bonmot erfunden hat, dass schlechte Lehrer eine gute Schule sind. Vielleicht ist das auch nur einer dieser Sprüche, die sich auf den Klotüren der Schule finden. Aber es ist eine dieser elementaren Wahrheiten wie non vitae, sed scolae discimus. Ja, Sie haben es richtig gelesen, das ist das Original. Das non scholae, sed vitae discimus ist reine Studienratsromantik.

Die Oper Die Harmonie der Welt wird selten aufgeführt, wenn überhaupt, dann macht man das heute konzertant. Aber auch dann befriedigt es den Musikkritiker nicht so recht: Vielleicht war es genau der überzogene, kosmologisch überhöhte Anspruch, der das Werk als Ganzes scheitern lässt. Hindemith mag das gefühlt haben, als er in einer pathetischen Passacaglia für Chor und Orchester die irdischen Irrungen und Wirrungen der Guten und der Bösen in der Harmonie der Welt aufhebt. Nach über drei Stunden eine dröhnende Apotheose am Rande der Peinlichkeit, deren Erfolg nur die alte Zirkusweisheit bestätigt, dass die Elefantennummer am Schluss immer guten Effekt macht. Vor fünfzig Jahren hätte kein Kritiker diese despektierlichen Worte mit der Elefantennummer am Schluss gewagt.

Da hieß das bei der nordwestdeutschen Premiere der Oper noch: Diese schöne Aufführung hat eine breite Bresche in die Mauer geschlagen, die sich noch für viele Ohren um das Gebiet der modernen Oper erhebt. So las es sich allerdings nur in Bremen, für den Hamburger Spiegel war die Münchener Uraufführung eine kosmische Katastrophe. So heißt es da 1957 über Deutschlands zur Premiere angereiste Komponisten: Sie wurden zugleich Zeugen eines Debakels, das viele Kritiker unter kräftigen Beteuerungen ihres Respekts vor dem Komponisten nur mühsam, andere überhaupt nicht vertuschten. Bei dem Versuch, einige Wendepunkte aus dem Leben des Astronomen Johannes Kepler (1571 bis 1630) und gleichzeitig auch dessen Lehre von der Welt-Harmonie zu veropern, war ein wenig glückliches Werk zustande gekommen. Die Texte von Hindemiths Kepler-Oper sind auch für den gutwilligen Zuhörer kaum zu begreifen. die Handlung in seiner Oper läßt sich kaum überblicken, musikalisch ist das Werk mit allzu vielen Absichten befrachtet.

Während der Premiere in München tobte ein schreckliches Gewitter über der Stadt, sogar die Scheiben des Foyers des Prinzregenten Theaters gingen dabei zu Bruch. Das fordert einen Kritiker wie W.E. Süskind dann doch zu einer Parallele zur Sphärenmusik heraus: Es blieb dahingestellt, ob der Himmel nur zeigen wollte, daß er sich auf effektvolle musikalische Illustration immer noch besser versteht als der ehemals Frankfurter Meister, oder ob er mit seinem Donnerwort auszudrücken gedachte, es sei ungehörig, Keplers hohen Gedanken von der Harmonie der Welt überhaupt zu veropern, namentlich aber auf so bombastische Weise, wie hier geschehen.

In Bremen blieben die Himmel ruhig, die Norddeutschen mögen es nicht so dramatisch. Aber getreu der Devise, dass die Elephantennummer immer am Schluss kommt, habe ich natürlich noch etwas für Sie. Es ist ein Gedicht von Eduard Mörike, das Johann Kepler heißt:

Gestern, als ich vom nächtlichen Lager den Stern mir in Osten
Lang betrachtete, den dort mit dem rötlichen Licht,
Und des Mannes gedachte, der seine Bahnen zu messen,
Von dem Gotte gereizt, himmlischer Pflicht sich ergab,
Durch beharrlichen Fleiß der Armut grimmigen Stachel
Zu versöhnen, umsonst, und zu verachten bemüht:
Mir entbrannte mein Herz von Wehmut bitter; ach! dacht ich,
Wußten die Himmlischen dir, Meister, kein besseres Los?
Wie ein Dichter den Helden sich wählt, wie Homer von Achilles'
Göttlichem Adel gerührt, schön im Gesang ihn erhob,
Also wandtest du ganz nach jenem Gestirne die Kräfte,
Sein gewaltiger Gang war dir ein ewiges Lied.
Doch so bewegt sich kein Gott von seinem goldenen Sitze,
Holdem Gesange geneigt, den zu erretten, herab,
Dem die höhere Macht die dunkeln Tage bestimmt hat,
Und euch Sterne berührt nimmer ein Menschengeschick;
Ihr geht über dem Haupte des Weisen oder des Toren
Euren seligen Weg ewig gelassen dahin!


Und nachdem wir jetzt wirklich im Erhabenen angekommen sind, sozusagen in der Sphäre der Sphärenmusik, in der Hindemiths Oper sich aufhält, möchte ich noch mein Lieblingszitat von Erwin Panofsky anbringen. Der berühmte Kunsthistoriker war völlig allergisch gegen jeden Kult des Erhabenen. Als Ernst Kantorowicz nach einem Abend voller hitziger Diskussion über des Menschen eingeborenen Sinn für das Erhabene das Haus von Panofsky in Princeton verließ, sagte er: Wenn ich zu den Sternen aufblicke, empfinde ich meine eigene Sinnlosigkeit. Worauf Panofsky antwortete: Alles was ich empfinde, ist die Sinnlosigkeit der Sterne.

3 Kommentare:

  1. Ich möchte etwas hinzufügen, was in einer E-Mail von einem Klassenkameraden stand, die mich eben erreichte: "Ich schreibe, weil ich mich bei Dir dafür bedanken möchte für das, was Du über Hanns Eckerle geschrieben hast. Das, was er mit uns betrieben hat, ist nämlich das einzige, was ich vom Musikunterricht behalten habe. Ich hatte mich zwar schon ein wenig für Opern interessiert, aber seine Vorstellung am Flügel, wie er mit seiner etwas krächzenden Stimme sämtliche (!!!) Rollen sang, wie er sich Mühe gab mit uns, das werde ich nie vergessen. Und dass ich Zeit meines Lebens die Oper geliebt habe, verdanke ich zu einem großen Teil ihm. Und dann ist ein guter Lehrer schließlich doch derjenige, der seinen Schülern etwas fürs Leben mitgibt. Wie Hanns Eckerle eben. Auch seine menschliche, freundliche Art vergesse ich nicht; er war ein wenig versponnen, ein wenig linkisch. Aber wenn ich mich recht erinnere, haben wir das alle respektiert. Es hat zwar nicht jeder aufgepasst, aber die Unaufmerksamen störten nicht. Und ich kann mich nicht erinnern, dass jemand bei uns versucht hätte, ihn zu ärgern. Es ist schön, dass Du ihm ein kleines Denkmal gesetzt hast: wahrscheinlich ist es ein Denkmal, denn ich nehme an, dass er inzwischen nicht mehr lebt. Er hat diese Würdigung verdient."

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  2. Guten Tag, kann es sein, das ist der gleiche Hanns Eckerle, der 1957-64 den Instrumentalverein in Bremen geleitet hat (heute Bremer Orchestergemeinschaft). Ich mache gerade eine Liste der Dirigenten dieses Vereins.
    Juan María Solare
    Bremer Orchestergemeinschaft

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  3. Ja, das wird der gleiche Hanns Eckerle (*10.4.1910) sein. Er unterrichtete am Gerhard Rohlfs Gymnasium in Vegesack Musik und war auch Korrepetitor an der Bremer Oper.

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