Samstag, 17. Juni 2023

Siebzig Jahre

Immer, wenn ich dieses Bild sehe, frage ich mich, was aus der jungen Frau mit dem selbstgemalten Plakat geworden ist. Hat irgendjemand jemals ihre Geschichte aufgeschrieben? Siebzig Jahre ist es jetzt her, dass es in der DDR einen Volksaufstand gab. Bis zur Wiedervereinigung 1990 war der Tag als Tag der deutschen Einheit ein Nationalfeiertag der Bundesrepublik Deutschland; ein Gedenktag ist er weiterhin. Die Gedenkstunde des Jahre 2023 war schon gestern, ich weiß nicht, weshalb man das nicht am 17. Juni macht. Der Bundeskanzler Olaf Scholz hat auch daran teilngenommen. An den 17. Juni 1953 wird er sich nicht erinnern können, er war damals noch gar nicht geboren.

Aber ich erinnere mich noch genau an den Tag. Es war ein schöner Frühsommertag. Ich spielte auf der Straße, bis der Malermeister Wenzel vorbeikam und sagte: Und jetzt kommen die Panzer. Ich wußte nicht, was er meinte und ging ins Haus. Opa saß am Radio. Ich setzte mich zu ihm, und Opa erklärte mir die Welt

In seinen Buckower Elegien schrieb Bertolt Brecht nach den Ereignissen;

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Das klingt nach Kritik am Staat, aber am 17. Juni überlegt sich Brecht ganz ernsthaft, jetzt demonstrativ in die SED einzutreten. Und er schreibt einen Brief an Ulbricht:

Werter Genosse Ulbricht,
die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der sozialistischen Einheitspartei ihren Respekt zollen.
Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen.
Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.
Ihr
Bertolt Brecht

Das Neue Deutschland druckt einige Tage später nur den letzten Satz des Briefes ab. Vier Jahre nach dem Volksaufstand, kurz vor seinem Tod, schreibt Louis Fürnberg ein Gedicht gegen Brecht:

Das schreibt und verkündet sein Unbehagen 
und bläht sich mit Benn und Kafka und Proust 
und fordert und konspiriert und schmust. 
Und ist langweilig. Kaum zu ertragen, 
gedankenarm, ohne eigenen Ton,  
und schreit, wenn man's nicht druckt: 'Inquisition!' 
Und ist anspruchsvoll und produziert Ersatz  
und sinniert sich eins ins Säuseln des Winds  
und ist für die Katz und schreibt für die Katz. 
Provinz, Provinz und nochmals Provinz! 

Louis Fürnberg kennt man heute nicht mehr so sehr, aber vor siebzig Jahren, da kannte ihn jeder in dem Staat, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte und für andere nur die Sowjetische Besatzungszone war. Weil er dieses Lied geschrieben hatte, das Die Partei heißt. Und das diesen schönen Refrain hat:

Die Partei, die Partei, die hat immer recht. 
Und Genossen, es bleibe dabei. 
Denn wer kämpft für das Recht, 
der hat immer recht gegen Lüge und Ausbeuterei. 
Wer das Leben beleidigt, ist dumm oder schlecht. 
Wer die Menschheit verteidigt, hat immer recht. 
So aus leninschen Geist wächst zusammengeschweißt 
Die Partei, die Partei, die Partei

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