Montag, 28. September 2020

mein Melville

Als Herman Melville am 28. September 1891 starb, waren von seinem Roman Moby-Dick, der vierzig Jahre zuvor erschienen war, wohl höchstens dreitausend Exemplare verkauft worden. Dreitausend Leser habe ich mit meinem Blog in drei Tagen. Der Link im ersten Satz dieses Posts führt zu einer Seite, die powermobydick heißt, eine annotierte Internetausgabe. Was hätte ich 1976 bei der Moby-Dick Ausstellung nicht dafür gegeben, wenn ich so etwas gehabt hätte. Aber immer, wenn der Museumsdirektor Dr Joachim Kruse Textfragen hatte, musste ich den Roman wieder einmal lesen. Ich bin mittlerweile ziemlich firm in dem Roman, der 206.052 Wörter enthält. Über das lange Gedicht Clarel kann ich nicht unbedingt sagen, dass ich darin firm bin. Als ich anfing, diesen Blog zu schreiben, spielte ich mit dem Geanken, nur über Melville zu schreiben. Schon die Adresse meines Blogs wies darauf hin, denn Loomings ist das erste Kapitel von Moby-Dick. Und auch einer der ersten Posts, der Tiefen hieß, hatte mit Melville zu tun:

Der kleine Pip ist der einzige, für den das erkaltete Herz von Kapitän Ahab noch letzte menschliche Gefühle zeigt. Die Mannschaft der Pequod hält Pip für wahnsinnig. Es wäre besser, wenn sie Ahab für wahnsinnig halten würden. Der kleine Pip ist wahnsinnig, seit er über Bord gefallen ist und man ihn allein im Pazifik treiben ließ. Der kleine Pip hat in der Tiefe des Ozeans die Füße Gottes gesehen, wie sie den Webstuhl der Welt treten. Und er hat davon erzählt, deshalb hält man ihn für verrückt: 'So man's sanity is heaven's sense; and wandering from all mortal reason, man comes at last to that celestial thought, which, to reason, is absurd and frantic; and weal or woe, feels then uncompromised, indifferent as his God.' Melville hat seltsame Dinge aus der Bibel herausgelesen. Das hat seine wenigen zeitgenössischen Leser wahrscheinlich mehr verstört als seine komplizierte Syntax.

Es war ein kurzer Post, aber doch voller Gehalt. So hätte es weitergehen können. Doch dann merkte ich, dass auch lange Posts mir und den Lesern Vergnügen bereiteten. Zwei Wochen nach dem Post Tiefen schrieb ich Uwe Nettelbecks Melville, da war Melville wieder. Er kam immer wieder, zuletzt 2019 in dem Post Kein Melville am 1. August. Einen Post Herman Melville, Donald Trump und ich und einen Post Emoji Dick gab es auch schon. Je mehr ich von ihm lese, und je mehr ich über ihn lese, desto weniger weiß ich von ihm. Flauberts Eltern hielten das ungewollte Kind für doof. Der Idiot der Familie hat Sartre seine fünfbändige Flaubert Biographie genannt. Melvilles Eltern hielten den kleinen Herman auch für doof, backward in speech and somewhat slow in comprehension, schrieb sein Vater über ihn, als Herman gerade zur Schule gekommen war. 

Er bekommt nicht viel mit an schulischer Bildung, erst die New York High School, dann die Albany Academy. Die muss er nach einem Jahr verlassen, sein Vater ist pleite und kann die Schulgebühren nicht mehr aufbringen. Aber der kleine Melville wird Bildung und Wörter ansammeln, um zwanzig Jahre später Moby-Dick zu schreiben, in dem der Satz steht: A whale ship was my Yale College and my Harvard. Wenn man die Wörter in Melvilles Schriften auszählt, kommt man auf ein Vokabular von 96.000 Wörtern, das ist mehr als die Ilias (81.000 Wörter) und der ganze Shakespeare (20.000 Wörter).

In der Zeitung The Press vom 29. September 1891 konnte man lesen: Of late years Mr. Melville - probably because he had ceased his literary activity - has fallen into a literary decline, as a result of which his books are little known. Probably, if the truth were known, even his own generation has long thought him dead, so quiet have been the later years of his life. Die New York Times hatte zu Melvilles Tod noch weniger zu sagen: Herman Melville died yesterday at his residence, 104 East Twenty-sixth Street, this city, of heart failure, aged seventy-two. He was the author of Typee, Omoo, Mobie Dick, and other sea-faring tales, written in earlier years. He leaves a wife and two daughters, Mrs. M. B. Thomas and Miss Melville. Aber dann schämte man sich in der Redaktion doch ein wenig und würdigte am 2. Oktober den absolutely forgotten man mit einem längeren Nachruf.

I don't know but a book in a man's brain is better off than a book bound in calf--at any rate it is safer from criticism, schreibt Melville am 13.12.1850 an seinen Freund Evert Duyckinck, da hat er das ganze Jahr an Moby-Dick geschrieben. Er wird noch ein halbes Jahr schreiben müssen. Und seine Schwester Augusta muss das alles noch abschreiben. 206.052 Wörter. Mit dem Gedanken a book in a man's brain is better off than a book bound in calf--at any rate it is safer from criticism wird Melville recht behalten, die Kritiker werden das Buch nicht lieben. Wenn es nur eine spannende Abenteuergeschichte wäre, schön und gut. Aber Melville will mehr, viel mehr. Und schreibt Absätze wie diesen:

Is it that by its indefiniteness it shadows forth the heartless voids and immensities of the universe, and thus stabs us from behind with the thought of annihilation, when beholding the white depths of the milky way? Or is it, that as in essence whiteness is not so much a color as the visible absence of color; and at the same time the concrete of all colors; is it for these reasons that there is such a dumb blankness, full of meaning, in a wide landscape of snows- a colorless, all-color of atheism from which we shrink? And when we consider that other theory of the natural philosophers, that all other earthly hues- every stately or lovely emblazoning- the sweet tinges of sunset skies and woods; yea, and the gilded velvets of butterflies, and the butterfly cheeks of young girls; all these are but subtile deceits, not actually inherent in substances, but only laid on from without; so that all deified Nature absolutely paints like the harlot, whose allurements cover nothing but the charnel-house within; and when we proceed further, and consider that the mystical cosmetic which produces every one of her hues, the great principle of light, for ever remains white or colorless in itself, and if operating without medium upon matter, would touch all objects, even tulips and roses, with its own blank tinge- pondering all this, the palsied universe lies before us a leper; and like wilful travellers in Lapland, who refuse to wear colored and coloring glasses upon their eyes, so the wretched infidel gazes himself blind at the monumental white shroud that wraps all the prospect around him. And of all these things the Albino whale was the symbol. Wonder ye then at the fiery hunt?

Das steht in dem Kapitel The Whiteness of the Whale, vielleicht ist es eine Schlüsselstelle des Romans, aber beinahe jedes andere Kapitel könnten auch eine Schlüsselstelle in diesem abenteuerlichen Gemisch von Handlung, Digressionen und Exkursen sein. Man muss als Leser innehalten und nachdenken. Melville wollte nach einem halben Jahr mit dem Roman fertig sein, den er im Kopf hatte. Aber ist der Roman wirklich fertig, wenn er nach anderthalb Jahren den letzten Federstrich tut? God keep me from ever completing anything. This whole book is but a draught—nay, but the draught of a draught. Oh Time, Strength, Cash, and Patience! schreibt er am Ende des 32. Kapitels. I have written a wicked book, and feel spotless as the lamb, schreibt er im November an Nathaniel Hawthorne in der Art eines literarischen Liebesbriefs, er glaubt, dass Hawthorne ihn verstanden habe. Er unterzeichnet den Brief mit Herman, das tut er sonst nur bei Familienbriefen. Und er widmet ihm den Roman: In token of my admiration for his genius, this book is inscribed to Nathaniel Hawthorne.

Der Roman ist eine Herausforderung für den Leser. Melville wusste das. Er schrieb im August 1850 an die Dichterin Sarah Morewood: Don’t you buy it – don’t you read it, when it does come out, because it is by no means the sort of book for you. It is not a piece of fine feminine Spitalfields silk – but is of the horrible texture of a fabric that should be woven of ships’ cables and hausers. A Polar wind blows through it, & birds of prey hover over it. Warn all gentle fastidious people from so much as peeping into the book – on risk of a lumbago and sciatics.

Am besten kümmern Sie sich jetzt nicht um Ischias und Hexenschuss, fangen Sie an zu lesen. Oder hören Sie sich den ganzen Roman von berühmten Schauspielern gelesen hier an.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen