Sonntag, 3. Januar 2021

der Oberrock


Ich bin immer noch dabei, Anna Karenina zu lesen. Es geht langsam voran. Das liegt daran, dass ich den Roman jetzt in der vierten Übersetzung lese. In dem Post Anna Karenina: Übersetzungen hatte ich geschrieben, dass ich mir bei booklooker für 4,95€ die Übersetzung von Hermann Asemissen (Rütten und Loening, 2 Leinenbände) gekauft hatte. Weil mich das Dünndruckpapier der Hanser Ausgabe störte. Die Ausgabe von Rütten und Loening, die identisch ist mit der Ausgabe des Aufbau Verlags, kann ich ohne Brille lesen, und die Seiten zerknittern beim Umblättern nicht. Und gegen Asemissens Übersetzung kann man wirklich nichts sagen. Die Anmerkungen von Rosemarie Tietze in der Hanser Ausgabe benutzte ich weiterhin, weil es sehr gute Anmerkungen sind.

Ich hätte jetzt ruhig und friedlich weiterlesen können, wenn ich mir nicht bei ebay für einen Euro die beiden Bände des Insel Verlages in der Übersetzung von Gisela Drohla gekauft hätte. Unglaublich, über zwölfhundert Seiten Tolstoi für einen Euro. Ich setzte meine Lektüre jetzt mit der Drohla Übersetzung fort, die sich sehr flüssig liest, las aber bestimmte Stellen noch einmal bei Hermann Röhl (bei Zeno im Internet) und bei Asemissen und Tietze. Deshalb komme ich nur langsam voran. Aber ich habe schon mehr als die Hälfte des Roman bewältigt, so ist es nicht. Wie es ausgeht, weiß ich sowieso.

Je genauer man liest, desto mehr stolpert man über Kleinigkeiten. Denen nachzugehen, hält natürlich den Fluß des Lesens auf. Ich nehme als ein Beispiel mal das Wort Oberrock. Es findet sich in der Röhlschen Übersetzung, die schon über hundert Jahre alt ist, an folgender Stelle:

Gestern hatte sich Stepan Arkadjewitsch ihm dienstlich in Uniform vorgestellt, und der neue Vorgesetzte war sehr liebenswürdig gewesen und hatte sich mit ihm wie mit einem guten Bekannten unterhalten; daher hielt es Stepan Arkadjewitsch für seine Pflicht, ihm nun einen Besuch im Oberrock zu machen. Der Gedanke, daß der neue Vorgesetzte ihn vielleicht unfreundlich empfangen werde, war der zweite unangenehme Umstand. Aber Stepan Arkadjewitsch hatte das unwillkürliche Gefühl, das werde sich alles schon ganz vortrefflich »einrenken«. ›Wir sind ja alle Menschen und sind allzumal Sünder; wozu soll man sich da übereinander ärgern und sich miteinander zanken?‹ dachte er, als er in das Hotel hineinging.

Der Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonski ist der Bruder von Anna Karenina, er ist wie sein Schwager ein höherer Beamter. Wir kennen ihn vom Romananfang, wo es über ihn heißt: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich. Der ganze Haushalt der Familie Oblonski war in Unordnung geraten. Die Hausfrau hatte erfahren, daß ihr Mann mit einer französischen Gouvernante, die sie früher im Hause gehabt hatten, ein Verhältnis unterhielt, und hatte ihm erklärt, sie könne nicht länger mit ihm unter einem Dache wohnen. Drei Tage schon währte nun dieser Zustand, und er wurde sowohl von den Ehegatten selbst wie auch von den übrigen Familienmitgliedern und dem Hausgesinde als eine Qual empfunden.

Wenn der Fürst, den seine Freunde Stiwa nennen, sich seinem neuen Vorgesetzten vorstellen muss, trägt er die für Beamte vorgeschriebene Uniform, aber für das nächste Treffen glaubt er, sich ziviler geben zu können und zieht einen Oberrock an. Aber was ist das? Bei Adelung heißt es: Der Oberrock, des -es, plur. die -röcke, der obere Rock, in der weitern Bedeutung dieses letztern Wortes, so daß der Oberrock der Weste entgegen gesetzet ist, da er denn auch nur der Rock schlechthin genannt wird. Der Überrock ist von demselben gewisser Maßen noch verschieden, obgleich beyde oft verwechselt werden, auch verwechselt werden können, weil ober das Beywort, über aber das Vorwort ist; beyde aber eine und eben dieselbe Bedeutung gewähren. Bringt uns das weiter? Wissen wir jetzt, was der Unterschied zwischen Oberrock und Überrock ist?

Der Überrock wird sich noch im militärischen Bereich halten, wo er auch Interimsrock heißt. So etwas, das Bismarck hier trägt, eine Art zweireihiger Kurzmantel, der bis zum Hals geschlossen ist. Aber das kann an dieser Romanstelle nicht gemeint sein. Noch verwirrender wird es, wenn wir bei Jacob Falke 1858 in seinem Buch Die deutschen Trachten- und Modenwelt: Die alte Zeit und das Mittelalter lesen, dass der Oberrock auch Schapperun genannt wird. Das ist nun ein ganz altes Wort, das wir häufig in der mittelhochdeutschen Dichtung finden. Zum Beispiel im Wigalois des Wirnt von Gravenberch, wo es heißt:

In disen sorgen reit er
Nu kom gegen im geloufen her
uf dem wege ein garzun
der trug einen schapperun
gesniten von fritschale
mit roten zendale
was er gefurririert
sin hut der was gezieret
mit blumen und mit loube
sus lief er in dem stoube
des roten Seites von der gran
truc er einen rok an
gebriset mit grossem flizze
hantschuhe vil wizze
het er an den henden
den stap begunde er wenden 
nach der garzune site
da furdert er sin loufen mite
sin hosen waren gut genuc
zwene brisschuhe er an truc  

Dem Ritter Wigalois begegnet hier ein Bote (in dem Wort garzun steckt noch das französische garçon), der einen Schapperun aus vornehmem Stoff trägt, er ist so vornehm gekleidet, weil er ein Bote des König Artus ist. Mittelhochdeutsche Dichter verwenden viel Liebe und Sorgfalt auf die Beschreibung der Kleidung. Und Kommentatoren schreiben an dieser Stelle in den Text: 'tzschabrun', in der Regel schaperun, schapperun, schaprun, vom franz. chaperon, leichter Mantel. Wenn Sie diese Stelle im Neuhochdeutschen lesen wollen, dann klicken Sie dies an.

Oberrock und Überrock führen uns in eine Sackgasse, die neueren Übersetzungen von Anna Karenina verwenden alle das Wort Gehrock. Und das wird es sein, was unser Fürst Oblonski trägt. Dieser Gehrock ist der Vorgänger eines Kleidungsstücks, das den englischen Namen Morning Coat hat (im Deutschen hat es den Namen Cutaway, den Adenauer den Kött nannte). Das ist das Kleidungsstück, das Marcel Proust trägt, wenn er die Straßen von Paris betritt. Wenn Sie mehr dazu wissen wollen, dann klicken Sie doch einmal den Post Morning Coat an, das haben schon mehr als 25.000 Leser getan.

Der Fürst Oblonski besucht seinen Schwager (höchstwahrscheinlich im Gehrock), um ihn zum Abendessen einzuladen, aber Alexei Alexandrowitsch Karenin will partout nicht. Er ist gerade dabei die Papiere für die Scheidung für den Scheidungsanwalt vorzubereiten: 'Es ist mir unmöglich zu kommen', erwiderte Alexei Alexandrowitsch, der selbst stand und auch den Besucher nicht zum Sitzen aufforderte. Alexei Alexandrowitsch gedachte sofort das kühle Verhältnis in Kraft treten zu lassen, in dem er mit dem Bruder seiner Frau, gegen die er die Scheidungsklage einleitete, künftig werde stehen müssen; aber er hatte nicht mit jenem Meere von Gutmütigkeit gerechnet, das in Stepan Arkadjewitschs Seele über alle Ufer trat

Zwei höhere Beamte, zwei grundverschiedene Menschen, der eine lebenslustig mit einem Meer von Gutmütigkeit in der Seele, der andere ein gefühlskalter Spießer. Stiwa überredet Karenin doch noch, die Einladung anzunehmen und verabschiedet sich: Als er im Gehen den Überzieher anzog, stieß er dabei unversehens mit der Hand den Diener gegen den Kopf, lachte laut auf und ging hinaus. 'Um fünf Uhr, bitte, und im Oberrock!' rief er noch einmal, indem er zur Tür zurückkehrte. Die neueren Übersetzer lassen ihn keinen Überzieher sondern einen Mantel anziehen, das entspricht dem heutigen Sprachgebrauch. Wenn Oblonski betont, dass Karenin einen Oberrock tragen solle, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass der jetzt gerade seine Beamtenuniform trägt. Die stellt man sich in Hollywood so vor, das hier ist Basil Rathbone in der Verfilmung von 1935, wo er den Karenin an der Seite von Greta Garbo spielt. 

In den Verfilmungen des Romans trägt Karenin seltsame Sachen, man weiß nicht sehr viel über die russischen Beamtenuniformen des 19. Jahrhunderts. Sagt Leonid Efimovic Shepelev in seinem Aufsatz Ziviluniformen im zaristischen Russland. Aber wenn jemand etwas darüber weiß, dann ist er es, hat er doch schon 1977 ein Buch über Ränge und Titel im russischen Reich geschrieben, das 1991 überarbeitet als Titel, Uniformen und Orden im Russischen Reich (Tituly, mundiry, ordena v Rossiĭskoĭ imperii) erschien.

Wenn Karenin dann zum Diner kommt, dann trägt er keinen Gehrock, wie ihm sein Schwager geraten hat, das ist nun sehr witzig. Karenin kommt im Frack: Karenin selbst war, wie es in Petersburg bei einem Essen mit Damen Sitte ist, in Frack und weißer Binde, und Stepan Arkadjewitsch ersah an seinem Gesichte, daß er nur, um sein gegebenes Wort zu halten, gekommen sei und durch seine Anwesenheit in dieser Gesellschaft eine lästige Pflicht erfülle. Er war auch in erster Linie schuld an der eisigen Temperatur, die alle Gäste vor Stepan Arkadjewitschs Eintreffen in Erstarrung versetzt hatte.  

Mit dieser Szene hätten die Regisseure und Kostümdesigner von Verfilmungen keine Schwierigkeiten. Sie müssen nur darauf achten, dass der Frack in den 1870er Jahren noch keine Brusttasche hat. Wir sehen hier Anna und Wronski in dem russischen Film von 2017. Der Frack von Wronski mag hingehen, aber ein solches Kleid gibt es um 1879 in St Petersburg wohl nicht. Das ist in dem Film mit Keira Knightley als Anna ähnlich, Jacqueline Durran hat zwar einen Oscar für die Kostüme bekommen, aber mit russischer Mode hat das alles nichts zu tun. 

Die meisten Anna Karenina Verfilmungen sind sartoriale Ausstattungsorgien, der Roman hat wenig davon. Wahrscheinlich ist mehr Mode in Wirnt von Gravenberchs Wigalois als in Tolstois Anna Karenina. Auch wenn Tolstoi Annas Kleider ziemlich genau beschreibt, offeriert er uns keine modische Opulenz, er offeriert uns eher Leerstellen. Wir als Leser müssen die ausfüllen, das ist unser Teil an der Erschaffung des Romans. Denn seit Marcel Proust wissen wir: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.


In dem Post Lew Tolstoi finden Sie ein Vielzahl von Anna Karenina Verfilmungen, die Sie mit einem Klick auf Ihren Bildschirm zaubern können. Eine habe ich vergessen, und das ist die ARD Degeto Produktion aus dem Jahre 2013, aus der das Bild im obigen Absatz mit Karenin in Phantasie-Beamtenuniform stammt. Ich weiß aber nicht, ob man den Film wirklich sehen muss.

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